Freitag, 22. Juli 2016

# 60 - Wenn nichts mehr ist, wie es mal war

"Wer bin ich?" - kein Ratespiel, sondern eine überlebenswichtige Frage

 

Eine Frau wacht auf der Intensivstation eines Krankenhauses aus dem Koma auf und erinnert sich an nichts: nicht an ihren Namen, nicht an ihr Leben, nicht an die Menschen, die ihr wichtig sein könnten. Mit diesem Szenario beginnt Fremdes Leben, der neueste Roman von Petra Hammesfahr.

Ein Stückwerk aus Erinnerungen

 

Sie ist sich völlig sicher: Die Frau, mit deren Namen sie die Ärztin im Krankenhaus anspricht, ist sie nicht. Mit "Claudia Beermann"  verbindet sie rein gar nichts. Sie ist Cilly Castrup, die Frau von Achim Castrup. Und sie ist sich sicher: Ihr Mann hat ihr eine Falle gestellt, um sie loszuwerden. Ganz deutlich kann sie sich daran erinnern, dass sie mit ihm in der Dunkelheit in ihrem SUV einen Aussichtspunkt angesteuert hatte, der sich in einem Steinbruch befand. Doch dann hatte Achim von einem merkwürdigen Geräusch im Motorraum gesprochen und angehalten. Sie hatte nichts dergleichen gehört, aber das musste ja nichts heißen. Achim war ausgestiegen, hatte die Motorhaube aufgeklappt, und dann hatte sich der Wagen rückwärts den steil abfallenden Weg hinunter in Bewegung gesetzt. Sie hatte es nicht mehr bis zur Bremse geschafft; wo sich der Schalter für die Handbremse befand, hatte sie nicht gewusst. Achim hatte nur dagestanden, mit hängenden Armen, und ihr ausdruckslos hinterhergesehen. Er hatte keinen Finger gerührt, um ihr zu helfen. Er hatte gewollt, dass sie stirbt. Das Letzte, an das sich die Frau, die mit "Frau Beermann" angesprochen wird, erinnern kann, ist der verschneite Steinbruch und ein einsamer Bauwagen. Und die kreischende Frauenstimme, die immer wieder "Mach sie tot! Mach sie tot!" schrie.

Erinnerungen sind wie ein Kartenspiel, das immer wieder neu gemischt wird

 

Je klarer sie wird, desto mehr Erinnerungsfetzen tauchen in ihrem Kopf auf. Die sie behandelnde Ärztin klärt sie über den Grund ihrer Einlieferung ins Krankenhaus auf: Sie hatte Ende 2012, also vor fast zwei Jahren, einen so schweren Autounfall, dass ihr Leben nur noch an einem seidenen Faden gehangen hatte und sie nach dem damaligen Klinikaufenthalt in eine private Pflegestelle gebracht worden ist. Niemand hatte daran geglaubt, dass sie je wieder aus dem Koma erwachen würde. Ihr Sterben war die wahrscheinlichste Variante gewesen. 
Nachdem man sie in der Pflegestelle fast zu Tode "gepflegt" hatte, war sie mit dem Rettungswagen in dieses Krankenhaus gebracht worden. Ihr Mann hatte die private Betreuung bezahlt. 

Sie ist also verheiratet, und zwar mit einem Carsten Beermann. Doch der braucht ein paar Tage, ehe er sich zum ersten Mal an ihrem Krankenbett sehen lässt. Von ihm erfährt sie im Laufe mehrerer Besuche immer mehr Details aus ihrem Leben, an das sie sich fast nicht erinnern kann. Carstens Schilderungen zufolge war sie ein eitles, selbstsüchtiges Miststück, das auch als Mutter - einen Sohn gibt es also auch noch! - komplett versagt hat. Sie soll sogar fremdgegangen sein.
Wie, um noch alles zu verschlimmern, tauchen immer wieder Erinnerungen auf, die sie in einem noch schlechteren Bild erscheinen lassen: Sie sieht einen an der Decke baumelnden Mann, eine junge Frau, die erstochen in einem brennenden Bett liegt und einen kleinen Jungen, der sich in einem Gitterbettchen in der brennenden Wohnung befindet und weinend nach seiner Mama ruft. Ihr ist völlig klar, dass sie es war, die die Frau umgebracht hat und dass sie nichts getan hat, um deren Sohn vor dem sicheren Feuertod zu retten.

Ein Mordversuch ist nicht genug

 

Die Zeichen verdichten sich, dass es sich bei der Patientin tatsächlich um Claudia Beermann handelt, aber diese Erkenntnis führt zunächst nicht unbedingt dazu, dass ihre Erinnerungslücken aufgefüllt werden würden. Sie erfährt, dass sie mit ihrem Mann zwar noch verheiratet ist, er aber mittlerweile in einer neuen Beziehung lebt und sogar wieder Vater geworden ist. Claudia Beermann schafft es, in der Rehaklinik ein Stück Selbstständigkeit zurückzugewinnen und eine kleine Wohnung zu beziehen, die ihr ihr Mann besorgt hat. Sie ist finanziell von seiner Unterstützung abhängig, weiß allerdings von ihm, dass sie Carsten vor ihrem Unfall mehrere zehntausend Euro für Umbauten in seinem Autohaus geliehen hat. Warum hatte sie das getan, wenn ihre Ehe seiner Schilderung nach längst in Trümmern lag? Und woher hatte sie so viel Geld? Nicht nur hier stößt sie auf Ungereimtheiten und ist sich nicht sicher, wem sie überhaupt vertrauen kann.
Auf der Suche nach der Vergangenheit fährt sie zum Haus, in dem sich die Pflegestelle befunden hat. Im Ort wird sie fast von einem Pkw überfahren, der ihr bekannt vorkommt und findet ihr Auto an einer ganz anderen Stelle wieder, als sie es abgestellt hatte. Für sie steht fest, dass es jemanden gibt, der sie aus dem Weg räumen will. Doch sie lässt sich nicht einschüchtern und fährt in das Dorf, in dem sie bei ihrer Großmutter aufgewachsen ist. Dort wird sie von Inge, einer früheren Nachbarin, angesprochen, die sie gut zu kennen scheint, an die sich Claudia allerdings nicht erinnern kann. Sagt Inge ihr die Wahrheit über ihr früheres Leben?

Guter Plot mit Schwächen

 

Fremdes Leben ist nicht der erste Roman, den ich von Petra Hammesfahr gelesen habe, alle vorangegangenen haben mir allerdings besser gefallen. Das Buch hatte wie erwartet einen starken psychologischen Einschlag, als Leser ist man angesichts der sehr unterschiedlichen Erinnerungen und Schlussfolgerungen von Claudia Beermann zunächst genauso ratlos wie sie. An manchen Stellen keimt eine Ahnung dessen auf, was sich an dem Tag, an dem sich das Leben der Hauptperson so grundlegend verändert hat, abgespielt haben könnte. Aber die Art, wie die Figur der Inge beschrieben wird, erinnert stark an einen selbstlosen Samariter. Die Wahrscheinlichkeit, dass sich eine Frau, die zwar im Haus gegenüber  der Großmutter wohnt, zu der der Kontakt aber immer eher oberflächlich gewesen ist, in einer Weise einsetzt, wie man sie von nahen Angehörigen oder der besten Freundin erwarten würde, finde ich relativ gering. Inge spielt allerdings eine Schlüsselrolle bei der Aufklärung dessen, was Claudia Beermann zugestoßen ist. Sie weiß außerdem bestens über deren Lebensumstände seit ihrer Kindheit bescheid. An dieser Stelle wird mir die Handlung zu unglaubwürdig.
Auch die Art und Weise, wie Claudia letztendlich mit den gewonnenen Erkenntnissen umgeht und welche Entscheidung sie bezüglich des Umgangs mit den Tätern trifft, habe ich als unwahrscheinlich empfunden.
Abgesehen von diesen Kritikpunkten ist Fremdes Leben ein Buch, das seine Leser durchgehend bei der Stange hält und für angenehme Lesestunden sorgt. 

Fremdes Leben ist im Diana-Verlag erschienen und wurde mir vom Bloggerportal zur Verfügung gestellt, wofür ich mich herzlich bedanke.
Das Buch kostet als Hardcover-Ausgabe 19,99 €, als Audio-CD (gekürzte Lesung) 17,99 €, als epub- oder Kindle-Edition 15,99 € sowie als Hörbuch-Download (gekürzt) 13,95 €.