Donnerstag, 18. Juni 2015

Buch # 2 - über Afrika, Aberglaube und Machtphantasien

Das Kontrastprogramm - von Norddeutschland in die "Freie Republik Aburĩria"

 
Das heutige Buch ist aus einer ganz anderen Ecke als das erste. Es wurde vom kenianischen Autor Ngũgĩ wa Thiong’o geschrieben und hat den Titel Herr der Krähen. Es ist 2011 erschienen und hat stolze 950 Seiten, die sich durchweg kurzweilig lesen lassen.

Worum geht's?

Das Buch spielt im Wesentlichen im afrikanischen Aburĩria, einem Phantasiestaat, der jedoch Strukturen hat, die dem Leser verdammt bekannt vorkommen.


Eine der wichtigsten Figuren ist der sogenannte Zweite Herrscher. Er ist ein Despot erster Güte und schon so lange im Amt, dass sich keiner mehr an den Herrscher vor ihm erinnern kann. Sein Geburtstag ist ein hohes nationales Ereignis. Doch da es bis heute in vielen afrikanischen Staaten nicht üblich ist, dass die Geburt eines Kindes beurkundet wird, muss das Parlament von Aburĩria sich über den richtigen Tag einig werden, an dem der Herrschergeburtstag feierlich begangen werden soll. Es benötigt hierfür geschlagene sieben Monate, sieben Tage, sieben Stunden und sieben Minuten. Mit derselben Akribie schwänzeln zahllose Menschen um den Herrscher herum, um ihm unterwürfig alles recht zu machen und den eigenen Status zu halten oder zu verbessern. Ganz vorne mit dabei sind zwei seiner Minister. Der Beflissenere von beiden nutzt die monumentale Geburtstagsparty dazu, sich für immer im Gedächtnis des Herrschers zu verankern: Mit viel Pathos verkündet er, dass die gesamte Bevölkerung beschlossen habe, ein Gebäude zu errichten, das erst vor den Himmelspforten enden sollte. So sei es dem Herrscher möglich, sich persönlich jeden Tag mit Gott zu unterhalten. Dass die Bevölkerung bis dahin nichts von diesem Vorhaben wusste, spielt weder für den Minister noch für den Herrscher eine Rolle.

Eilig wird ein Nationales Baukomitee einberufen, um "Marching To Heaven" zu verwirklichen. Dessen Vorsitzender kann sich von da an vor Besuchern kaum retten: Die einen erhoffen sich Arbeit, die anderen, dass man an sie „denkt“. Diesen Wunsch unterstreichen Sie mit der Übergabe von prall gefüllten Geldumschlägen. Der Besucherandrang ist so groß, dass schon bald die Warteschlange quer durchs ganze Land geht. 

Wie im wahren Leben: Unterschätze nicht die Macht des Zufalls

Durch einen Zufall lernt Kamĩtĩ, ein junger Mann, der aus einer armen Familie stammt und gerade sein Hochschulexamen abgelegt hat, Nyawĩra kennen. Die junge Frau gehört zu einer Gruppe Oppositioneller, die immer wieder subtile Proteste gegen den Herrscher organisiert. Als die beiden als Bettler verkleidet nach einer solchen Aktion im Dunkeln nach Hause wollen, fallen sie drei Polizisten auf. Aber nicht wegen ihrer ärmlichen Kleidung, sondern wegen der Taschen, die sie bei sich haben. Die "Gesetzeshüter" vermuten darin Bares, was sie sich unter den Nagel reißen können und verfolgen die jungen Leute. Nur durch die gute Ortskenntnis von Nyawĩra können die beiden ihre Verfolger größtenteils abschütteln. 

Doch einer der Polizisten gibt nicht auf und stellt ihnen weiter nach. Er verfolgt sie bis zu einem leerstehenden Haus, in dem sie sich versteckt haben, weicht aber erschrocken zurück, als er ein todbringendes Zeichen über der Eingangstür sieht: Ein hastig von Kamĩtĩ angefertigtes Amulett aus Karton, Schnur, Stofffetzen, einem vertrockneten Frosch und einer toten Eidechse, darüber ein Schild mit einer eindeutigen Warnung: In diesem Haus wohnt ein Zauberer, der Falken und Krähen vom Himmel holen kann. Das Schild ist unterschrieben mit "DER HERR DER KRÄHEN". Im vom Aberglauben durchdrungenen Aburĩria verfehlt diese Warnung nicht ihre Wirkung, und der Polizist ergreift verängstigt die Flucht. Als er am nächsten Tag beim Zauberer vorsprechen will, erlebt er erneut eine für ihn so unheimliche Situation, dass er zum zweiten Mal das Weite sucht. Doch von nun an ist Kamĩtĩ nicht mehr Kamĩtĩ, sondern wird unfreiwillig zum "Herrn der Krähen", dem übermenschliche Kräfte nachgesagt werden. In kürzester Zeit ist er in aller Munde. Der Umstand, dass er sich nicht persönlich zeigt, sondern nur seine Stimme zu hören ist, macht ihn noch geheimnisvoller und vergrößert seine Popularität.

Große Probleme verlangen nach großen Lösungen

Wie bei allen gigantischen Bauprojekten gibt es auch bei diesem ein Hindernis, das zunächst überwunden werden muss: die Finanzierung. Für „Marching To Heaven" muss ein Kredit von der Global Bank in New York her. Um dieses Vorhaben zu einem Erfolg zu machen, reist der Herrscher persönlich in die USA und nimmt zur Unterstützung seinen Außenminister mit. Doch was der Herrscher als reine Formsache angesehen hat, entwickelt sich zu einem Fiasko. Die Ereignisse überschlagen sich, und letzten Endes bekommt der Herrscher, was er verdient hat.

Wem wird das Buch gefallen?

Alle, die gern schnell lesbare Bücher bevorzugen, sollten einen Bogen um diesen Roman machen. Er eignet sich nicht dazu, in kleinteiligen Stückelungen gelesen zu werden. Das Buch wirft aber auf humorvolle und ironische Weise ein Schlaglicht auf die Funktionsweise zahlreicher afrikanischer Diktaturen, insbesondere in der südlichen Hälfte des Kontinents. Ngũgĩ wa Thiong’o lässt seine eigenen Erfahrungen mit der britischen Kolonialmacht und der späteren Herrschaft des Diktators Daniel arap Moi, der Kenia innerhalb von 24 Jahren bis 2002 herunterwirtschaftete und zahllose Oppositionelle foltern und verschwinden ließ, in sein Buch einfließen.

Wir erfahren nicht nur etwas über die Denkweise der Menschen im mittleren und südlichen Afrika, sondern eben, dass es auch dort, wo sich das Böse und das Gute offensichtlich voneinander abzugrenzen scheinen, noch Grautöne gibt. Der Roman hat zahlreiche Stellen, an denen ich zunächst gedacht habe: "Na, hier trägt er doch ein bisschen dick auf", um mich im nächsten Moment an Ereignisse zu erinnern, die ich vor etlichen Jahren über andere Diktatoren in Afrika gehört hatte. Sicher ist vielen von euch Idi Amin noch ein Begriff.


Ngũgĩ wa Thiong’o ist heute Professor in den USA und zählt zu den (ewigen) Anwärtern auf einen Literatur-Nobelpreis.


Hinweis: Wer sich für den Roman begeistern kann, den wird auch ein anderes Buch von Ngũgĩ wa Thiong’o interessieren: In Träume in Zeiten des Krieges schildert der Autor seine Erinnerungen an seine Kindheit und Jugend. Wer den Roman Herr der Krähen besser verstehen möchte, sollte es lesen. Das ist schnell gemacht: Es hat einschließlich eines Nachworts des Übersetzers Thomas Brückner und eines Glossars nur rund 250 Seiten.

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