Montag, 21. Dezember 2015

# 30 - Seilbahnbau und Stillstand

Ein Leben wie in einem Mikrokosmos


Da Weihnachten vor der Tür steht, ziehe ich die Rezension für diese Woche ein paar Tage vor. So ist noch genug Zeit, um das heutige Buch zu besorgen - als Geschenk für andere oder sich selbst.
Als letztes Buch in diesem Jahr stelle ich euch den Roman Ein ganzes Leben von Robert Seethaler vor, der bei Hanser 2014 erschienen ist.

Du bleibst was du bist


In einem Milieu aufzuwachsen und ein Leben lang nicht daraus entrinnen zu können, ist das Schicksal des kleinen Andreas Egger. Er wird 1902 mit vermutlich vier Jahren als uneheliches Waisenkind aus einer namenlosen Stadt zu seinem ihm fremden Onkel in ein ebenfalls namenloses Bergdorf gebracht, der dort einen großen Hof hat. Den Onkel interessiert vor allem der Inhalt des Brustbeutels um Andreas' Hals, das Kind selbst ist ihm ziemlich gleichgültig. Andreas begreift schnell, dass es für ihn besser ist, möglichst wenig Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen und spricht deshalb so wenig wie möglich. Als er alt genug ist, um auf dem Hof mitzuhelfen, wird er als Hilfsknecht ausgenutzt und ständig verprügelt. Bei einer dieser Prügelattacken verletzt der Bauer seinen Neffen so schwer, dass dieser sein Leben lang eine Gehbehinderung zurückbehält. Erst einen Tag nach seinem 18. Geburtstag, als er dem Onkel körperlich überlegen ist, lehnt Egger sich gegen den brutalen Bauern auf und hat dann zumindest Ruhe vor dessen Gewaltausbrüchen.


Marie - das Leben kann doch schön sein

 

Andreas Egger verdient sein Geld als Tagelöhner und macht praktisch alle Arbeiten, die im Dorf anfallen. Mit 29 hat er genug Geld für die Pacht eines kleinen, steinigen Grundstücks knapp unterhalb der Baumgrenze. Erst sechs Jahre später lernt er Marie kennen, die als Bedienung beim Dorfwirt arbeitet. Sie wird die Frau seines Lebens und er möchte nichts lieber, als bis ans Ende seiner Tage mit ihr zusammen sein. Um Marie etwas mehr als ein Leben in ständiger Armut und Ungewissheit bieten zu können, arbeitet er nun bei einer Firma, die Seilbahnen für Touristen baut und kurz zuvor ins Tal gekommen ist. Auch dort macht er trotz seiner Gehbehinderung die schweren Arbeiten. Als er Marie einen Heiratsantrag machen will, überlegt er sich eine ganz besondere Aktion, die an Romantik kaum zu überbieten ist und wofür er die Hilfe seiner Kollegen benötigt. Doch zur Hochzeit kommt es nicht mehr: Marie kommt bei einem nächtlichen Lawinenabgang ums Leben. Die Schneemassen begraben sie in ihrem Bett unter sich. Auch Egger wird von der Lawine mitgerissen, kann sich aber trotz eines gebrochenen Beins wieder aufrappeln und versucht vergeblich, Marie mit bloßen Händen aus dem verschütteten Haus zu retten. Egger braucht mehrere Wochen, um wieder so gesund zu werden, dass er weiter arbeiten kann. Fast ein halbes Jahr später verlässt er das Tal, um mit der Seilbahnfirma weiterzuziehen und in anderen Tälern Lifte zu bauen. 


Die Zeit geht weiter, Egger bleibt, wie er ist

 

Nach Maries Tod geht es Egger nur noch darum, irgendwie zu leben. Als der 2. Weltkrieg ausbricht, meldet er sich freiwillig zum Fronteinsatz, wird aber wegen seines Gehfehlers nicht angenommen. Doch Ende 1942 werden dann auch Leute wie er gebraucht, und er wird zur Wehrmacht eingezogen. Ins Kriegstreiben ist er kaum verwickelt: Nach nur zwei Monaten an der Front gerät er in russische Kriegsgefangenschaft und verbringt die nächsten acht Jahre in einem kaukasischen Gefangenenlager. Als das Lager endlich aufgelöst wird, geht er zurück in sein Dorf. Doch der Plan, sich wieder bei der Seilbahnfirma zu verdingen, scheitert: Das Unternehmen hatte im Krieg seine Produktion auf Waffen umgestellt, die sich allerdings als untauglich erwiesen hatten. Nach dem Selbstmord des Firmengründers ging das Unternehmen zugrunde.
Egger wird aus seinem Dorf mit Ausnahme eines kurzen Ausflugs nicht mehr hinauskommen und seiner Marie noch ein letztes Mal begegnen.  

Ein Buch, das perfekt zu Weihnachten passt

 

Ein ganzes Leben beschreibt das Leben eines Mannes, wie es für das beginnende 20. Jahrhundert typisch war. Noch mehr als heute waren damals Erfolg und Wohlstand oder eben Niederlagen und Armut davon abhängig, in welche soziale Schicht Menschen hineingeboren worden waren. Andreas Eggers lebt ein unspektakuläres Leben, das jedoch von Robert Seethaler sehr anrührend und feinfühlig erzählt wird. Die Sprache des Buchs ist einfach gehalten, was die Umstände, unter denen die Ereignisse passieren, dem Leser noch näher bringt. Im ganzen Roman geht es zwar kein einziges Mal um Weihnachten oder Glauben, aber dennoch passt diese Erzählung perfekt zum Fest, weil auch die tragischsten Momente sehr empathisch, aber völlig unaufgeregt geschildert werden.
Seethalers Roman hat 156 Seiten und kostet als gebundene Ausgabe 17,90 € (Taschenbuch: 9,90 €, Hörbuch oder eBook 13,99 €).



Vielen Dank!

Das Buch Ein ganzes Leben wurde mir als Rezensionsexemplar vom Inhaber der Hemminger Buchhandlung, Herrn Stefan Koß, zur Verfügung gestellt, wofür ich mich ganz herzlich bedanke. Herr Koß bietet ein breites Spektrum unterschiedlichster Bücher an und besorgt nicht im Laden vorhandene Exemplare innerhalb eines Werktages. 
Die Kontaktdaten und Öffnungszeiten gibt es hier: Hemminger Buchhandlung