Freitag, 11. September 2015

# 15 - Reisen durch die UdSSR - unter den widrigsten Bedingungen

Mit dem Transitvisum eigene Routen bereisen - Individualreisen von DDR-Bürgern in die UdSSR

 

Es ist ja jetzt schon wieder so lange her, dass sich jüngere Deutsche daran nicht erinnern können - egal, ob sie aus West- oder Ostdeutschland stammen: Bis zur Wende 1989 durften die Bürger der DDR die Sowjetunion nur in Pauschal-Reisegruppen besuchen. Individualreisen dorthin waren grundsätzlich nicht vorgesehen. Doch es gab eine lose Gruppierung von Menschen, denen das nicht genug war: UdF. Nach ihnen ist das Buch benannt, das ich euch heute vorstelle: Unerkannt durch Freundesland wurde 2011 von Cornelia Klauß und Frank Böttcher im Lukas Verlag herausgegeben.



Risiko und Strapazen für Freiheit und Abenteuer

 

 

In 24 Reiseberichten unterschiedlicher Autoren wird von der illegal erlangten Reisefreiheit erzählt, die durch einen formalen Trick möglich wurde: Die sowjetische Regierung hatte 1968 nach dem Einmarsch ihrer eigenen sowie Soldaten befreundeter Staaten in die ČSSR (Tschechoslowakei) und der Beendigung des "Prager Frühlings" das Transitvisum für diejenigen DDR-Bürger eingeführt, die nach Bulgarien oder Rumänien reisen wollten. Es galt in der UdSSR für eine Transitdauer von 48 Stunden. Diesen Zeitraum hielt die sowjetische Regierung für ausreichend, um diese Passage zu schaffen. Doch einzelne Bürger der DDR nutzten die Gelegenheit, um ihre eigenen Reisepläne zu verwirklichen: Waren sie erst einmal in der Sowjetunion, ignorierten sie diese Vorgabe und wanderten, fuhren oder flogen kreuz und quer durch das riesige Reich mit seinen elf Zeitzonen und enorm unterschiedlichen Kulturen, Lebensweisen und klimatischen Verhältnissen.



Von der mongolischen Gastfreundschaft kann man nur träumen




Der heutige Pfarrer Gernot Friedrich brach 1968 zu seiner ersten größeren Reise auf. Erst im zweiten Anlauf schaffte er es bis nach Brest (Weißrussland). Völlig überraschend bekam er versehentlich einen Einreisestempel, der ihn berechtigte, in die Sowjetunion einzureisen. Da er damit nicht gerechnet hatte, beschloss er spontan, den nächsten Zug nach Moskau zu nehmen. „Der Zug ist schon ausverkauft. Fahren Sie doch nach Leningrad, das kostet auch 17 Rubel“, empfahl ihm der Bahnbeamte. Ähnlich zufällig wie diese verliefen fast alle anderen im Buch geschilderten Reisen. Viele wurden die sich in einem Augenblick ergebenden Umstände von einem Ort zum anderen getrieben.

1970 lernte Friedrich bei einer Reise in die Mongolei auf seiner Wanderung einen Einheimischen kennen, der gerade seine Wäsche im Fluss wusch. Dieser lud ihn zu sich in seine Jurte ein und verpflegte ihn. Wie für alle Mongolen gehörte es auch für diesen selbstverständlich zur Gastfreundschaft, einem Reisenden seine eigene Frau für die Nacht anzubieten. Doch Friedrich geriet nicht in die Verlegenheit, dies ablehnen und den Mann vor den Kopf stoßen zu müssen: Die Frau seines Gastgebers befand sich zu seiner Erleichterung gerade zur Entbindung im Krankenhaus. Schon ein Jahr später besuchte er erneut seinen mongolischen Freund und hatte wieder Glück: Dessen Frau war auch diesmal im Krankenhaus, weil sie ein Kind bekommen hatte.

War es zunächst noch Abenteuerlust, die Friedrich immer wieder in die Sowjetunion trieb, kam nach einigen Reisen ein weiteres Motiv hinzu: Er bemerkte, dass es dort zwar etliche christliche Gemeinden gab, Bibeln aber eher Mangelware waren. Also schmuggelte er Bibeln in die entlegendsten Gegenden und hatte manchmal auch Helfer. Mit seinem Tun geriet er in den Fokus der Stasi und musste für ein Jahr seinen Personalausweis zurückgeben, womit man ihn damals an seiner empfindlichsten Stelle traf. Erst lange danach hat er aus den über ihn angelegten Stasi-Akten erfahren, in welchem Ausmaß seine Überwachung stattgefunden hat: In acht Bänden wurde auf mehr als 3.000 Seiten sein Leben dokumentiert.


Ein tiefer Einblick in das Leben der Menschen 

 

 

Allen UdF-Reisenden war gemeinsam, dass sie ein großes Interesse an der Lebensweise und Kultur der Menschen, die sie unterwegs kennenlernten, hatten. Die Motive, sich mit nur wenig Geld, einem oft unklaren Ziel und mit jeder Menge Optimismus, dass alles gutgehen möge, auf den Weg zu machen, waren jedoch sehr unterschiedlich. Neben der Abenteuerlust und dem Schmuggeln von Bibeln war es auch der Wunsch, die Natur in "eigentlich" für Ausländer nicht zugänglichen Gegenden kennenzulernen oder sich beim Bergsteigen nicht nur auf die Sächsische Schweiz beschränken zu müssen, sondern die Gipfel des Kaukasus und Pamir zu erklimmen. Auch die Begeisterung für oppositionelle Literatur ließ manche diesen Weg wählen.

So gut wie niemand von ihnen hatte vor, der DDR den Rücken zu kehren. Eine Ausnahme machte Jürgen van Raemdonck, der mit dem System haderte und zusammen mit einem Freund auf die Idee kam, den Transit durch die Sowjetunion als Fluchtweg zu nutzen, also ostwärts in den Westen zu flüchten. Der Plan: Da der amerikanische Militärstützpunkt Point Hope in Alaska nur 400 Kilometer von der Eismeerküste Nordostsibiriens entfernt liegt, sollte das Übersetzen über das Packeis kein Problem sein. Es musste nur der Zeitpunkt abgewartet werden, zu dem der Atomeisbrecher "Sibir" seine Fahrten einstellte und sich die Eisdecke schloss. Da war die Aktuelle Kamera [Anm.: Nachrichtensendung der DDR] eine wertvolle Hilfe: Hier erfuhren die Freunde, dass ihr Vorhaben ab Mitte Oktober klappen könnte. Beim ersten Anlauf 1986 starteten die beiden mit stolzen 220 Kilogramm Gepäck: Nichts sollte sie aufhalten, sie wollten völlig autark sein. Raemdonck und sein Freund kamen immerhin bis Ostsibirien, wo sie sich am Fluss Kolyma ein Kajütboot "liehen", das keinen Motor hatte. Doch sie hatten die Tücken des Flusses unterschätzt: Das Boot versank in einer Stromschnelle und riss so gut wie ihr gesamtes Hab und Gut mit sich in die Tiefe. Sie konnten sich auf ein Inselchen retten und wurden dort nach ein paar Stunden von Pelztierjägern aufgelesen. Über Umwege reisten sie nach Hause und machten unterwegs noch Bekanntschaft mit dem KGB.
Nach dieser Niederlage begannen sie sofort, einen neuen Plan auszuarbeiten, der sie nach Point Hope führen sollte. Doch ihre Reise endete ein Jahr später an derselben Stelle, und sie wurden erneut dem KGB vorgeführt - denselben Beamten, die sie bereits im Jahr zuvor verhört hatten. Kurz zuvor war Michael Rust auf dem Roten Platz gelandet, und der KGB-Mann fragte die beiden Männer sichtlich genervt, warum die Deutschen sie nicht in Ruhe lassen könnten. Darauf die Antwort von Raemdonck: "Wir haben uns doch im Vorjahr mit einem freundlichen 'Auf Wiedersehen' verabschiedet. Und unter Freunden hält man Wort."
Was nicht im Buch steht: Raemdonck wurde 1989 ausgebürgert, hat also auf einem anderen Weg seinen Willen bekommen. Seit 1991 lebt er in Vorpommern.

Viele Eindrücke und Anekdoten

 

Was lernt der Leser noch? Zum Beispiel, wie man sich auf einer muslimischen Hochzeit, zu der man spontan eingeladen wird, NICHT benimmt, um nicht eine hochnotpeinliche Situation heraufzubeschwören.
Oder dass es nicht unbedingt eine gute Idee ist, als illegal Reisender an einem Sportwettbewerb teilzunehmen und anschließend in der Presse, dem Fernsehen und im Rundfunk erwähnt zu werden.

Viel Raum nimmt die Beziehung zu anderen Menschen ein: Die Angst, die sich einstellt, wenn sich Uniformierte nähern, aber auch die großherzige Hilfsbereitschaft der Einheimischen, die immer sofort bereit sind, Wohnung und Tisch mit ihnen völlig Fremden zu teilen und keine Gegenleistung zu erwarten. Das gilt z. B. auch für die Menschen in Aserbaidshan, über die Robert Conrad schreibt: Sowohl am Rand der Hauptstadt Jerewan (Eriwan) als auch auf dem Land hatte er auf seiner Reise 1985 damals Slums, deren Bewohner in Erdhütten lebten, die ein Dach aus Laub und etwas Dachpappe hatten, gesehen.
Alle UdFler, die Ende der 1980er Jahre in den damaligen Sowjetrepubliken unterwegs waren, berichten vom Geist der Veränderung, der sich durch die Gesellschaft zog und bekanntermaßen letztendlich in den Zerfall der UdSSR mündete.

Das Buch ist nicht nur durch seine sehr unterschiedlichen Reiseberichte, sondern auch wegen seiner unzähligen Fotos, die unterwegs aufgenommen worden sind, ein Zeitdokument, wie es so nur selten zu finden ist. 


Das Buch zum Film

 

Das Buch Unerkannt durch Freundesland  war in dieser Form zunächst nicht geplant. Der Veröffentlichung ging der gleichnamige Film aus dem Jahr 2006 voraus, für den ebenfalls Cornelia Klauß verantwortlich war. Er ist nicht inhaltsgleich mit dem Buch, aber beide stehen für dasselbe Lebensgefühl. Der Film kann in vier Teilen bei youtube angesehen werden, den ersten Abschnitt gibt es hier: Teil 1 Unerkannt durch Freundesland.

Bereits seit 2005 gibt es die Webseite Unerkannt durch Freundesland. Dort finden sich weitere Informationen sowohl zur UdF-Bewegung als auch zum Film.
 

Alle, die sich für die jüngere deutsche Geschichte interessieren oder sich über Einblicke in eine für uns fremde und teilweise vergangene Welt freuen, sollten dieses Buch lesen. Es ist so interessant und abwechslungsreich, dass man es immer wieder zur Hand nimmt, und sei es nur, um sich die Fotos anzusehen.