Die Annahme, dass Männer seit Anbeginn der Menschheit dasjenige Geschlecht sind, das führende Positionen inne hatte, während Frauen Früchte sammelten, kochten und sich um die Kinder kümmerten, wurde durch mehrere archäologische Funde widerlegt. Der wohl spektakulärste Fund wurde 2008 gemacht: Bei Valencia wurde das 5.000 Jahre alte Grab eines einflussreichen Herrschers aus der Kupferzeit entdeckt. Darin befanden sich wertvolle Grabbeigaben und aus Elfenbein gefertigte Waffen. Die Wissenschaftler gingen selbstverständlich davon aus, dass es sich bei den Gebeinen um einen Mann gehandelt hat und nannten ihn "Ivory Man". Erst 2023 ergaben DNA-Untersuchungen, dass sich die Forscher geirrt hatten: Es handelte sich bei dieser hochgestellten Persönlichkeit um eine Frau. Man war lange Zeit davon ausgegangen, dass man anhand der Grabbeigaben automatisch auf das Geschlecht einer Person schließen kann. Der geschlechtsbezogene Verzerrungseffekt (Gender Bias) hatte voll zugschlagen. Auch Charles Darwin war von ihm beeinflusst, wie man in seinem 1871 erschienen Werk Die Abstammung des Menschen nachlesen kann:
"Der hauptsächlichste Unterschied in den intellektuellen Kräften der beiden Geschlechter zeigt sich darin, dass der Mann zu einer größeren Höhe in Allem, was er nur immer anfängt, gelangt, als zu welcher sich die Frau erheben kann, mag es nun tiefes Nachdenken, Vernunft oder Einbildungskraft, oder bloß den Gebrauch der Sinne und der Hände erfordern." Darwins unvoreingenommene Einschätzung darüber, wozu Frauen in der Lage sind, darf bezweifelt werden. Damit war er in der durch Männer geprägten Wissenschaftswelt des 19. Jahrhunderts nicht allein.
Schöler nennt zahlreiche Beispiele von Frauen, die um die Anerkennung ihrer Leistung gebracht wurden. Sie beschränkt sich dabei auf die letzten 200 Jahre in Europa, um eine Einordnung in den historischen Kontext zu ermöglichen. Es geht dabei um bekannte und unbekannte sowie um Frauen, die eine bedeutsame Entwicklung angestoßen haben, die Geschichtsschreibung es aber nicht wichtig fand, ihre Namen festzuhalten. Ob es dabei um Rosalind Franklin (sie wurde um den Nobelpreis gebracht), Elisabeth Hauptmann (sie war zu 80 Prozent am Entstehen von Brechts Dreigroschenoper beteiligt) oder die etwa 6.000 Frauen geht, die am 5. Oktober 1789 am Marsch auf Versailles teilnahmen und von König Ludwig XVI. die Unterzeichnung der Menschenrechtserklärung und die Abschaffung der Privilegien des Adels erzwangen: Ihre Namen wurden ignoriert, ihr Engagement brachte ihnen keine Vorteile.
Männer, die Frauen durch Ausbeutung oder Diebstahl um die ihnen zustehende Anerkennung gebracht haben, fanden oft nichts dabei, mit ihrem Handeln zu prahlen. Ihr Verhalten hatte für sie in der Regel keine negativen Folgen.
Diesem Buch ist deutlich anzumerken, dass Leonie Schöler Historikerin ist. Sie hat sehr genau recherchiert und ihrem Text sehr viele Quellennachweise, Literaturempfehlungen und ein umfangreiches Personenregister beigefügt.
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Das Besondere an Beklaute Frauen ist nicht nur, dass Leonie Schöler über das Schicksal von Frauen schreibt, deren Leistungen durch männliche Einflussnahme unter den Tisch fielen. Sie erklärt darüber hinaus, in welchem historischen Zusammenhang die Unterschlagungen, Betrügereien, Diebstähle und Zurückweisungen stattgefunden haben. Sie nennt die Namen von Männern, die nur vorgaben, mit Frauen auf Augenhöhe leben und/oder arbeiten zu wollen, deren Fähigkeiten jedoch nur für ihren eigenen Erfolg missbrauchten: Darunter sind nicht nur die schon genannten Bert Brecht und Pablo Picasso, sondern auch Karl Marx, Walter Gropius oder Albert Einstein. Schöler zieht in ihrem Schlusswort ein für Frauen bedrückendes Fazit: "Jede beklaute Frau ist kein Einzelfall, sondern Teil eines Systems, das uns alle betrifft und bis heute wirkt."
Wer nach dem Lesen dieses Buches immer noch glaubt, dass der Feminismus überflüssig geworden ist, dem ist nicht mehr zu helfen.
Beklaute Frauen mit dem Untertitel Denkerinnen, Forscherinnen, Pionierinnen: Die unsichtbaren Heldinnen der Geschichte ist 2024 im Penguin Verlag erschienen und kostet 22 Euro sowie als E-Book 19,99 Euro.
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