Freitag, 3. Juli 2015

# 5- Eine Familiengeschichte in Wien

Wie das Leben so spielt - drei Generationen im Fokus

 

Heute geht es um ein Buch des österreichischen
Schriftstellers Arno Geiger, das bereits 2005 zum ersten Mal in Deutschland veröffentlicht wurde. Es heißt Es geht uns gut, und ich habe es gelesen, weil ich es vor einiger Zeit bei einem Preisausschreiben unserer Tageszeitung gewonnen habe. So banale Gründe kann es haben, zu einem Buch zu greifen.

Die Handlung spielt zwischen 1938 und 2001 im Wiener 13. Bezirk. Philipp Erlach, ein Mann Mitte 30, sitzt im April 2001 auf den Eingangsstufen der Villa seiner Großeltern, die er geerbt hat. Seine Großmutter ist gestorben, und ihr jetzt verwaistes Haus ist voller Erinnerungen. Das Betrachten von Familienfotos an den Wänden und mehrere alte Briefe bringen bei Philipp einen Prozess in Gang: Während das Haus von Helfern entrümpelt und dessen Dach von Handwerkern repariert wird, versucht Philipp, mit sich, seinem Leben und der Geschichte seiner Familie ins Reine zu kommen.

Es geht uns gut - so viel Ironie musste sein


Das Buch pendelt kapitelweise zwischen den Familienmitgliedern und Jahren. Die Generation der Großeltern besteht aus Richard und Alma Sterk. Richard stammt aus einer konservativen Familie und wurde 1901 geboren. Er war Verwaltungsjurist und hat es in seinem Berufsleben bis zum Minister gebracht. Seine Stellung in der Familie wird gestärkt, als es im August 1938 zum „Anschluss“ Österreichs an das Deutsche Reich kommt. Ein Wachmann, der Mitglied in der NSDAP ist, setzt ihn, das Mitglied einer demokratischen Partei, in einer Angelegenheit, die das Wäschegeschäft seiner Frau und seiner Schwiegereltern betrifft, unter Druck. Ohne seine Frau in seine Entscheidung einzubeziehen, zieht er seine Geschäftsanteile zurück, was zur Aufgabe des Ladens führt. Nun hat Alma mehr Zeit, um sich um ihn und die beiden Kinder Otto und Ingrid zu kümmern. Als „Entschädigung“ besorgt Richard seiner Frau ein Bienenhaus, das vorher den ins Exil gegangenen Nachbarn Löwy gehört hat. Die Familienidylle ist wiederhergestellt und Richards Rolle als Familienoberhaupt ist gefestigt.
Im Mai 1955 wird Richard Minister und ist maßgeblich an der Ausarbeitung des Staatsvertrages beteiligt, der Österreich in die Souveränität entlässt. Doch das erfolgreiche Berufsleben endet abrupt im September 1962: Seine Partei weigert sich, ihn als Kandidaten für die Nationalratswahl aufzustellen. Damit ist das Ende seiner Karriere besiegelt.

Ein Familienleben voller tragischer Momente


Das Leben von Richard und Alma ist von privaten Tragödien durchzogen. Ihr Sohn Otto ist ein eifriger Hitlerjunge und verliert im April 1945 im Alter von 14 Jahren bei der Schlacht um Wien gegen die Rote Armee sein Leben. Die Tochter Ingrid, die Ärztin geworden ist und den von Richard ungeliebten Peter geheiratet hat, ertrinkt 1974 mit 38 Jahren bei einem Badeunfall vor den Augen ihrer Kinder Sissi und Philipp.
Bereits vier Jahre zuvor hatte Richard eine Affäre mit seiner Sekretärin begonnen, von der seine Schwester und sein Schwager wussten. Davon erfährt Alma allerdings erst 1989, als sie zufällig Briefe findet, aus denen das Verhältnis hervorgeht. Doch zu diesem Zeitpunkt ist der Betrug nur noch der Schlusspunkt aus einer Reihe von Enttäuschungen, die Alma im Laufe ihrer Ehe empfunden hat. Ihr Mann ist mittlerweile so dement, dass er den Rest seines Lebens im Pflegeheim verbringt. Von der rein sexuellen Beziehung, die ihr Mann mit dem ehemaligen Hausmädchen Frieda hatte, wird sie nie etwas erfahren.

Die zweite Generation

 

Die Schlacht um Wien spielt auch in der mittleren Generation des Buches eine Rolle: Der spätere Ehemann Ingrids, Peter Erlach, nimmt als 15-jähriger an den Kämpfen teil. Während er das Geschehen zunächst noch spannend und abenteuerlich findet, erlebt er schon bald das Grauen: Vor seinen Augen wird sein 14-jähriger Fähnleinführer von einer Handgranate tödlich verletzt, ihm selbst wird ein Arm durchschossen. Er kämpft sich zusammen mit einem Soldaten der Russischen Befreiungsarmee, die auf deutscher Seite gekämpft hat, bis zur Donau durch und setzt seine Flucht auf einem Schiff fort.
Ingrid hat sich im Laufe der Jahre immer weiter von ihrem Vater entfernt. Die Beziehung mit Peter ist dabei nur einer der Gründe. Richard schafft es nie, ihr wieder näher zu kommen. Daran kann auch die Geburt seiner Enkelkinder nichts ändern.
Ingrids Ehe mit Peter ist bei Weitem nicht so erfüllt, wie sie sich sie als junge Frau ausgemalt hatte. Als sie mit ihrer Arbeit als Krankenhausärztin mitten im Berufsleben steht und auch ihre Kinder Aufmerksamkeit und Zuwendung brauchen, merkt sie, dass sich ihr Mann kaum weiterentwickelt hat: Er ist ihr keine Hilfe und hat den Kopf noch genauso "in den Wolken" wie als junger Mann.

Die Enkel

 

Philipp wird nie wirklich ernst genommen, auch seine ältere Schwester hat seit ihrer Kinderzeit nur Spott für ihn übrig. Er ist ein ewiger Träumer, der sich nie für etwas entscheiden und keinen klaren Weg einschlagen kann. Obwohl das alte Haus seiner Großmutter stark sanierungsbedürftig ist, verbringt er die Tage dort sitzend auf der Vortreppe und hängt seinen Gedanken nach. Seine Freundin Johanna, mit der er nur auf der sexuellen Ebene auf einer Wellenlänge liegt, kümmert sich daraufhin darum, dass ihm zwei ukrainische Schwarzarbeiter zur Hand gehen. Er ist so einsam, dass es ihm nicht gelingt, ein paar Gäste für eine Grillparty zusammenzutrommeln und lädt sich am Ende praktisch noch selbst zur Hochzeit des einen Helfers in der Ukraine ein.
Seiner älteren Schwester Sissi ist die Familie schon früh zu eng. Sie hat am gesamten Geschehen einen relativ geringen Anteil und taucht nach ihrem Verschwinden bei einem Verkehrsstau nur noch indirekt auf. Sie geht in die USA und lebt dort als Soziologin und Journalistin zusammen mit ihrer Tochter in New York. Einige Jahre erhält Alma von ihr eine obligatorische Weihnachtskarte, am Ende der Erzählung bleibt auch diese aus.

Wie sieht sie aus, die heile Familie?

 

Dem Leser wird deutlich vor Augen geführt, wie sich die Träume der einzelnen Familienmitglieder in jeder Generation wenigstens zum Teil in Rauch auflösen. Richard hat sich immer eine intakte Familie und Erfolg im Beruf gewünscht. Eine ganze Weile ist ihm das auch ganz gut gelungen, aber gerade seiner Familie gegenüber hat er sich als wenig empathisch erwiesen und besonders seine Frau und seine Tochter enttäuscht.
Alma hatte ein Medizin-Studium begonnen und es wegen ihres Mannes aufgegeben. Am Ende ihres Lebens blickt sie zurück auf einen Ehemann, der ihr Vertrauen missbraucht hat, und zwei tote Kinder. Sie lebt allein in ihrem Haus, dessen Pflege ihr längst über den Kopf gewachsen ist.
In den nachfolgenden Generationen sieht es kaum besser aus: Ingrid konnte zwar ihren Traum verwirklichen, Ärztin zu werden, wurde aber sowohl von ihrem Vater als auch ihrem Mann enttäuscht. Peter wiederum reiht in  seinem Leben einen Traum und Misserfolg nach dem anderen aneinander und erweist sich als unzuverlässiger Ehemann.
Sissi hat den geringsten Anteil an der Familiengeschichte. Ob sie ihr Glück in New York gefunden hat, erfährt der Leser nicht.
Dagegen wirkt Philipp wie jemand, der ständig neben sich steht. Seinen Entschluss zu Beginn der Handlung, alles, was an die Familie erinnert, in den Müll zu werfen, hält er bis zum Schluss aufrecht.

Sollte man das Buch gelesen haben?

 

Ich bin mir nicht sicher. Arno Geiger hat für dieses Buch 2005 den Deutschen Buchpreis bekommen, was ja grundsätzlich dafür spricht, wenigstens einen Blick hineinzuwerfen. Auch die Idee, einen Bogen über drei Generationen hinweg zu spannen und die historischen Ereignisse einzuarbeiten, hat mir gefallen. Ohne das Lesen des Klappentextes hätte sich mir aber erst ziemlich spät der familiäre Zusammenhang zwischen den einzelnen Personen erschlossen. Besonders Peter konnte ich lange nicht zuordnen.

Die über weite Strecken ausgedrückte Hoffnungslosigkeit in der Familie, die unausgesprochene Kritik an Richard und die Einsamkeit mehrerer Familienmitglieder würden Menschen, die überlegen, eine Familie zu gründen, möglicherweise noch einmal zum Nachdenken bringen. Das Buch wird allerdings nie langweilig und liest sich sehr flüssig. Die knapp 400 Seiten sind deshalb hinsichtlich der Lesemenge keine größere Herausforderung.