Freitag, 22. Januar 2016

# 33 - Sowjetische Gerechtigkeit im Stalinismus

Eine Spur des Todes entlang der Transsibirischen Eisenbahn

 

Kind 44 von Tom Rob Smith ist ein Roman, dessen Verfilmung ich gesehen hatte, bevor ich das Buch kannte. Neu war mir jedoch bis zum Lesen des Nachworts, dass sich die Handlung des Romans sehr eng an einem tatsächlichen Fall orientiert. Aber der Reihe nach.

Es kann nicht sein, was nicht sein darf 

 

Januar 1933: In der Ukraine leiden die Menschen unter dem Hungerwinter. Viele sind bereits an Unterernährung gestorben, die noch Lebenden ernähren sich buchstäblich von allem, was irgendwie essbar ist. Da sieht Pavel eine streunende Katze. Auf Anweisung seiner Mutter nimmt er seinen jüngeren 8-jährigen Bruder Andrej mit auf die Katzenjagd. Dabei wird Pavel hinterrücks von einem Mann überwältigt und entführt. Der kurzsichtige Andrej, der seinen Bruder nach einer kurzen Suche nicht finden kann, kann seiner Mutter nur noch von dessen Verschwinden berichten. Pavel taucht nicht mehr zu Hause auf.

14. Februar 1953: Der knapp 5-jährige Arkadi wird tot auf den Bahngleisen in Moskau gefunden. Man hört, ein alter Mann habe die Leiche gesehen, die völlig nackt und übel zugerichtet gewesen sei. Eine Frau will einen Mann beobachtet haben, der in der Nähe des Leichenfundortes gewesen ist - mit einem kleinen Jungen an der Hand. Doch für die Behörden ist schnell klar: Der Tod des kleinen Arkadi ist tragisch, aber ein Unfall, an dem keiner außer dem Kind selbst eine Schuld trägt. Der Junge hatte sich zu dicht an den Bahngleisen aufgehalten, niemand nimmt Ermittlungen auf: Während der Diktatur Stalins gab es offiziell keine Kriminalität. Sie wurde als Auswuchs des Kapitalismus angesehen. Doch Arkadis Vater Fjodor Andrejew, ein Mitarbeiter des MGB, der Vorgängerinstitution des KGB, zweifelt an dieser Darstellung: Seinem Freund und Kollegen Leo Demidow, der den Auftrag erhalten hat, Fjodor und dessen Familie vom Unfalltod des Sohnes zu überzeugen, gelingt es nicht, dessen Zweifel an der Darstellung, die vom MGB vorgegeben ist, zu zerstreuen. Leo ist ein treuer und überzeugter Anhänger des Sowjetsystems und würde fast alles für sein Land tun. Er teilt die Vision Lenins, dass sich die Zahl der Verbrechen in dem Umfang verringern würde, in dem die Armut sich zurückbildet. Die sowjetische Gesellschaft war seiner Meinung nach auf dem besten Weg dorthin. Sofern die Menschen daran glaubten, würden sie sich stetig auf das Ziel hinbewegen, ein besseres Gemeinwesen zu formen. Dieser Glaube durfte nicht durch Gerüchte um ein ermordetes Kind ins Wanken gebracht werden.

Leos persönliche Wende: Ein Spion wird verhört

 

Das MGB verdächtigt den Tierarzt Anatoli Brodsky der Spionage, weil auch die Haustiere ausländischer Diplomaten zu seinen Patienten zählen. Als Brodsky bemerkt, dass er beschattet wird, kann er fliehen, wird jedoch von einer Gruppe von MGB-Beamten, die von Leo kommandiert wird, gefangengenommen. Leo hadert mit sich, weil er als Verantwortlicher eine der Grundregeln seines Berufs verletzt hat: "Besser, zehn Unschuldige leiden, als ein Spion entkommt." Zum ersten Mal erlebt Leo jedoch, dass er einem Verhafteten seine Aussage glaubt: Brodsky wird wie üblich gefoltert und widersteht den Misshandlungen länger als es andere Gefangene tun.

Doch Brodskys Festnahme hat für Leo ein Nachspiel: Als sein Untergebener Wassili Nikitin in einem entlegenen Dorf aus offensichtlichem Spaß am Töten ein Ehepaar erschießt, das verdächtigt wird, dem Entflohenen Unterschlupf gewährt zu haben und damit zwei kleine Mädchen zu Waisen macht, wird er von Leo niedergeschlagen, bevor er auch noch die beiden Kinder umbringen kann. Das macht die Männer zu Todfeinden.

Weil Leos Verhalten Aufmerksamkeit bei seinem Vorgesetzten Generalmajor Kuzmin erregt, fordert dieser von ihm einen Loyalitätsbeweis: Leo soll seine eigene Frau Raisa bespitzeln, die verdächtigt wird, eine Spionin zu sein. Ihm ist klar, dass Kuzmin nur eine Antwort von ihm akzeptiert: Die Bestätigung, dass Raisa tatsächlich ein Schädling des Sowjetvolkes ist. Damit wäre ihr Schicksal besiegelt: Nach einem Verhör, das wie gewohnt mit einem durch Folter erpressten Geständnis enden würde, würde auf die junge Frau eine Haft im Gulag warten, die mehrere Jahrzehnte dauern könnte - wenn sie diese lange Zeit überhaupt überleben könnte. Er entscheidet sich dafür, seine Frau nicht zu denunzieren, was die unmittelbare Degradierung und die Versetzung zur Miliz in Wualsk, einer tristen Industriestadt im Ural, nach sich zieht.

Leo wird in Wualsk General Nesterow unterstellt, der ihm wegen seiner ehemaligen MGB-Zugehörigkeit mit großem Misstrauen begegnet. Nur zwei Tage vor seiner Ankunft wurde in Wualsk ein junges Mädchen ermordet aufgefunden, und Leo fällt sofort die Ähnlichkeit mit den Umständen auf, unter denen der kleine Arkadi in Moskau ums Leben gekommen ist: Auch diese Leiche wurde grausam zugerichtet und befand sich in der Nähe des Bahnhofs. Nesterow lehnt kriminalistische Ermittlungen ab und verhaftet den geistig zurückgebliebenen Warlam Babinitsch, weil bei ihm eine blonde Locke, die von dem getöteten Mädchen stammen könnte, gefunden wurde. Babinitsch wird wegen Mordes zum Tod verurteilt und hingerichtet. Erst als in Wualsk eine weitere Kinderleiche gefunden wird, an der deutliche Parallelen zu den beiden vorangegangenen Morden zu erkennen sind, kann Leo seinen Vorgesetzten dazu überreden, mit ihm zusammen heimlich Ermittlungen aufzunehmen. Ihre Arbeit ist gefährlich und ergibt Anfang Juli 1953, dass quer durch die Sowjetunion außer Arkadi noch mindestens 43 weitere Kinder und Jugendliche auf die gleiche Weise getötet worden waren - Arkadi ist damit Kind 44. Nie hatte jemand eine Verbindung zwischen diesen Morden hergestellt, aber in jedem Fall hatte es einen "Täter" gegeben: bereits verurteilte Vergewaltiger, Diebe oder stadtbekannte Alkoholiker mussten hierfür herhalten.

Spannung bis zur letzten Seite

 

Kind 44 ist kein Krimi im klassischen Sinn. Natürlich ist viel davon die Rede, auf welche Weise und unter welchen widrigen Umständen Leo und Nesterow jeden Mord recherchieren, aber der Roman wirft auch ein Schlaglicht auf die Zeit, in der das Sowjetreich von Josef Stalin diktatorisch und gewaltsam regiert wurde. Die Beschreibung des Hungerwinters zu Beginn des Buchs geht auf tatsächliche Begebenheiten zurück: Im Winter 1932/1933 starben allein in der Ukraine etwa 3,5 Millionen Menschen an Unterernährung - ein Umstand, den die meisten Historiker heute als einen von Stalin absichtlich herbeigeführten Zustand betrachten, um die Ukrainer gefügig zu machen. In dieser Zeit soll es auch Fälle von Kannibalismus gegeben haben.

Auch die Schilderung der Mordserie geht auf einen historischen Kriminalfall zurück, der in der UdSSR für viel Aufregung sorgte und fast die Evakuierung einer ganzen Stadt nach sich gezogen hätte: Zwischen 1978 und 1990 tötete der Lehrer  Andrei Romanowitsch Tschikatilo mehr als 50 Kinder und Jugendliche auf grausame Weise. Wie im Roman stellte die Miliz lange Zeit keine Verbindung zwischen den Morden her: Tschikatilos Opfer waren Frauen und Mädchen fast aller Altersgruppen, die Taten hatten kein erkennbares Muster. Erst als er zufällig von einem Beamten dabei beobachtet wurde, wie er verdreckt aus einem Waldstück kam, in dem kurz darauf Kleidungsstücke und eine weitere Leiche entdeckt wurden, geriet er in den Fokus der Ermittler und konnte schließlich überführt werden. 1994 wurde er hingerichtet.

Kind 44 ist ein Buch, das man bis zum Schluss nicht mehr aus der Hand legt. Es schildert sehr deutlich das politische Klima in der Sowjetunion unter dem Regime von Stalin: Jeder achtete genau auf seine Worte und musste damit rechnen, auch von Angehörigen denunziert und der staatlichen Willkür ausgeliefert zu werden. Die Strafen für allerkleinste Vergehen, deren sich die Beschuldigten oft gar nicht bewusst waren, waren drakonisch. Tom Rob Smith versteht es, seinen Lesern das Leben der Menschen in dieser Zeit zu verdeutlichen, ohne sie mit Milieustudien zu langweilen. Für seinen Roman gibt es von mir eine ganz klare Empfehlung. 
Für alle, die sich jetzt fragen, wo der Zusammenhang zwischen dem Hungerwinter und den Tötungen sein könnte, sei gesagt: Es gibt sie, und seine Umstände sind die Erklärung für das Motiv des Mörders.


Ich bedanke mich beim Bloggerportal, das mir dieses Buch zur Verfügung gestellt hat. Kind 44 kann beim Goldmann Verlag bestellt und in jeder Buchhandlung zum Preis von 9,99 € gekauft werden (Taschenbuch). Die Kindle-Edition und die epub-Ausgabe kosten je 8,99 €.