Samstag, 30. Januar 2016

Nominierung zum Liebster Award

11 Fragen - und 11 Antworten, die zum Teil gar nicht so einfach zu geben waren

 

Vom Liebster Award hatte ich schon mal gehört und gelesen, mich aber nie weiter damit beschäftigt. Dieser Blog ist seit Juni 2015 im Großen und Ganzen eine One-Woman-Show: Ich habe nie an Challenges teilgenommen, und sogar bei der bisher einzigen Leserunde, bei der ich mich abschnittsweise über das gerade gelesene Buch äußern sollte, habe ich versagt. Ich lese ein Buch, das mich wenigstens einigermaßen anspricht und meine Aufmerksamkeit wach hält, in meinem eigenen Rhythmus und kann nicht an vorgegebenen Stellen unterbrechen, um meine Meinung abzugeben. Umso verblüffter war ich, als ich von Claudia Goepel, die den Zaubertraumtagebuch-Blog betreibt, nominiert wurde. An dieser Stelle bedanke ich mich noch einmal herzlich bei Claudia, dass sie an mich gedacht hat.

Wozu gibt es den Liebster Award?

 

Dieser Award soll noch junge Blogs bekannter machen und die Vernetzung unter den Bloggern fördern. Als er ins Leben gerufen wurde, gab es die strikte Vorgabe, immer 11 Blogs zu nominieren. Da dieses Vorgehen etwas Inflationäres hat und etliche Blogger mehrfach nominiert wurden, hat sich irgendwann eine Mindestzahl von zwei Nominierungen ergeben. Das Prinzip dahinter wird weiter unten erklärt. 

Los geht's: Das möchte Claudia wissen

 

1.   Seit wann bloggst du und warum?
Ich habe meinen allerersten Post am 15. Juni 2015 hochgeladen. Mit der Idee hatte ich mich zu diesem Zeitpunkt schon seit einer ganzen Weile getragen, meine Tochter hatte mich immer mal wieder mit "Mach das! Du kennst doch so viele Bücher!" angefeuert. Und dann gab es zwei Tage, an denen ich irgendwie einen Leerlauf hatte: Da habe ich dann die Gelegenheit beim Schopf gepackt und einfach mal losgelegt. 

2.   Wie lautet deine Message an die Welt?

Gerade in diesen Tagen kann sie eigentlich nur lauten: Leute, hört auf, euch gegenseitig die Köpfe einzuschlagen. Das ist selbstverständlich bildlich gemeint, und ich bin mir dessen bewusst, dass die Erde mit dem Auftauchen des Menschen ganz sicher nicht friedlicher geworden ist und irgendwo auf dem Planeten immer Leute sein werden, die an die Macht kommen oder sie behalten wollen und die das Wort "Demokratie" für ein Hirngespinst von Weicheiern halten. Aber man kann es gar nicht oft genug sagen, damit es nicht vergessen wird: Wer glaubt, die Probleme unserer Zeit mit Gewalt lösen zu können, ist auf dem Holzweg. Das begreifen hoffentlich auch die Menschen, die hier in einer benachbarten Kleinstadt zuerst ein fast fertiggestelltes Flüchtlingsheim und drei Tage später drei Fahrzeuge der Stadtverwaltung angezündet haben, wodurch fast das Rathaus ebenfalls abgebrannt wäre. Aber ich schweife ab.

3.   Wie viel Zeit investierst du in einen Blogbeitrag? 

Das ist sehr unterschiedlich. Bei manchen Büchern kann ich meine Rezension mühelos schreiben: Das gilt sowohl für die Exemplare, die ich super finde als auch für die anderen, die meinem persönlichen Geschmack nicht entsprechen - um es mal nett auszudrücken. Ich habe außerdem den Anspruch, dass meine Texte gut lesbar sind, was beispielsweise immer gleiche Redewendungen oder Wortwiederholungen ausschließt. Unter zwei Stunden geht da normalerweise nichts.

4.   Woher nimmst du die Bilder für deinen Blog?

Da ich für den wöchentlichen Beitrag an jedem Freitag nur ein Buchcover brauche, ist die Bildersuche in wenigen Sekunden erledigt. Bei den zusammenfassenden Monatsrückblicken dauert das schon etwas länger: Hier suche ich für jedes Buch nach etwas Besonderem wie z. B. einem Interview mit einem Autor oder einem Filmtrailer.Da werde ich - na klar - bei der allseits bekannten Suchmaschine fündig.

5.   Wo und wie machst du auf dich und deinen Blog aufmerksam?

Ich gehe davon aus, dass sich dieser prima Blog schon bald überall herumgesprochen haben wird und der Server unter der Last der Anfragen zusammenbricht ;-) Nein, natürlich nicht! Im Gegensatz zu Mode, Kosmetik und allem, was sonst noch unter Lifestyle fällt, haben es Bücherblogs ungleich schwerer. Ich poste meine Beiträge in jeder Woche bei Facebook auf meiner eigenen Seite und in den entsprechenden Gruppen, bei Google+ ebenso sowie bei Twitter und Instagram. Letzteres ist besonders hartes Brot, weil es ja bei einem Buch nicht viel zu zeigen gibt oder besser gesagt: ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages nur das Cover abgebildet sein darf. Es gibt jedoch Bücher, die ein richtig schönes "Innenleben" haben. Ich denke da an die Tagebücher von Astrid Lindgren oder Arthur Conan Doyle: In beiden befinden sich Faksimiles ihrer handschriftlichen Aufzeichnungen, Skizzen oder auch Fotos, die ich leider nicht einfach so zeigen darf. Sehr interessant wäre es auch gewesen, einen Blick in Das Mädchen aus der Volkskommune - Chinesische Comics zu werfen, damit ihr euch mit mir amüsieren könnt. Das geht alles nicht. Sehr schade.

6.   Woher holst du die Tipps, wenn du bei technischen Problemen nicht weiter weißt?

Ich versuche zuerst selbst, mein Problem zu lösen. Ein paar wenige Kenntnisse habe ich mir angeeignet, ansonsten hält das Internet ja einige hilfreiche Seiten bereit. Die meisten Technik-Foren meide ich, weil dort Leute schreiben, die mit Fachvokabular glänzen oder deren Antworten mit "Ich glaube, das geht soundso..." beginnen. Wenn ich gar nicht mehr weiter weiß, frage ich meinen Mann, der in diesem Bereich arbeitet.

7.   Kennst du Blogger|innen persönlich? 

Wenn die Frage meint, dass ich ihnen Aug' in Aug' gegenübergestanden habe, dann nein. Es gibt allerdings sehr nette und auch hilfreiche Kontakte, bislang aber eben nur auf der virtuellen Ebene. Aber vielleicht ändert sich das ja noch.

8.   Welchen Traumberuf hattest du als Kind? 

Als Kind habe ich mir keine Gedanken darüber gemacht, wovon ich einmal leben möchte. Als Jugendliche habe ich mit dem Beruf der Goldschmiedin geliebäugelt. Heute bin ich froh, dass ich das nicht gemacht habe: Vermutlich wäre ich bei meinem handwerklichen Talent zum Sozialfall geworden. Danach gefiel mir der Gedanke, Germanistik zu studieren, weil die Nähe zu Büchern praktisch schon immer da war. Aber was macht man typischerweise damit? Die meisten Absolventen werden Lehrer, was mir immer fern lag. Die restlichen brauchen zumindest viel Kreativität, um in Lohn und Brot zu kommen. Diese Mischung aus viel Aufwand und wenig Ertrag hat mir schon vor 30 Jahren nicht gefallen.

9.   Hast du Tiere, wenn ja - welche?

Wir haben Griechische Landschildkröten - drei erwachsene Tiere und acht Jungtiere aus eigener Zucht. Im Moment sind sie noch in der Winterstarre, aber ab Mitte März werden sie wieder in den Garten entlassen.

10. Was war das schönste Feedback für deinen Blog? 

Ich freue mich über jeden Kommentar, der sich inhaltlich auf einen Post bezieht und nicht nur dem Zweck dient, die eigene Blogadresse weiträumig zu streuen, um Google auf sich aufmerksam zu machen. Gelacht habe ich beim Lesen der Rückmeldung einer anderen Buch-Bloggerin, die sich auf meine Rezension eines Romans bezogen hatte, der mit einem renommierten Preis ausgezeichnet worden war: Ich konnte diesem Werk nicht viel abgewinnen, nicht zuletzt auch deshalb, weil die Handlung hin und her sprang wie ein Laubfrosch auf der Flucht. Als die Autorin dann auch noch auf 80 Seiten Inhalte in Form von Torten- und Säulendiagrammen darstellte und so etwas wie Sprechblasen verwendete, um Beziehungen darzustellen, war es mit meinem Verständnis vollends vorbei. Kommentar der Blog-"Kollegin": "Tortendiagramme in einem Roman? Seltsam, seltsam. Ich musste deine Rezension 2x lesen, weil ich das rote Dingens verloren hatte .... ;-) LG" Tja, was soll man da sagen? Ging mir ja auch so.

11. Was wünschst du dir für die Zukunft?  

Man soll ja die Hoffnung nie aufgeben, darum verweise ich auf meine Antwort zu Frage 2. Meine realistischen Wünsche sind: Gesundheit und ein erfülltes Leben für alle, die mir wichtig sind.


Diese Blogs nominiere ich

 

Kein Wunder, wo der Schwerpunkt liegt: auf Büchern. Deshalb nominiere ich diese beiden Blogs: 

Stuffed Shelves - auf diesen Blog bin ich bei Google+ erst vor Kurzem gestoßen. Die beiden Blogger Daniela und Sebastian stellen hier Bücher aus dem Bereich Krimi/Thriller/Horror, aber auch das eine oder andere emotionalere Buch vor. Der zweite Bereich ihres Blogs beschäftigt sich mit Filmen.
 
Den Bücher-Blog von Kerstin Scheuer - ein Blog,der nicht nur Bücher vorstellt, sondern auch Menschen, die mit Büchern zu tun haben: Bücherblogger, Autoren, Vielleser und alle anderen, die sich mit Büchern umgeben, können dort in der Reihe "Lieblingsleseplätze" etwas über sich erzählen. Auch ich wurde schon interviewt.


Das interessiert mich - meine 11 Fragen

 

1. Wie bekommst du/bekommt ihr Anregungen für deinen/euren Blog?
2. Wo werden deine/eure Beiträge "beworben" ?
3. Worüber kannst du dich/könnt ihr euch freuen?
4. Was hat sich für dich/euch durch das Bloggen geändert?
5. Welcher ist dein/euer Lieblingsort oder -platz?
6. Welches ist dein/euer Lieblingsbuch und warum?
7. Wie viel Zeit benötigst du/benötigt ihr für einen Blog-Beitrag?
8. Hast du/habt ihr schon mal andere Blogger oder Bloggerinnen persönlich getroffen?
9. Welche Hobbies hast du/habt ihr?
10. Hast du/habt ihr Haustiere?
11. Welches war dein/euer schönstes Feedback? 


Leitfaden für den Liebster Award


  • Danke der Person, die dich für den Liebster Award nominiert hat und verlinke den Blog in deinem Artikel.
  • Beantworte die 11 Fragen, die dir der Blogger, der dich nominiert hat, stellt.
  • Nominiere 2 (bis 11) weitere Blogger für den Liebster Award.
  • 
Stelle eine neue Liste mit 11 Fragen für deine nominierten Blogger zusammen oder verwende diese Fragen weiter.
  • Schreibe diese Regeln in deinen Liebster-Award-Blog-Artikel.
  • Informiere deine nominierten Blogger über den Blog-Artikel.
  • Such dir das Beitragsbild aus dem Netz oder bastle (wenn du kannst) selbst eins.

Ich freue mich sehr auf Danielas, Sebastians und Kerstins Antworten und bin schon gespannt.

Freitag, 29. Januar 2016

# 34 - Ein Roman in zwei Epochen

 Zwei Schauplätze, zwei Zeiten

 

Ich stelle euch heute mit La Vita Seconda - Das zweite Leben das Erstlingswerk von Charlotte Zeiler vor. Sie arbeitet als Krankenschwester in einer Intensivstation, was sich in ihrem Buch positiv bemerkbar macht.


Köln/Cölln als Schicksalsstadt

 

Im Jahr 1617 findet sich die junge Franziska verletzt auf einer staubigen Straße zwischen Cölln und Jülich wieder. Nur mit Mühe kann sie sich konzentrieren, aber die Umgebung um sie herum ist ihr fremd. Auch alles, was ihr Leben ausmacht, ist aus ihrem Gedächtnis verschwunden: ihr Wohnort, der Name ihrer Eltern ... alles ist weg. Auch an den Mann, der ihr offensichtlich helfen will und sich um sie kümmert, kann sie sich nicht erinnern: Antonio. Zusammen mit seinem Begleiter bringt er Franziska zu seinem Elternhaus in Cölln, wo sie Ruhe finden und sich erholen soll. 

In einem zweiten Handlungsstrang geschieht in der Gegenwart ein schrecklicher Unfall: Eine junge Frau ist in ihrem Auto auf dem Weg zu ihrer Arbeit in einem Krankenhaus. Kurz vor dem Ziel kommt es zu einem Zusammenstoß zwischen ihrem Fahrzeug und einem Lkw, bei dem dessen Fahrer ums Leben kommt und das Auto fast von dem Vierzigtonner zerquetscht wird. Der Notarzt Mark und ein Rettungssanitäter sind als erste am Unfallort und können die schwer verletzte Autofahrerin ins Krankenhaus bringen. Dort wird sie von Oliver, Marks bestem Freund, weiterbehandelt.

Wie können die Leben zweier Frauen trotz der zeitlichen Distanz umeinander kreisen?

 

Charlotte Zeiler hilft ihren Lesern dabei, die beiden unterschiedlichen Handlungsstränge auseinanderzuhalten: Bei jedem Wechsel in die jeweils andere Epoche ändert sich nicht nur die Schriftart, sondern auch die Zeit: Die Kapitel, die in der Gegenwart spielen, sind im Präteritum, die Handlung im 17. Jahrhundert ist im Präsens formuliert. Ohne die klare Strukturierung würde es vermutlich schwerfallen, jeden Handlungsverlauf für sich zu verfolgen.

Doch es bleibt lange rätselhaft, was die Schicksale der beiden Frauen miteinander zu tun haben könnten. Gemeinsam ist ihnen, dass sich in beiden Epochen eine Liebesgeschichte anbahnt: Mark, der von seiner früheren Verlobten betrogen wurde und monatelang keine Freude mehr am Leben hatte, fühlt sich zu der Autofahrerin hingezogen und besucht sie sogar, als sie wegen der Schwere ihrer Verletzungen in die Uni-Klinik Köln verlegt wird. Ihr ist das allerdings nicht bewusst: Sie liegt im Koma auf der Intensivstation. Mark erfährt auch bald ihren Namen, weil man in der Uniklinik irrtümlich annimmt, dass es sich bei der Patientin um seine Freundin handelt: Leya Volta. Er hat den Eindruck, ihr schon einmal begegnet zu sein, kann sich aber zunächst nicht daran erinnern, wo oder in welchem Zusammenhang er Leya bereits kennengelernt haben könnte.

Auch Franziska hat großes Gefallen an ihrem Retter Antonio gefunden, der sich als ein Sohn des Pfalzgrafen Wolfgang Wilhelm entpuppt. Doch schon kurz nach ihrer Ankunft im Haus des Pfalzgrafen kann Franziska nicht mehr sprechen. Auch ihre Erinnerung an ihr Leben vor dem Augenblick ihrer Rettung ist nicht zurückgekehrt. So beginnt die Suche nach ihrer wahren Identität. Doch schon bald ahnt sie, dass sie im Haushalt des Pfalzgrafen eine Feindin hat. Diese Ahnung soll sich tatsächlich bestätigen.


Vorsicht Spoiler!


Es fällt mir bei La Vita Seconda - Das zweite Leben sehr schwer, den weiteren Verlauf des Romans zu beschreiben, ohne zumindest einen Hinweis zu geben, was hinter diesen beiden Geschichten steckt. Charlotte Zeiler hat sich eines ungewöhnlichen Schreibstils bedient, an den man sich zu nächst gewöhnen muss, der jedoch das Verständnis für die Hintergründe erleichtert. Ihre medizinischen Fachkenntnisse, die an vielen Stellen deutlich werden, tragen ebenfalls dazu bei, dass die Handlung immer glaubwürdig bleibt.

Das Buch ist als Taschenbuch zum Preis von 9,95 € und als Kindle-Edition für 2,99 € erhältlich.

 

Freitag, 22. Januar 2016

# 33 - Sowjetische Gerechtigkeit im Stalinismus

Eine Spur des Todes entlang der Transsibirischen Eisenbahn

 

Kind 44 von Tom Rob Smith ist ein Roman, dessen Verfilmung ich gesehen hatte, bevor ich das Buch kannte. Neu war mir jedoch bis zum Lesen des Nachworts, dass sich die Handlung des Romans sehr eng an einem tatsächlichen Fall orientiert. Aber der Reihe nach.

Es kann nicht sein, was nicht sein darf 

 

Januar 1933: In der Ukraine leiden die Menschen unter dem Hungerwinter. Viele sind bereits an Unterernährung gestorben, die noch Lebenden ernähren sich buchstäblich von allem, was irgendwie essbar ist. Da sieht Pavel eine streunende Katze. Auf Anweisung seiner Mutter nimmt er seinen jüngeren 8-jährigen Bruder Andrej mit auf die Katzenjagd. Dabei wird Pavel hinterrücks von einem Mann überwältigt und entführt. Der kurzsichtige Andrej, der seinen Bruder nach einer kurzen Suche nicht finden kann, kann seiner Mutter nur noch von dessen Verschwinden berichten. Pavel taucht nicht mehr zu Hause auf.

14. Februar 1953: Der knapp 5-jährige Arkadi wird tot auf den Bahngleisen in Moskau gefunden. Man hört, ein alter Mann habe die Leiche gesehen, die völlig nackt und übel zugerichtet gewesen sei. Eine Frau will einen Mann beobachtet haben, der in der Nähe des Leichenfundortes gewesen ist - mit einem kleinen Jungen an der Hand. Doch für die Behörden ist schnell klar: Der Tod des kleinen Arkadi ist tragisch, aber ein Unfall, an dem keiner außer dem Kind selbst eine Schuld trägt. Der Junge hatte sich zu dicht an den Bahngleisen aufgehalten, niemand nimmt Ermittlungen auf: Während der Diktatur Stalins gab es offiziell keine Kriminalität. Sie wurde als Auswuchs des Kapitalismus angesehen. Doch Arkadis Vater Fjodor Andrejew, ein Mitarbeiter des MGB, der Vorgängerinstitution des KGB, zweifelt an dieser Darstellung: Seinem Freund und Kollegen Leo Demidow, der den Auftrag erhalten hat, Fjodor und dessen Familie vom Unfalltod des Sohnes zu überzeugen, gelingt es nicht, dessen Zweifel an der Darstellung, die vom MGB vorgegeben ist, zu zerstreuen. Leo ist ein treuer und überzeugter Anhänger des Sowjetsystems und würde fast alles für sein Land tun. Er teilt die Vision Lenins, dass sich die Zahl der Verbrechen in dem Umfang verringern würde, in dem die Armut sich zurückbildet. Die sowjetische Gesellschaft war seiner Meinung nach auf dem besten Weg dorthin. Sofern die Menschen daran glaubten, würden sie sich stetig auf das Ziel hinbewegen, ein besseres Gemeinwesen zu formen. Dieser Glaube durfte nicht durch Gerüchte um ein ermordetes Kind ins Wanken gebracht werden.

Leos persönliche Wende: Ein Spion wird verhört

 

Das MGB verdächtigt den Tierarzt Anatoli Brodsky der Spionage, weil auch die Haustiere ausländischer Diplomaten zu seinen Patienten zählen. Als Brodsky bemerkt, dass er beschattet wird, kann er fliehen, wird jedoch von einer Gruppe von MGB-Beamten, die von Leo kommandiert wird, gefangengenommen. Leo hadert mit sich, weil er als Verantwortlicher eine der Grundregeln seines Berufs verletzt hat: "Besser, zehn Unschuldige leiden, als ein Spion entkommt." Zum ersten Mal erlebt Leo jedoch, dass er einem Verhafteten seine Aussage glaubt: Brodsky wird wie üblich gefoltert und widersteht den Misshandlungen länger als es andere Gefangene tun.

Doch Brodskys Festnahme hat für Leo ein Nachspiel: Als sein Untergebener Wassili Nikitin in einem entlegenen Dorf aus offensichtlichem Spaß am Töten ein Ehepaar erschießt, das verdächtigt wird, dem Entflohenen Unterschlupf gewährt zu haben und damit zwei kleine Mädchen zu Waisen macht, wird er von Leo niedergeschlagen, bevor er auch noch die beiden Kinder umbringen kann. Das macht die Männer zu Todfeinden.

Weil Leos Verhalten Aufmerksamkeit bei seinem Vorgesetzten Generalmajor Kuzmin erregt, fordert dieser von ihm einen Loyalitätsbeweis: Leo soll seine eigene Frau Raisa bespitzeln, die verdächtigt wird, eine Spionin zu sein. Ihm ist klar, dass Kuzmin nur eine Antwort von ihm akzeptiert: Die Bestätigung, dass Raisa tatsächlich ein Schädling des Sowjetvolkes ist. Damit wäre ihr Schicksal besiegelt: Nach einem Verhör, das wie gewohnt mit einem durch Folter erpressten Geständnis enden würde, würde auf die junge Frau eine Haft im Gulag warten, die mehrere Jahrzehnte dauern könnte - wenn sie diese lange Zeit überhaupt überleben könnte. Er entscheidet sich dafür, seine Frau nicht zu denunzieren, was die unmittelbare Degradierung und die Versetzung zur Miliz in Wualsk, einer tristen Industriestadt im Ural, nach sich zieht.

Leo wird in Wualsk General Nesterow unterstellt, der ihm wegen seiner ehemaligen MGB-Zugehörigkeit mit großem Misstrauen begegnet. Nur zwei Tage vor seiner Ankunft wurde in Wualsk ein junges Mädchen ermordet aufgefunden, und Leo fällt sofort die Ähnlichkeit mit den Umständen auf, unter denen der kleine Arkadi in Moskau ums Leben gekommen ist: Auch diese Leiche wurde grausam zugerichtet und befand sich in der Nähe des Bahnhofs. Nesterow lehnt kriminalistische Ermittlungen ab und verhaftet den geistig zurückgebliebenen Warlam Babinitsch, weil bei ihm eine blonde Locke, die von dem getöteten Mädchen stammen könnte, gefunden wurde. Babinitsch wird wegen Mordes zum Tod verurteilt und hingerichtet. Erst als in Wualsk eine weitere Kinderleiche gefunden wird, an der deutliche Parallelen zu den beiden vorangegangenen Morden zu erkennen sind, kann Leo seinen Vorgesetzten dazu überreden, mit ihm zusammen heimlich Ermittlungen aufzunehmen. Ihre Arbeit ist gefährlich und ergibt Anfang Juli 1953, dass quer durch die Sowjetunion außer Arkadi noch mindestens 43 weitere Kinder und Jugendliche auf die gleiche Weise getötet worden waren - Arkadi ist damit Kind 44. Nie hatte jemand eine Verbindung zwischen diesen Morden hergestellt, aber in jedem Fall hatte es einen "Täter" gegeben: bereits verurteilte Vergewaltiger, Diebe oder stadtbekannte Alkoholiker mussten hierfür herhalten.

Spannung bis zur letzten Seite

 

Kind 44 ist kein Krimi im klassischen Sinn. Natürlich ist viel davon die Rede, auf welche Weise und unter welchen widrigen Umständen Leo und Nesterow jeden Mord recherchieren, aber der Roman wirft auch ein Schlaglicht auf die Zeit, in der das Sowjetreich von Josef Stalin diktatorisch und gewaltsam regiert wurde. Die Beschreibung des Hungerwinters zu Beginn des Buchs geht auf tatsächliche Begebenheiten zurück: Im Winter 1932/1933 starben allein in der Ukraine etwa 3,5 Millionen Menschen an Unterernährung - ein Umstand, den die meisten Historiker heute als einen von Stalin absichtlich herbeigeführten Zustand betrachten, um die Ukrainer gefügig zu machen. In dieser Zeit soll es auch Fälle von Kannibalismus gegeben haben.

Auch die Schilderung der Mordserie geht auf einen historischen Kriminalfall zurück, der in der UdSSR für viel Aufregung sorgte und fast die Evakuierung einer ganzen Stadt nach sich gezogen hätte: Zwischen 1978 und 1990 tötete der Lehrer  Andrei Romanowitsch Tschikatilo mehr als 50 Kinder und Jugendliche auf grausame Weise. Wie im Roman stellte die Miliz lange Zeit keine Verbindung zwischen den Morden her: Tschikatilos Opfer waren Frauen und Mädchen fast aller Altersgruppen, die Taten hatten kein erkennbares Muster. Erst als er zufällig von einem Beamten dabei beobachtet wurde, wie er verdreckt aus einem Waldstück kam, in dem kurz darauf Kleidungsstücke und eine weitere Leiche entdeckt wurden, geriet er in den Fokus der Ermittler und konnte schließlich überführt werden. 1994 wurde er hingerichtet.

Kind 44 ist ein Buch, das man bis zum Schluss nicht mehr aus der Hand legt. Es schildert sehr deutlich das politische Klima in der Sowjetunion unter dem Regime von Stalin: Jeder achtete genau auf seine Worte und musste damit rechnen, auch von Angehörigen denunziert und der staatlichen Willkür ausgeliefert zu werden. Die Strafen für allerkleinste Vergehen, deren sich die Beschuldigten oft gar nicht bewusst waren, waren drakonisch. Tom Rob Smith versteht es, seinen Lesern das Leben der Menschen in dieser Zeit zu verdeutlichen, ohne sie mit Milieustudien zu langweilen. Für seinen Roman gibt es von mir eine ganz klare Empfehlung. 
Für alle, die sich jetzt fragen, wo der Zusammenhang zwischen dem Hungerwinter und den Tötungen sein könnte, sei gesagt: Es gibt sie, und seine Umstände sind die Erklärung für das Motiv des Mörders.


Ich bedanke mich beim Bloggerportal, das mir dieses Buch zur Verfügung gestellt hat. Kind 44 kann beim Goldmann Verlag bestellt und in jeder Buchhandlung zum Preis von 9,99 € gekauft werden (Taschenbuch). Die Kindle-Edition und die epub-Ausgabe kosten je 8,99 €.

 

Freitag, 15. Januar 2016

# 32 - Schreibende Juristin lässt Anwältin sterben

Ein Psychodrama in München?

 

Der 14jährige Oliver Baptiste wird an einem klirrend kalten Januartag verletzt und verstört in einem Kellerabteil eines Mehrfamilienhauses in München gefunden. Er kann sich angeblich an  nichts erinnern, aber seine Hände sind blutverschmiert - mit dem Blut der Rechtsanwältin Rose Benninghoff, die ermordet in ihrer Wohnung in der zweiten Etage desselben Hauses liegt. Damit beginnt das Krimidebüt Kellerkind von Nicole Neubauer. Die Autorin hat zwar ebenso wie Georg M. Oswald ein abgeschlossenes Jurastudium hinter sich, aber damit hören die Gemeinsamkeiten zwischen dem heutigen Buch und Oswalds Roman Vom Geist der Gesetze auch schon beinahe auf.

Zunächst scheint alles klar zu sein...

 

Anhand der Spurenlage ergibt sich, dass die Tote ihren Mörder gekannt und ihn arglos in ihre Wohnung gelassen haben muss. Die Indizien sprechen also zunächst dafür, dass Oliver für die Tat verantwortlich ist. Nachforschungen ergeben, dass sein Vater, der erfolgreiche und gut in Münchener Kreisen vernetzte Wirtschaftsprüfer Laurent Baptiste, bis vor wenigen Monaten mit Rose Benninghoff liiert gewesen ist. Man hat sich im Unfrieden getrennt, was den Kreis der Verdächtigen erweitert.

Im Zuge der Ermittlungen ergeben sich auch Hinweise, die bis in die Kindheit der Ermordeten zurückführen. Bereits im Alter von zwölf Jahren hat sich Benninghoff von ihrer ganzen Familie distanziert und niemanden an sich herangelassen. Bei der Durchsuchung ihrer Wohnung findet das Team um Hauptkommissar Waechter in der unpersönlich eingerichteten Wohnung sehr versteckt das alte Foto eines Mannes, das mit "O. Paulssen" gekennzeichnet wurde. Um wen handelt es sich? Sehr auffällig ist auch das Bild einer Rose, das in Benninghoffs Wohnzimmer hängt und überhaupt nicht in diese nüchterne Umgebung passt. Beim Herabnehmen fällt ein Zettel mit der Widmung "Für immer O." aus dem Rahmen heraus. Hat Paulssen, der sich als mittlerweile dementer Kunstmaler im Rentenalter entpuppt, etwas mit dem Fall zu tun?

Aber auch die auf der selben Etage wie Benninghoff wohnende Judith Herold erregt die Aufmerksamkeit der Ermittler: Sie bezeichnet sich selbst als die beste Freundin der Ermordeten, hat aber von einigen Details aus dem Leben der Toten, die die Polizei nach und nach herausfindet, keine Ahnung.

Psychologie, Familiengeschichten und  jede Menge Lügen

 

Der Mordfall entwickelt sich zu einer nervlichen Belastung für das gesamte Ermittlungsteam. Die privaten Probleme, die manche von ihnen mit sich herumschleppen, wirken bis in die Arbeit hinein und haben Einfluss auf die Tätersuche. Der junge Oliver Baptiste leidet zudem unter psychischen Problemen, die ihn unberechenbar machen. Dass sein empathiebefreiter Vater ihn offenbar immer wieder brutal schlägt und sich bei jedem Gespräch mit der Polizei mit Anwälten umgibt, lähmt die zahlreichen Versuche, Oliver zu Aussagen über den Tattag zu bewegen. Doch das Polizeiteam fühlt sich vollends verschaukelt, als plötzlich Vater und Sohn jeweils die Tat gestehen und sich kaum noch herausfinden lässt, wer hier wen decken will. Der Fall nimmt jedoch nach mehreren Wendungen einen Ausgang, mit dem nicht unbedingt zu rechnen war.

Nicole Neubauer hat ihren Krimi Kellerkind flüssig geschrieben und ermöglicht es ihren Lesern, die einzelnen Ermittler auch von ihrer privaten Seite kennenzulernen. Eine besondere Eigenart von Hauptkommissar Waechter ist es dann auch, die den Fokus des Teams in eine andere Richtung lenkt und zur Aufklärung des Mordes führt. 
Wie bei dem oben zitierten Buch von Georg M. Oswald kann man sich auch bei diesem Krimi fragen, inwieweit die persönlichen juristischen Erfahrungen der Autorin in die Handlung eingeflossen sind. Wie oft kommt es beispielsweise vor, dass ein Staatsanwalt die Polizei bei ihren Ermittlungen abbremst, wenn es dabei um eine stadtbekannte und einflussreiche Persönlichkeit geht?

Mir hat dieses Buch gut gefallen, aber es gehört nicht zu meinen persönlichen Favoriten unter den Krimis. Olivers psychische Probleme werden immer wieder thematisiert, indem von einem Reptil in seinem Kopf die Rede ist, das sich in Stresssituationen zu Wort meldet. Der Junge befindet sich aber nicht in entsprechender Behandlung, sondern wird von seinem beruflich vielbeschäftigten Vater weitgehend sich selbst überlassen, obwohl dieser immer wieder behauptet, Olivers Verhalten schon von dessen verstorbener Mutter zu kennen.
Im Gegensatz zu den meisten anderen Krimis verwendet Nicole Neubauer eine sehr bildliche Sprache, die den Leser näher an das Geschehen heranrücken lässt und verzichtet auf die Schilderung von brutalen Szenen.

Ich bedanke mich beim Bloggerportal, das mir dieses Buch zur Verfügung gestellt hat. Kellerkind kann beim Blanvalet Verlag bestellt und in jeder Buchhandlung zum Preis von 9,99 € gekauft werden (Klappenbroschur). Die Kindle-Edition kostet 8,99 €, das mp3-Hörbuch auf CD 12,99 €.
 

Samstag, 9. Januar 2016

Eine Premiere: Eine meiner Rezensionen in einem Katalog






Überraschungspost


Zum Wochenende kam Post: Der Indie-Katalog von "buchreport", einer Fachzeitschrift des deutschen Buchhandels. Ich habe da nichts bestellt, aber ein gelber Post- It-Zettel war auch drin: Meine Rezension für "Es regnet Geld für ein Weltkonto" von Joachim Ackva wurde in den Katalog aufgenommen. Auch online ist sie zu sehen:

Rezension bei buchreport


Und hier habe ich sie auf diesem Blog besprochen:
Rezension HIER





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Freitag, 8. Januar 2016

# 31 - Afrikanische Armut trifft europäischen Lifestyle

Ein Verwirrspiel vor dem Hintergrund der Flüchtlingskrise

 

Dieses Buch ist eine Premiere für meinen Blog: Zum ersten Mal stelle ich hier mit Boat People von Roland Künzel ein E-Book vor. Der Roman ist in seiner ersten Auflage bereits im Januar 2015 erschienen und beschäftigt sich in erster Linie mit der Flüchtlingsproblematik, die seit Monaten das meistdiskutierte Thema in Europa ist. Die mir vorliegende zweite Auflage wurde im November 2015 herausgegeben.

Gran Canaria als Ziel der Träume

 

Auf der Kanareninsel Gran Canaria treffen sich gut situierte Touristen aus ganz Europa zu einem 5-Sterne-Luxusurlaub, der keine Wünsche offen lässt. Eine Gruppe von 23 Urlaubern, die aus 22 Erwachsenen und einem 8jährigen deutschen Mädchen besteht, hat einen Piratenabend gebucht mit allem, was dazu gehört: Eine Fahrt auf einer komfortablen Segelyacht in Piratenkostümen ist ebenso Teil des Arrangements wie ein zünftiger, feucht-fröhlicher Abend am Lagerfeuer in einer der einsamen Buchten. Das Leistungspaket beinhaltet selbstverständlich den Rücktransfer ins Hotel per Yacht und Bus, doch zum vereinbarten Zeitpunkt ist kein Schiffsführer in Sicht, der die überwiegend sturzbetrunkene Gruppe aufnehmen könnte. Das Servicepersonal entschließt sich zu vorgerückter Stunde trotzdem, Feierabend zu machen und verlässt die Hobby-Piraten, da praktisch minütlich mit dem Eintreffen der Yacht zu rechnen ist.

Zum selben Zeitpunkt steuert ein Fischerboot die Insel an, das 22 Erwachsene und einen Jungen von der nordafrikanischen Küste an den nächstliegenden Ort der EU bringt - Gran Canaria. Die 23 Afrikaner fliehen vor der wirtschaftlichen Aussichtslosigkeit in ihrer Heimat und erhoffen sich in Europa ein besseres Leben. Für die Überfahrt haben die Schleuser viel Geld verlangt, wofür oft die ganze Familie gemeinsam aufgekommen ist.
Die beiden Schleuser setzen ihre Flüchtlingsgruppe in einer der Buchten Gran Canarias ab. Von dort aus sollen die Afrikaner mit einem anderen Boot weitertransportiert werden. Doch schon kurz nachdem das Fischerboot die Heimfahrt in Richtung Afrika angetreten hat, werden die Schleuser von ihrem afrikanischen Mittelsmann darüber informiert, dass sich die afrikanischen Staaten im Rahmen des kürzlich in London geschlossenen europäisch-afrikanischen Abkommens dazu verpflichtet haben, die von dort ausgehenden Flüchtlingsströme zu stoppen und bereits in Europa angekommene afrikanische Flüchtlinge zurückzunehmen.
Im Gegenzug sagen die europäischen Staaten zu, Afrika dabei zu unterstützen, die dortigen Lebensverhältnisse deutlich zu verbessern. Das ist den beiden Schleusern in diesem Moment jedoch nicht so wichtig: Sie haben den Auftrag, die ausgesetzten 23 Flüchtlinge schleunigst wieder einzusammeln und auf direktem Wege zurück nach Afrika zu bringen, um diplomatisches Unheil zu vermeiden. Sollte ihnen das nicht gelingen, droht den beiden bei ihrer Rückkehr massiver Ärger mit dem britischen Hafenkommandanten John Hopkins in der Hauptstadt Nouakar, der von dem Verschwinden der Menschen noch nichts bemerkt hat.

Wenn es mal nicht nach Plan geht...

 

Die Schleuser machen sofort kehrt und fahren zurück nach Gran Canaria. Sie können sich allerdings nicht mehr genau erinnern, an welcher der Buchten sie die Flüchtlinge abgesetzt haben. Als sie ein Lagerfeuer sehen, halten sie direkt darauf zu. Doch sie treffen nicht auf die Afrikaner, sondern auf die Touristengruppe, die immer noch auf ihre Passage wartet. Da die Zeit drängt, beordern sie kurzerhand die Reisenden auf das Boot, die das zunächst noch für einen amüsanten Teil des Piraten-Ausflugspakets halten. Doch als der Bootsführer von ihnen verlangt, sich die Haut mit altem Motoröl einzureiben, um vor dem Hafenkommandanten in Afrika möglichst als Schwarze durchzugehen, keimt bei denjenigen, die noch halbwegs nüchtern sind, das erste Misstrauen auf. Für alle beginnt nun eine Odyssee, die sie ihr Leben lang nicht vergessen werden.

Auch die Flüchtlinge erleben eine interessante Zeit. Sie werden von einer eleganten Yacht abgeholt und an Bord mit köstlichen Getränken bewirtet. Ihre sehr einfache Kleidung erregt kein Misstrauen: Sie wird vom Bordpersonal sogar als besonders originelle Kostümierung gelobt. Nur die dunkle Haut der Menschen macht kurz skeptisch, aber warum soll es nicht auch wohlhabende Afrikaner geben, die sich eine so teure Reise erlauben können?
Die Vorzugsbehandlung setzt sich im Hotel fort, alle Flüchtlinge beziehen komfortable Suiten und werden erstklassig verpflegt. Als sich herausstellt, dass "ihr" Gepäck abhanden gekommen ist, dürfen sich die 23 Fremden auf Kosten der Hotelleitung neu einkleiden - selbstverständlich nur mit teurer Designerkleidung. Doch der Irrtum, den die Afrikaner fälschlicherweise als europäische Großzügigkeit interpretieren, fliegt auf, und die Gruppe wird sang- und klanglos in ein Flugzeug gesetzt, das sie zurück in ihre Heimat bringt.

Im Verlauf der weiteren Handlung begegnen sich die beiden so unterschiedlichen  Gruppen in Afrika, und es kommt zu weiteren Verwicklungen. Die Geschichte nimmt einen unerwarteten Verlauf und endet mit einem Ereignis, das sich auch ein phantasiebegabter Leser über weite Teile des Buches nicht vorstellen kann: Die Queen löst die Frage der Thronfolge auf ziemlich unorthodoxe Weise, was weltweit Begeisterung hervorruft.

Ein - eigentlich - ernstes Thema wird zu einer Folge von unerwarteten Begebenheiten

 

Ich habe selten ein Buch gelesen, das aus so vielen unwahrscheinlichen Elementen bestand, die dazu dienten, den Fortschritt der Handlung und so etwas wie Spannung am Leben zu erhalten. Im Hintergrund wabert immer eine Parallelgeschichte, die aus der Sorge um den Untergang des britischen Königshauses besteht: Einer bereits König Karl II. überlieferten Legende nach gehen die britische Monarchie und das gesamte Königreich unter, sobald die Tower-Raben den White Tower verlassen. Da in Boat People nicht nur die Raben kränkeln, sondern auch der White Tower einzustürzen droht, ist die betagte Queen auf der Suche nach einer Nachfolgeregelung, mit der diese Entwicklung aufgehalten werden kann. Sie findet sie, aber das Zustandekommen ihrer Entscheidung und die "Personalauswahl" selbst sind meiner Ansicht nach an den Haaren herbeigezogen. Auch andere Handlungsstränge sind dermaßen konstruiert, dass ich mich gefragt habe, ob das Buch als Satire gemeint war und deshalb mit bewussten Übertreibungen gearbeitet wurde. 
Schon der Beginn der Haupthandlung mit den identischen Gruppengrößen baute auf einer großen Portion Zufall auf; auch, dass der Hafenkommandant sich die zurückgekehrten "Flüchtlinge" nicht so genau anschaut und sie als Afrikaner ansieht, ist doch ziemlich weit hergeholt: Nach der Schilderung von Roland Künzel entsprachen die echten Flüchtlinge dem Bild, das sich Europäer im Allgemeinen von Afrikanern machen. Hopkins jedoch fällt nicht auf, dass die Gesichtszüge und Augenfarben nichts Afrikanisches an sich haben.
Es gibt noch mehr Ungereimtheiten, die mich fast dazu gebracht hätten, das Lesen dieses Romans abzubrechen. Doch dann hat die Neugier gesiegt: Was würde sich der Autor als Nächstes einfallen lassen, um seine Leser bei der Stange zu halten?
Ich muss es wohl nicht besonders betonen, aber BoatPeople hat meine Erwartungen nicht erfüllt. Die Grundidee ist gut, aber die Ausgestaltung hat mich nicht überzeugt. 

Ich bedanke mich für die Bereitstellung des Buches bei Blogg dein Buch. Das Buch ist beim Verlag epubli GmbH erschienen und kostet als Softcover-Ausgabe 9,95 € sowie als E-Book 2,99 €.