Freitag, 21. Oktober 2016

# 72 - Altsein - ein Ruhekissen oder der blanke Horror?

Wir wollen alt werden, aber es nicht sein 

 

Wie ist das in Deutschland, wenn man alt ist oder die anderen der Meinung sind, dass man es sei? Dieser Frage widmet sich der Wirtschaftsjournalist Michael Opoczynski in seinem neuesten Buch Aussortiert und abkassiert - Altwerden in Deutschland.

Was macht ein Sachbuch aus?


Aussortiert und abkassiert - Altwerden in Deutschland ist im Februar 2016 erschienen, sodass ich davon ausgegangen war, über Aktuelles rund um das Thema Altwerden informiert zu werden. Ich erwartete von diesem Buch tatsächlich Neues. Michael Opoczynski war zu dem Zeitpunkt, als er dieses Buch schrieb, erst seit kurzem Rentner. Vermutlich hat ihn dieser Statuswechsel zu den präsentierten Einsichten gebracht.


Es gibt eine ganze Reihe von Fakten in diesem Buch, die nicht neu, aber deswegen nicht weniger wahr sind. Opoczynski schreibt beispielsweise über die Ungleichbehandlung der Alten bei der Vergabe von öffentlichen Ämtern: Für das Amt des Bundespräsidenten gilt eine Mindest- aber keine Höchstgrenze hinsichtlich seines Alters, ein damit verglichen schnöder Bürgermeister darf zum Zeitpunkt seiner Wahl z.B. in Hessen maximal 67 Jahre alt sein. Für andere Bundesländer gelten ggf. andere Altersgrenzen. Eine juristisch akzeptierte Ungleichbehandlung, keine Frage. Dasselbe gilt für den spätesten Zeitpunkt der Pensionierung von Beamten: Sobald das Höchstalter erreicht ist, ist es vorbei mit der Berufstätigkeit. Auch wenn die Betroffenen gern noch weiterarbeiten würden. Vereinzelt werden Ausnahmen gemacht, sie sind jedoch so selten, dass man sie mit der Lupe suchen muss.


Aber auch schon vor dem regulären Eintritt in den Ruhestand kann es schwierig werden: Wer mit 45 oder 50 Jahren arbeitslos wird, hat ein Problem. Entgegen aller offiziellen Statistiken mutmaßen Arbeitgeber oft noch bevor sie den Bewerber gesehen haben, dass sie sich mit ihm wegen einer erhöhten Anfälligkeit gegen Krankheiten oder dessen „altersgemäßer“ Unflexibilität sowieso nur Ärger einhandeln. Das haben viele Arbeitsuchende schon erlebt, und ein Umdenken seitens der Arbeitgeber ist erst seit dem vielbesungenen Fachkräftemangel hier und da erkennbar. Spätestens hier offenbart sich ein Problem, das sich durch das Buch zieht: Je nach Sachverhalt wird die Grenze, ab der Menschen lt. Opoczynski als alt gelten, nach oben oder unten verschoben. Eine demoskopische Unschärfe, die auch die Darstellung unscharf werden lässt.

Auch das von Opoczynski angesprochene Rentenproblem - immer mehr Bezieher stehen zu wenigen Beitragszahlern gegenüber - ist jedem bekannt, der nicht erst vor Kurzem nach Deutschland eingewandert oder in den letzten Jahren jedem Nachrichtenmedium konsequent ausgewichen ist. 
Opoczynski spricht auch völlig zu Recht den Pflegenotstand an, hinter dem das Prinzip steht, dass die Pflege kommerzialisiert abläuft und Gewinn für die Betreiber von Pflegeheimen und -diensten bringen soll.

Aber es geht mir ja darum, etwas Neues zu erfahren und als Tatsachen dargestellte Sachverhalte auch durch Tatsachen belegt vorzufinden. 

Die Verlängerung der Lebensarbeitszeit - ist sie die Lösung der demografischen Probleme?

 

Opoczynski wirft der Politik vor, mit der Wahrheit zugunsten der Wählerstimmen hinterm Berg zu halten: Der spätere Rentenbeginn sei notwendig, um den Generationenvertrag am Leben zu erhalten und auch in Zukunft die staatliche Rente zu sichern. Doch er hält den Gewerkschaften vor, ihren Mitgliedern eingeredet zu haben, dagegen sein zu müssen. Dabei hat der frühe Ruhestand nach Ansicht des Autors in Deutschland Tradition: Er führt beispielhaft mit der Deutschen Bundespost und der Deutschen Bundesbahn die ehemaligen Sondervermögen des Bundes an, die - so schreibt er - seit den 1970-er Jahren die frühe Verrentung nutzen, um konfliktfrei die Belegschaft zu verjüngen. Opoczynski berichtet, ehemalige Telekom-Mitarbeiter zu kennen, die mit knapp über 40 in Rente gegangen sind. Das stimmt, das hat es tatsächlich gegeben. Allerdings nicht als normale und übliche Vorgänge, sondern im Rahmen der Zerschlagung der Sondervermögen seit 1989. Die damalige Bundesregierung hatte es vorgezogen, auf die jährlichen rd. 1,3 bis rd. 1,6 Milliarden DM (rd. 665 Mio. bis rd.  818 Mio. Euro) zugunsten eines einmaligen Erlöses, der den Bundeshaushalt aufhübschen sollte, zu verzichten. Die erste Amtshandlung der neuen Chefs war dann auch, über deutliche Personalreduzierungen nachzudenken. Im Zuge dieser "Verschlankung" war die frühzeitige Verrentung der Angestellten oder die Pensionierung der Beamten ein willkommenes Mittel, geräuschlos Mitarbeiter en gros loszuwerden. Der Steuerzahler hatte dann diese vorgezogenen Ruhegelder zu zahlen. Kurzum: Das Verrenten oder Pensionieren von sehr jungem Personal ist im Zuge der Privatisierung passiert, war aber nicht gewohnte Übung und taugt daher nicht als Beispiel für eine angeblich seit Jahrzehnten betriebene Praxis.

Alte werden "zwangsverrentet" und sind Opfer von Abzockern

 

Schon in der Einleitung beklagt Opoczynski, in Rente geschickt und nicht darum gebeten worden zu sein. Dabei ist zuvor ein Antrag nötig. Ohne Antrag keine Rente. Die Deutsche Rentenversicherung informiert allerdings ausdrücklich über die Möglichkeit, dass sich die Rentenhöhe durch jedes Jahr Berufstätigkeit nach dem Erreichen der Regelaltersgrenze verbessert - wohlgemerkt in einer normalen Berufstätigkeit. Wer nach dem Erreichen der Regelaltersgrenze in den Ruhestand geht, darf beliebig viel nebenher verdienen, ohne dass eine Kürzung der Rente drohen würde - im Gegensatz zu Menschen, die sich früher aus dem Erwerbsleben verabschiedet haben, weil sie z. B. gesundheitlich angeschlagen sind. Ihr Zuverdienst darf nur monatlich 450 Euro betragen, solange sie ein vorgezogenes Altersgeld erhalten. Ich kann mir nur schwer vorstellen, dass ein Wirtschaftsjournalist so etwas nicht weiß.


Wenn man Opoczynski glauben darf, sind Alte die Lieblingsopfer von Abzockern aller Art. Er führt hier u. a. den zunehmenden Erfolg von Teleshopping-Kanälen an, die von der Leichtgläubigkeit und fehlenden Mobilität der Senioren profitierten. Statistiken weisen allerdings aus, dass weniger als 1/3 der Teleshopping-Kunden älter als 60 Jahre ist; der Durchschnittskunde dieser Vertriebsform ist 53 Jahre alt und weiblich.
Im Reigen der Alten-Abzocker dürfen auch Finanzhaie und Kaffeefahrten  nicht fehlen. Die Lehman Brothers-Pleite von 2008 wird hier als Beleg dafür angeführt, dass es die Branche schwerpunktmäßig auf die Rentner abgesehen hat. Es stimmt, dass sie eine große Gruppe der Geschädigten bildeten; Familien, die sich eine finanzielle Zukunft aufbauen wollten, waren von der Insolvenz allerdings in gleichem Maß betroffen.
Das Durchschnittsalter  der Teilnehmer von Kaffeefahrten liegt bei 65 Jahren. Schon in meiner Kindheit, die ein paar Jahrzehnte zurückliegt, hatten diese Veranstaltungen einen schlechten Ruf: Jedem, der mitfuhr, war klar, dass es irgendwann an einem entlegenen Ort eine Verkaufsveranstaltung geben würde, bei der Dinge zu überhöhten Preisen verhökert werden würden, die kein Mensch braucht. Muss das tatsächlich Raum finden in einem Buch, das seine Leser sachlich informieren will?

Als letztes Beispiel dafür, dass es mit der Datenlage nicht so genau genommen wird, soll das Kapitel über die Postbank dienen. Sie wird von Opoczynski als Erfinderin des Gewinn-Sparens bezeichnet, einer Sparvariante, die sich für diejenigen Kunden lohnt, die bei der monatlichen Lotterie einen Treffer landen - und natürlich für die Bank. Doch schon 1950 hat die Wiesbadener Volksbank das erste Gewinnsparen veranstaltet. Millionen von Glücksspiel-Losen werden jedes Jahr verkauft. Allein die Volks- und Raiffeisenbank Baden-Württemberg verwaltet mehr als eine Million von ihnen. Statistiken über das Alter der Käufer werden allerdings nicht geführt.

Mein Eindruck?

 

Ich gebe zu, dass ich mir von Aussortiert und abkassiert - Altwerden in Deutschland mehr erhofft hatte: mehr Neues, mehr belastbare Aussagen, weniger Kritik "aus dem Bauch heraus". Viele Themen sind längst bekannt und werden seit Jahren diskutiert und durch die eine oder andere Gesetzesanpassung verändert. Andere Dinge, die hier von Opoczynski angesprochen werden, sind gar keine spezifischen Alten-, sondern vielmehr Behinderten-Probleme, die die körperlich, geistig und/oder psychisch beeinträchtigten alten Menschen mit einschließen. Die Probleme bezüglich der Pflege, die Vereinsamung von nicht mehr mobilen Menschen in den eigenen vier Wänden, die unpraktisch designten technischen Geräte oder Lebensmittelverpackungen - sie sind kein Thema für fitte Senioren, sondern für Menschen mit Beeinträchtigungen. 
Aussortiert und abkassiert - Altwerden in Deutschland wirkt auf mich, als hätte sich Michael Opoczynski seinen Rentner-Frust von der Seele geschrieben. Zu neuen Erkenntnissen hat mir das Buch leider nicht verholfen.

Aussortiert und abkassiert - Altwerden in Deutschland wurde mir vom Bloggerportal zur Verfügung gestellt, wofür ich mich herzlich bedanke. Es ist im Gütersloher Verlagshaus erschienen und kostet als gebundene Ausgabe 19,99 € sowie als Kindle- oder epub-Edition 15,99 €.