Freitag, 3. Februar 2017

# 86 - Ein Junge erlebt den Balkankrieg


Roman mit autobiografischen Zügen


Wie der Soldat das Grammofon repariert ist das erste Buch des gebürtigen Jugoslawen Saša Stanišić. Die Hauptfigur Aleksandar steht stellvertretend für den Autor und schildert, wie er als Vierzehnjähriger den Ausbruch des Bürgerkriegs in seinem Heimatort Višegrad erlebt hat, mit der Familie nach Deutschland geflüchtet und nach einigen Jahren in die alte Heimat zurückgekehrt ist.

Brutalität, Familie und viel Merkwürdiges


Saša Stanišić lässt es in seinem Roman sehr langsam angehen. Auf den ersten 134 Seiten erfährt der Leser, in welchem Umfeld Aleksandar aufwächst: Sein Vater ist ein introvertierter Maler, die Mutter neigt zu Depressionen, und dann gibt es da noch die Tanten, Onkel und eineinhalb Großelternpaare; ein bereits verstorbener Großvater wird nahezu verschwiegen, weil er die Familie mit seiner sehr speziellen Art offenbar zu viele Nerven gekostet hat. Niemand trauert ihm nach. Auch die Schule ist ein Thema, was in diesem Alter nicht weiter erstaunlich ist. Der Geist des längst verstorbenen Staatspräsidenten Tito ist allgegenwärtig, sein Porträt hängt noch in vielen Wohnzimmern und öffentlichen Gebäuden.
Der Roman beginnt mit dem Tod des anderen Großvaters, den sein Enkel Aleksandar nicht wahrhaben will, geht weiter mit Alltagsschilderungen und der kurzen Erwähnung, dass Onkel Bora in Deutschland Gastarbeiter im Straßenbau ist. Schon das genügt, um den Neid der Nachbarn auszulösen
Stanišić pickt immer wieder einzelne Familienmitglieder oder Nachbarn heraus, beschreibt ihre Eigenarten oder erzählt, was ihnen in ihrem Leben Ungewöhnliches widerfahren ist. Der Krieg bricht so plötzlich wie ein Blitzschlag über die bosnische Kleinstadt herein: Im Radio wird von den Kämpfen um Osijek berichtet, nicht viel später stehen die ersten serbischen Soldaten in Višegrad. Rücksichts- und hemmungslos wird gemordet, zerstört und gestohlen. Das Symbol der Stadt, die Brücke über den Fluss Drina, wird dabei zum Schauplatz blutiger Verbrechen. Schon kurz vor dem Eintreffen der Soldaten packen die ersten Familien ihre Sachen und verlassen die Gegend. Mit etwas Verzögerung schließt sich Aleksandars Familie dieser Fluchtbewegung an, die sie bis nach Deutschland führt. Die Mutter arbeitet in einer Wäscherei, der Vater im selben Betrieb wie Onkel Bora. Wirklich glücklich ist keiner von ihnen, auch wenn sie in Essen in Frieden leben können. Aleksandar sehnt sich zwar nach seiner Heimat, aber er merkt, dass er immer mehr Einzelheiten vergisst und ihm hin und wieder ein Wort in seiner Muttersprache nicht einfällt. Doch er ist sich mit seinen Eltern darin einig, dass ihnen nichts daran liegt, in einem zerstörten Bosnien zu leben.
Ende 1995 markiert das von den USA initiierte Friedensabkommen von Dayton das Ende des Balkankriegs. Die Familie muss sich nun entscheiden, wie es weitergehen soll. 1998 wandern die Eltern zusammen mit der Großmutter nach Florida aus. Aleksandar entschließt sich dazu, nach Višegrad zu reisen und sich auf die Suche nach den Verwandten, den Nachbarn und den Orten seiner Kindheit zu machen. Das Buch endet dort, wo es begonnen hat: am Grab des Großvaters.

Wie war‘s?


Wie der Soldat das Grammofon repariert war 2006 auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises. Sowohl dieser Umstand als auch die Frage, wie ein so düsteres Kapitel wie der Balkankrieg von einem aus der betroffenen Region stammenden Autor aufgearbeitet werden kann, hat das Buch für mich interessant gemacht. Allerdings gibt es nur wenige Bücher, die ich als so zäh empfunden habe wie dieses. Die sehr ausführliche Schilderung des täglichen Lebens und die genaue Darstellung der Menschen, die für den jungen Aleksandar wichtig waren, hätten nicht ein Drittel des Textes einehmen müssen. Das, was den Krieg ausmacht, wird auf relativ wenigen Seiten beschrieben. Die historische Brücke über die Drina, die heute ein UNESCO-Weltkulturerbe ist, war im Balkankrieg Schauplatz zahlloser Ermordungen von Bosniern durch serbische Soldaten: Die Menschen wurden in den Fluss geworfen, wer sich ans Ufer retten wollte, wurde erschlagen oder erschossen. Was mit der Stadt passiert ist und wie sich der Krieg auf sie ausgewirkt hat, wird im Roman nur schlaglichtartig angerissen. Es ist etwa so, als würde jemand für wenige Sekunden einen hellen Lichtstrahl auf eine Szene richten, um gleich darauf die Lampe zu löschen.
Saša Stanišić hat einen Schreibstil gewählt, für den man als Leser einen langen Atem benötigt. Er wechselt immer wieder zwischen der Gegenwart und der Rückschau, wobei sich beides auch gerne überschneidet. Auch das Stilmittel der Wortwiederholung wurde extensiv ausgereizt. Kurzum: Ich war mehrmals kurz davor, das Buch zur Seite zu legen und dort liegen zu lassen. Es langweilt mich auch, wenn in einer Szene eine Wette geschildert wird, in der es darum geht, einen Fußball mit dem Kopf in der Luft zu halten. 192 Mal muss das gelingen, und das tut es auch: Jedes einzelne Mal wird mit der ausgeschriebenen Zahl notiert, wozu immerhin drei Seiten nötig sind. Später findet Aleksandar im Kleiderschrank seiner Großmutter einen Karton, in dem sich 99 unfertige Bilder befinden, die er gemalt hat. Auf den folgenden Seiten werden die Titel aller Bilder genannt. Man mag das künstlerisch wertvoll finden, ich fand es ermüdend.

Wie der Soldat das Grammofon repariert wurde mir vom Bloggerportal zur Verfügung gestellt, wofür ich mich herzlich bedanke. Der Roman ist beim btb-Verlag erschienen und kostet als Taschenbuch 9,99 €.