Freitag, 14. August 2015

# 11 - Justitia ist blind. Meistens...

Bekommt immer der Recht, der im Recht ist?


Der Roman, den ich euch diesmal vorstelle, wurde von einem Schriftsteller geschrieben, der sein Berufsleben als Fachanwalt für Arbeits- und Gesellschaftsrecht begonnen hat. Das klingt zunächst mal nicht besonders aufregend, aber doch wenigstens einigermaßen solide. Beim Lesen seines 2007 bei Rowohlt erschienenen Buchs Vom Geist der Gesetze kommt man jedoch ins Grübeln, inwieweit sich die geschilderte Handlung an tatsächliche Fälle anlehnt, die Oswald als Anwalt selbst erlebt hat.

Von der wahren Macht im Staat

 

Der Roman verknüpft auf schicksalhafte Art und Weise die Lebenswege von Menschen miteinander, die sich normalerweise nie begegnet wären. Da ist der fachlich herausragende Staranwalt Ludwig Heckler, dessen übergroßes Ego aus jedem Knopfloch seiner Maßanzüge strahlt. Er ist mit der bedeutend jüngeren Anwältin Philomena verheiratet, die ihm in ihrer Egomanie und Kaltblütigkeit in nichts nachsteht. Ein Freund Hecklers, der Direktor der Landesbankzentrale, Werner Kehl, bittet ihn, seinen Neffen Sebastian Spring in seine renommierte Kanzlei aufzunehmen. Spring hat sein 2. Staatsexamen mit mittelmäßigen Noten bestanden und ist sich bewusst, nur durch die Protektion seines Onkels einen Vertrag bei Heckler zu erhalten.

Eine wichtige Rolle soll auch Ladislav Richter spielen. Er ist ein mittelloser  Drehbuchautor, der von einer Schreibblockade in die nächste stolpert und vom großen Durchbruch träumt. Sein einziger psychischer Anker ist seine Freundin Kristina, mit der er eine On-Off-Beziehung führt.

Kurt Schellenbaum ist da schon ein ganz anderes Kaliber. Er hat in eine wohlhabende und einflussreiche Familie eingeheiratet und ist sich dessen bewusst, dass aus dieser Richtung Erwartungen hinsichtlich seines beruflichen Erfolgs an ihn gestellt werden. Die bemüht er sich auch nach Kräften zu erfüllen: Er ist der Generalsekretär seiner Partei und hat den direkten Draht zum Ministerpräsidenten. Es ist sonnenklar, dass noch etliche Stufen auf der politischen Karriereleiter auf ihn warten. In seiner Funktion steht ihm auch ein persönlicher Fahrer zu: Raab, der seinen Job gewissenhaft und loyal erledigt und ihn in einer BMW 7er Limousine chauffiert. 


Einmal nicht aufgepasst,...

 

Schellenbaum sieht sich selbst in der Rolle des ewig Unterschätzten. Da kommt ihm sein Fernsehauftritt in einer Talkshow, wo er kurzfristig für den Ministerpräsidenten einspringen muss, sehr gelegen: Er erklärt sich - ganz entgegen seiner üblichen Gepflogenheit und der Parteilinie - mit den benachteiligten Mitmenschen des Landes solidarisch und spricht sich dafür aus, jedem Gescheiterten eine zweite Chance zu geben. Was zunächst innerhalb der Partei nicht besonders gut ankommt, löst in der Öffentlichkeit die erwartete Zustimmung aus. Schellenbaum sieht sich auf einer Welle der Sympathie schwimmen und malt sich seine Zukunft in rosigen Farben aus. 
Als ihn Raab wie jeden Morgen von zu Hause abholt, um ihn zur Parteizentrale zu fahren, beschließt Schellenbaum in seiner Hochstimmung spontan, sich selbst hinter das Steuer zu setzen und seinem Chauffeur die Rückbank zuzuweisen. Als die beiden fast schon am Ziel sind, stolpert ihnen ein ziemlich heruntergekommener Mann vor die Limousine. Schellenberg kann nicht mehr bremsen und fährt den Mann an, der zunächst auf dem Asphalt liegenbleibt. Es handelt sich um Ladislav Richter, der gerade auf dem Weg zu seiner Freundin war. 
Schellenbaum realisiert in Sekundenbruchteilen, welche Folgen dieser Unfall für seine Karriere haben kann. Er fordert Raab auf, sich um den Verletzten zu kümmern und setzt sich selbst auf die Rückbank. Um Richter zum Schweigen zu bringen, lässt er seinen Fahrer eine Verzichtserklärung formulieren, die dieser Richter unterschreiben lässt. Ein "Schmerzensgeld" von 1.500,-- € trägt dazu bei, dass sich bei dem Verletzten kein Protest regt. So hat Schellenberg seinen Fahrer in die Rolle des Täters gedrängt, was dieser jedoch erst später realisiert.
Doch es gibt einen Zeugen: Noch als sich Raab über den Drehbuchautor beugt, presst ein Junge sein Gesicht neugierig gegen die verdunkelten Scheiben des BMW. Er soll im späteren Verlauf eine wichtige Rolle spielen.


Alles muss seine gewohnte Ordnung haben

 

Es ist keine Überraschung, dass sich der Unfall mit ein paar Geldscheinen nicht so einfach aus der Welt schaffen lässt. Auf Drängen von Kristina lässt Richter die Sache nicht auf sich beruhen, sondern beauftragt Kristinas Ex-Freund, den Anwalt Thomas Gärtner, mit dem Fall. Gärtner ist Mitglied einer Anwaltssozietät und ein Paradebeispiel für Demotivation. Er verbringt seine Tage lieber in seiner Lieblings-Enoteca als in der Kanzlei und arbeitet gerade so viel, dass es zum Leben reicht. Daher kümmert er sich auch nur mit gebremstem Eifer um die Angelegenheit und tut zunächst nicht mehr als unbedingt nötig. Doch Kristina stellt bei so viel Schnarchnasigkeit eigene Ermittlungen an und erfährt von dem Jungen, der den Unfall beobachtet hat: Wofgang Dohm. 
"Wolli" Dohm lebt als Einzelkind in einer sozial benachteiligten Familie. Er verbringt seine Tage mit Videospielen und ist so kommunikationsfreudig wie seine lebensunfähigen Eltern: gar nicht. Das wird später noch eine Rolle spielen.

Inzwischen hat der Prozess wegen Fahrerflucht gegen Raab begonnen. Schellenbaum hat den Anwalt Heckler mit der Wahrnehmung von Raabs Interessen beauftragt und tischt ihm und Spring das Märchen von seinem beflissenen Fahrer auf, der leider eine Sekunde nicht aufgepasst hat. Raab ist ein guter Mitarbeiter, ansonsten aber geistig eher einfach gestrickt. Er lässt sich von seinem Chef Schellenbaum und den beiden Anwälten einreden, dass es besser sei, wenn er als der Unfallfahrer auftreten würde. Er wird völlig überrunpelt und gesteht während der Gerichtsverhandlung zunächst sein Fehlverhalten. Doch in dem Moment, in dem der Vorsitzende das Urteil verkünden will, bricht sein Gerechtigkeitsgefühl durch: Er bestreitet, für den Unfall und die Fahrerflucht verantwortlich gewesen zu sein und bezichtigt Schellenbaum, selbst den Wagen gesteuert und ihn zu der Falschaussage angestiftet zu haben. Doch der Richter glaubt ihm nicht und verurteilt ihn zu einer Zahlung von 100 Tagessätzen. Damit gilt Raab als vorbestraft. Doch der wehrt sich und geht gegen das Urteil in  Berufung.

Strippenziehen als Breitensport

 

Eine Intrige jagt die nächste. In einem Nebenschauplatz versucht Philomena Heckler ihren Mann wegen eines dubiosen Rüstungsgeschäfts in die Pfanne zu hauen, weil er durch sein Fremdgehen ihren Stolz verletzt hat. Dazu spannt sie einen Oberstaatsanwalt ein, der in sie heimlich verliebt ist, seitdem sie ihm vor etlichen Jahren als Referendarin zugeteilt war. Die Verwicklungen nehmen in diesem Buch kein Ende und lassen praktisch keinen aus. Das Finale ist unerwartet und lässt sich so nicht vorhersehen, sodass es bis zur letzten Seite spannend bleibt.

Die von mir gelesene Ausgabe hat knapp 350 Seiten und ist so locker geschrieben, dass keine Langeweile aufkommt. An einer Stelle wird Bezug auf eine Begebenheit genommen, die sich bereits 2006 ereignet hat: Im Roman ist von einem Punk die Rede, der sich vom Ministerpräsidenten anhören muss, wenn er sich waschen und rasieren würde, wäre er längst nicht mehr arbeitslos. Ganz ähnlich hat sich damals die Belehrung des früheren Ministerpräsidenten von Rheinland-Pfalz, Kurt Beck, angehört, der einem Hartz IV-Empfänger wegen dessen Beschimpfungen genau diesen Rat gab. Auch die erwähnten illegalen Waffengeschäfte hat es so ähnlich gegeben. Aufgrund dieser Parallelen liegt die Vermutung nahe, dass Justitia hin und wieder die Kontaktlinsen verlorengehen. Keine schöne Vorstellung.

Empfehlung?

 

Keine Frage: ein eindeutiges Ja! Das Buch wendet sich nicht nur an (angehende) Juristen, sondern ist für eine breite Leserschaft gedacht, die Spaß am Verfolgen von Intrigen hat und sich beim Lesen gern die Haare rauft. Wer vor der Lektüre noch glaubte, Netzwerken würde überschätzt, wird hier eindeutig eines Besseren belehrt. 
 
Der Buchtitel weist ganz bewusst auf das gleichnamige Werk von Charles de Montesquieu hin ("De l’esprit des loix"). Er beschäftigt sich darin mit den Staatsformen der Antike: der Demokratie, der Monarchie und der Despotie.