Montag, 22. Juli 2024

# 444 - Ein Krimi aus dem Herzen eines Ministeriums

Der österreichische Journalist Wolfgang Ainetter wurde
2018 Sprecher des damaligen Bundesverkehrsministers Andreas Scheuer und erhielt so Eindrücke, wie ein Ministerium "tickt". In seinem als 'Ministeriumskrimi' untertitelten Buch Geheimnisse, Lügen und andere Währungen gibt er rund drei Jahre nach seinem Ausscheiden Einblicke, wie es dort zugegangen ist. Oder doch nicht?

Mich hat das Buch interessiert, weil ich selbst einige Jahre in einem Ministerium gearbeitet habe, etwa drei Mal länger als Wolfgang Ainetter in "seinem". Ich kenne gewöhnungsbedürftige Mechanismen, habe Ministerinnen und Minister verschiedener Parteizugehörigkeiten kommen und gehen sehen, die Zahl der Staatssekretäre während dieser Zeit war noch größer. Nacheinander, versteht sich. Was ich nicht erlebt habe, waren Vorgänge, die sich für einen Ministeriumskrimi geeignet hätten.

Worum geht's?

Die Handlung dreht sich um einen hohen Beamten im Bundesverkehrsministerium, der so etwas wie die graue Eminenz des Hauses ist. Seit Jahrzehnten führt der direkte Zugang zum jeweiligen Minister nur über Ministerialdirektor Hans-Joachim Lörr. Sämtliche Vorgänge für den Minister gehen über seinen Schreibtisch, er terrorisiert alle nachgeordneten Beamtinnen und Beamten, senkt oder hebt den Daumen, wenn es um Beförderungen geht, ist extrem geizig, intrigant und korrupt. Wenn es einen Preis für den meistgehassten Kollegen gäbe, wäre Lörr ein kochend heißer Anwärter.

Lörr steht kurz vor seiner Pensionierung. Das hält ihn aber nicht davon ab, sich und seine Frau von Coronamasken-Fabrikanten zu einem Zehngang-Menü in ein Berliner Nobelrestaurant einladen zu lassen. Da erreicht ihn ein Anruf seiner Büroleiterin, die ihn dringend um ein vertrauliches Gespräch bittet. Lörr verlässt das Lokal, kehrt aber nicht zurück. Verschwand der Beamte aus freien Stücken oder wurde er entführt?

Der aus Österreich stammende und nun bei der Berliner Polizei arbeitende Polizeioberkommissar André Heidergott und seine Vorgesetzte Emily Schippmann werden von ihrem Chef beauftragt, sich die Sache näher anzusehen. Die Liste der Menschen, die sich Lörr zum Feind gemacht hat, ist endlos. Von einem schnellen Ermittlungserfolg kann keine Rede sein. Lörr ist wie vom Erdboden verschluckt.

Lesen?

Wolfgang Ainetter hat in Interviews immer wieder betont, dass es sich bei seinem Krimi um eine Persiflage der Ministeriumsgepflogenheiten handelt. Das möchte, nein: das will man glauben, wenn man liest, dass der besoffene Minister Felix Rohr einer Kellnerin an die Brüste fasst oder seinen Sprecher mitten in der Nacht anruft, weil er seine Öffentlichkeitswirksamkeit für zu schlecht hält. Hat das etwa auch Andreas Scheuer getan? Dagegen ist die Anekdote, dass der Minister bei einem Tag der offenen Tür alle Besucher - sogar einen Formel-1-Weltmeister - beim Bürostuhlrennen geschlagen hatte, zwar wenig ministrabel, aber immerhin ganz lustig. So ähnlich hat es diese Begebenheit tatsächlich gegeben: 2018 lieferte sich Scheuer ein Rennen auf E-Karts gegen Nico Rosberg. Hier gibt es noch Fotos von der Veranstaltung, auf einem (dem dritten) ist auch Wolfgang Ainetter in seiner damaligen Funktion als Scheuers Pressesprecher zu sehen.

Sicherheitshalber hat Ainetter seinem Krimi einen Hinweis vorangestellt: Diese Geschichte ist ebenso wahr wie die Lebensläufe von Abgeordneten. Die handelnden Personen existieren tatsächlich - in der Halluzination des Autors. Sofern man sich in den handelnden Figuren wiedererkenne: Medienanwalt Christian Scherz wird sich um Sie kümmern, leider nur gegen Honorar. 

Christian Scherz hat übrigens die Ex-Bundeslandwirtschaftsministerin Julia Klöckner vertreten, als die sich 2023 von ihrem Mann scheiden ließ. Auch sie taucht als "Weinkönigin" mit einem ungewöhnlichen Verschleiß an Pressesprecherin in Ainetters Buch auf. Oder ist am Ende doch jemand anders gemeint?

Geheimnisse, Lügen und andere Währungen gehört in die Kategorie der Cosy-Krimis, Unterkategorie Soft-Cosy. Es stirbt niemand, keiner wird körperlich oder seelisch außergewöhnlich gequält, eine anschließende Psychotherapie wegen einer posttraumatischen Belastungsstörung wird für keine der Figuren nötig sein. Der skizzierte Kriminalfall ist eher der Aufhänger für das Drumherum: Die Ermittlungen öffnen den Beamten Türen, die anderenfalls erzählerisch verschlossen geblieben wären.
Auf der letzten Seite habe ich mich gefragt, ob es das Pendant zum Beamten Lörr während Ainetters Ministerialzeit tatsächlich gegeben hat. Wenn ja, würde ich von dieser Person gern wissen, wie man eine ganze oberste Bundesbehörde derart dauerhaft in Schach hält und was die unter ihr Leidenden davon abgehalten hat, das Haus zu verlassen. Karriere macht man schließlich nicht nur im Bundesverkehrsministerium. 

Geheimnisse, Lügen und andere Währungen ist 2024 im Haymon Verlag erschienen und kostet als Taschenbuch 13,95 Euro sowie als E-Book 9,99 Euro.

Sonntag, 14. Juli 2024

# 443 - Trophäenjagd

Hunter White ist ein schwerreicher US-Bürger, der sein Geld mit Börsenspekulationen verdient sowie verheiratet und kinderlos ist. Seit seiner Kindheit geht er seinem Lieblingshobby, der Jagd, nach. Sein erstes Tier erlegte er als Sechsjähriger, sein bester Lehrer war sein Großvater.

Seit Jahren liegt sein Jagdrevier in Afrika. Hunter hat die sogenannten "Big Five" - Afrikanischer Elefant, Nashorn, Kaffernbüffel, Leopard und Löwe - fast alle erlegt und die Trophäen seiner Frau nach Hause gebracht. Sie liebt die Trophäen, aber nicht das Jagen. Der Einstieg in Gaea Schoeters' Roman Trophäe kommt zu Beginn eher harmlos daher.

Nun will Hunter ein Spitzmaulnashorn erlegen. Die dafür nötige Lizenz hat er für einen sehr hohen Betrag über einen Umweg ersteigert, um seine Identität zu verschleiern und so Umweltschützern aus dem Weg zu gehen. Wie immer wird der Afrika-Trip von Hunters Freund van Heeren organisiert, der vor Ort über ausgezeichnete Kenntnisse und Kontakte verfügt. Mit dem für die Lizenz bezahlten Geld trägt Hunter zum Erhalt der Art bei. Doch kurz, bevor er zum Schuss kommt, wird die Jagd von Wilderern gestört, die das Tier brutal abschlachten.

Hunter ist nicht einfach nur wütend, weil ihm die Jagd verdorben wurde; in ihm staut sich ein hoher Adrenalin-Pegel an, der sich normalerweise mit dem Schuss entladen hätte, es nun aber nicht kann: 
"Hunter brüllt. [...] Es ist kein Schrei des Entsetzens oder des Mitleids, sondern der Urschrei eines Raubtiers, das um seine Beute gebracht wurde: tierische Raserei."

In dieser Gemütsverfassung macht ihm van Heeren ein Angebot: Ob Hunter schon mal von den Big Six gehört habe? Worum es sich bei der sechsten Beute handelt, schockiert den erfahrenen Jäger zunächst: Sein Freund spricht von der Jagd auf einen Menschen. Genauer: auf einen jungen Mann, der zu einem Stamm gehört, der einst von den Kolonialherren vertrieben wurde, und den man nun 're-integriert' hat. Hunter müsste eine enorm hohe Gebühr bezahlen, die dem Stamm zugute käme: Mit dem Geld wäre es möglich, einen anderen, begabteren jungen Mann zur Ausbildung in die USA zu schicken und von seinem Wissen zu profitieren, wenn er danach (hoffentlich) zurückkehrt. Der Getötete jedoch würde auf eine Weise überleben wie die Tiere, die Hunter White bereits geschossen hat: als Trophäe, die in die USA reist.

Hunter ringt mit sich und diesen Regeln, die die Einheimischen jedoch offenbar normal finden: Das Wohl der Gemeinschaft steht über dem des Einzelnen. Diese Mechanismen waren ihm bislang neu, denn: "Für ihn ist Afrika ein großes Naturreservat, von Gott geschaffen, um ihm Freude zu bereiten; dass dort auch Menschen leben, richtig leben, hat er nie bewusst realisiert. [...] Afrika ist sein Vergnügungspark, sein Jagdgebiet. Mehr nicht."

Der Roman nimmt ab dem Moment Fahrt auf, in dem Hunter van Heerens Angebot annimmt. Aber die Jagd auf den jungen Mann, bei der er ausgerechnet von dessen bestem Freund begleitet wird, der ihm als Fährtenleser zur Seite stehen soll, nimmt einen ganz anderen Verlauf, als es sich Hunter vorgestellt hat. Er wird unmittelbar mit der Wildheit der Natur konfrontiert und zweifelt immer wieder an seiner Wahrnehmung. Spätestens hier wird Trophäe zum Pageturner.

Lesen?

Gaea Schoeters bettet den Konflikt, der durch die Rahmenbedingungen der Großwildjagd entsteht, sehr gekonnt in ihre Geschichte ein: ein Lebewesen muss durch die Jagd getötet werden, damit seine Art mithilfe der Lizenzeinnahmen erhalten werden kann. Dieses Prinzip auf den Menschen zu übertragen, ist im Zusammenhang mit der Romanhandlung brutal, aber konsequent: ein Leben für ein anderes, damit die Stammesgemeinschaft überleben kann. 

Gleichzeitig hält die Autorin ihren Leserinnen und Lesern den Spiegel vor: Afrika als homogenen Kontinent zu betrachten, in dem alle Menschen auf irgendeine Weise gleich arm und unterentwickelt sind und das Land überall vertrocknet ist, ist eine typische Sichtweise der früheren Kolonialherren, die sich bis in unsere Zeit gehalten hat. Dass die Fläche Afrikas etwa drei Mal und die Einwohnerzahl fast doppelt so groß sind wie die Europas, ist hier wahrscheinlich kaum jemandem bewusst. Alles wird in einen Topf geworfen: Zwischen Ägypten (größte afrikanische Volkswirtschaft) und Burundi (ärmstes Land des Kontinents) wird aus unserer Warte kaum ein Unterschied gemacht. Damit sind wir hinsichtlich unseres Wissensstandes auf einer Stufe mit Hunter White. 

Trophäe ist 2024 in der deutschen Übersetzung von Lisa Mensing im Paul Zsolnay Verlag erschienen und kostet als gebundenes Buch 24 Euro sowie als E-Book 17,99 Euro.

Freitag, 5. Juli 2024

# 442 - Verkaufte Zukunft

Wenn es um die Klimakrise geht, liest man eine Menge
Meinungsäußerungen. Nicht alle sind von Kenntnis geprägt, sondern eher von so etwas wie Bauchgefühl oder Partikularinteressen - das passende Stichwort ist hier 'Lobbyismus'.

Das Buch Verkaufte Zukunft des Soziologen und Direktors des Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsordnung Jens Beckert ist eine Ausnahme. Der Wissenschaftler zieht hier alle argumentatorischen Register, wenn er der Gesellschaft den Spiegel vorhält. Mit dem Untertitel Warum der Kampf gegen den Klimawandel zu scheitern droht wird klar, in welche Richtung die Reise in die Zukunft geht. Beckert verfällt jedoch nicht in ein Wehklagen, sondern präsentiert Fakten. In neun Kapiteln sucht er Antworten auf seine zentrale Frage: Warum sind Gesellschaften nicht in der Lage, dem Klimawandel Einhalt zu gebieten?

Das Buch vermittelt ein Verständnis von Mechanismen, die in unserem Gesellschaftssystem dafür verantwortlich sind, dass sinnvolle Maßnahmen zur Erreichung der Klimaziele nur schleppend oder gar nicht umgesetzt werden. Dabei sollte man doch meinen, dass die Sachlage für die meisten Menschen klar ist: Die Ursachen für die Klimakrise sind bekannt, die Möglichkeiten, sie aufzuhalten, auch. Aber trotz ambitionierter Klimakonferenzen und selbst gesteckter Ziele, die Emissionen von klimaschädlichen Treibhausgasen drastisch abzumildern, werden diese Ziele nicht erreicht und für andere Dinge geopfert: für die nächsten Wahlen oder die anstehenden Unternehmensbilanzen. So verstreicht wertvolle Zeit, die Zukunft wird regelrecht verkauft - unsere, die unserer Kinder und Enkelkinder sowie aller weiteren Generationen.

Das Problem ist die Struktur unserer Gesellschaftsordnung: Die Politik braucht rasche Erfolge, anderenfalls werden ihre Repräsentanten nicht wiedergewählt; der Erfolg von Unternehmen wird an ökonomischen Kennzahlen gemessen, allen voran am Gewinn. Maßnahmen, die gut für den Klimaschutz wären, haben jedoch einen großen Nachteil: Sie wirken langfristig. Erfolge sind erst Jahre oder Jahrzehnte später zu erkennen. Bis dahin sind die Politiker und Unternehmenschefs von heute nicht mehr aktiv, vielleicht leben sie sogar nicht mehr. Die Folgen dieser Missachtung von sinnvollen Maßnahmen werden sowohl von ihnen als auch den Bürgern "übersehen" oder klein geredet. Schon auf den ersten Seiten schreibt Beckert: "Meine diesbezügliche These lautet schlicht: Die Macht- und Anreizstrukturen der kapitalistischen Moderne und ihre Steuerungsmechanismen blockieren eine Lösung des globalen Problems namens Klimawandel." Und: "Der kurzfristige Gewinn aus der Vermeidung von Klimakosten übersteigt den gegenwärtigen Nutzen zukünftiger Klimasicherheit."

Derzeit wird aber eher aufgeschoben als aktiv gehandelt: Die Rettung der Erde wird an die nächsten Regierungen oder Firmenlenker delegiert. Doch auch die Bürgerinnen und Bürger sind kaum besser: Die Mehrheit bejaht zwar, dass die Klimakrise unsere Welt bedroht, sobald jedoch Klimaschutzmaßnahmen zu Preissteigerungen führen oder die eigene Bequemlichkeit leidet, regen sich Widerstand und Ablehnung. Schon Appelle, sich im Alltag klimabewusster zu verhalten, werden als Einschränkung der persönlichen Freiheit wahrgenommen. Das ähnelt dem sog. Sankt-Florian-Prinzip: "Heiliger Sankt Florian / verschon mein Haus, zünd and're an."

Lesen?

Jens Beckert zeigt nicht nur mit dem Finger auf die Probleme, sondern skizziert auch, wie Lösungen aussehen können. Eins steht fest: Es ist kompliziert. Es sollte in den Industrienationen darum gehen, einen grünen Kapitalismus zu schaffen - schon deshalb, weil sich der Kapitalismus als Gesellschaftssystem nicht abschaffen lässt. Das Vermeiden von Emissionen muss für Unternehmen zu einem wirtschaftlichen Erfolg führen - wie wir bereits gelernt haben, ist der derzeit praktizierte Handel mit Emissionszertifikaten dafür nicht geeignet.

Der Autor verschweigt nicht das Dilemma, in dem sich der globale Klimaschutz befindet: Arme Länder, die bislang nur einen geringen Anteil an der Klimakrise haben, müssen, wenn sie z. B. auf fossile Rohstoffvorkommen stoßen und diese ausbeuten wollen, fair behandelt werden. Beckert führt beispielhaft die Demokratische Republik Kongo an, die für die Ölförderung Regenwald abholzen und so einen wirtschaftlichen Aufschwung erleben will. Ausgerechnet das Land mit den weltweit zweithöchsten Treibhausgas-Emissionen, die USA, verlangt, keine Förderlizenzen zu vergeben. Beckert resümiert: "Die Ungleichheiten der globalen Arbeitsteilung führen zu einer unfassbaren Verlogenheit in der Klimadebatte, bei der die Länder des globalen Südens für den Raubbau  an ihrer Natur verantwortlich gemacht werden, obwohl der Nutzen davon zu großen Teilen dem globalen Norden zugutekommt, der zudem den Raubbau mit seiner Technologie und seinem Finanzkapital erst ermöglicht."

Verkaufte Zukunft enthält viele Fakten und Argumente, die immer wieder in öffentlichen Diskussionen genannt werden. Doch Beckerts "Rundumschlag" ermöglicht ein umfassendes Bild über den aktuellen Stand des schwach ausgeprägten Eifers, die Klimakrise abzumildern. Davon, dass sie gestoppt werden könnte, geht er nicht aus. Eine Erwärmung der Erde um 2° C hält er für das wahrscheinlichste Szenario.

Das Buch ist auch für Laien sehr gut verständlich, die Argumente sind gut nachvollziehbar. Wahrscheinlich auch deshalb wurde der Titel für den Deutschen Sachbuchpreis und den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert.

Verkaufte Zukunft ist 2024 im Suhrkamp Verlag erschienen und kostet als gebundene Ausgabe 28 Euro sowie als E-Book 23,99 Euro,





Freitag, 28. Juni 2024

Happy birthday to Inas Bücherkiste

Heute Vormittag fiel mir ein, dass ich die Bücherkiste
irgendwann im Juni 2015 gestartet habe. Mit einem Buch, das ich immer noch gut finde: Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war von Joachim MeyerhoffUnd wann war das genau? Am 15. Juni 2015. Vor fast zwei Wochen ist mein Blog also neun Jahre alt geworden, und ich habe das verpasst. Das ist mir leider nicht zum ersten Mal passiert.

Aber sollte meine Dösigkeit ein Grund sein, diesen Geburtstag jetzt komplett abzuhaken? Ich finde: nein.

Ich will jetzt aber nicht schreiben, welche von den bislang über 440 vorgestellten Büchern ich am allerbesten fand und welche eher ein Fall für den Schredder sind. Das machen schon andere Leute im Fernsehen, und ich kann nicht sagen, dass ich das besonders gelungen finde. Beim Lesen soll es um die Lust an der Sache gehen; ich glaube nicht, dass diese Lust steigt, wenn in der Buchszene präsente Menschen das  Lieblingsbuch einiger Leserinnen und Leser mit dem Etikett "Schund" versehen. 

bloggdeinbuch.de und die Plagiate

Rund um die Bücherkiste gab es ein paar Begebenheiten, die es wert sind, erzählt zu werden. Manchmal war das Buchbloggen nämlich ein Kommen und Gehen.
Im Frühling 2012 wurde die Bloggerplattform bloggdeinbuch.de ins Leben gerufen. Dahinter stand der kaum ältere Verlag EPIDU, der sich selbst als Web 2.0-Verlag bezeichnete: Leserinnen und Leser konnten mitbestimmen, welche Bücher veröffentlicht werden. Über bloggdeinbuch.de konnten Verlage gegen eine Gebühr ihre Neuerscheinungen für Rezensionen anbieten. Drei Jahre später berichtete der Gründer, dass schon 160 Verlage an diesem Modell teilnehmen. 
Viele Publikationen, die sich mit Themen aus der Buchbranche beschäftigen, haben über das Start-up berichtet. Die Grundstimmung war durchweg positiv. Ein paar Jahre später war bloggdeinbuch.de Geschichte. Mein letzter Kontakt war im Sommer 2017, das letzte Lebenszeichen gab das Portal auf Twitter im Januar 2019 von sich. Mir ist das erst später aufgefallen, obwohl ich immerhin sieben Bücher, die ich über bloggdeinbuch.de bekommen hatte, in der Bücherkiste vorgestellt habe.

Mit der Rezension eines Buches, das ich von bloggdeinbuch.de erhalten hatte, habe ich dann zum ersten Mal erlebt, dass meine Texte plagiiert wurden. Die Bücherkiste war erst ein Dreivierteljahr alt, als mir auffiel, dass eine andere Bloggerin zwei Drittel meiner Rezension unverändert in ihre eigene eingefügt hatte. Nach meinem Hinweis wurde sie von der Plattform aufgefordert, ihren Text zu ändern, was sie auch getan hat.
Fast zeitgleich hatte eine andere Bloggerin ein Buch rezensiert, das ich direkt vom Autor bekommen hatte. Sie hatte sich zwar die Mühe gemacht, den einen oder anderen meiner Sätze ein bisschen umzubauen, aber die "Abschreiberitis" war klar zu erkennen. Auf meine freundlich formulierte Bitte, ihre Rezension in ihren eigenen Worten zu verfassen, reagierte sie schnippisch und forderte mich auf, meine Anschuldigung zurückzunehmen. Hat es Sinn, da noch länger zu diskutieren? Nein, hat es nicht. Ich habe den Fall einem Fachanwalt geschildert, der die Bloggerin aufgefordert hat, ihren Text zu ändern oder zu löschen. Sie hat sich fürs Löschen entschieden. Da ich vom Anwalt nie eine Rechnung bekommen habe, gehe ich davon aus, dass die Bloggerin diese bezahlt hat. Ihren Blog gibt es immer noch, es werden aber nur unregelmäßig Artikel veröffentlicht.
Auf den ersten Blick könnte man mein Verhalten zickig finden. Aber zu diesem Zeitpunkt habe ich auch bezahlt geschrieben, indem ich Websites betextet habe. Meine Blogs waren damals ein Teil meiner Selbstpräsentation. Außerdem bestraft Google sogenannten Duplicate Content mit der Herabstufung der primär rankenden Seite - also in diesem Fall meiner.

Indipendent-Publishing - interessante Jahre und die Insolvenz 

Im Juni 2015 kündigte der Harenberg Verlag an, in seine Branchenzeitschrift "buchreport-magazin" erstmals einen Schwerpunkt zum Thema 'Indipendent Publishing' aufzunehmen. Der sog. "Indie-Katalog" wurde von der Website indie-publishing.de flankiert. Die Redaktion nahm Kontakt zu Bloggern auf, die nicht nur die Titel der großen Publikumsverlage rezensierten, sondern eben auch die von unabhängigen Verlagen, die es deutlich schwerer haben als ihre großen Mitbewerber, auf dem Buchmarkt sichtbar zu werden. Der "Indie-Katalog" beschränkte sich jedoch nicht auf diese Zielgruppe, sondern bot auch Selfpublishern die Möglichkeit, ihre Bücher zu präsentieren. Etliche meiner Rezensionen wurden dort abgedruckt, wie zum Beispiel hier

Das Rezensieren von Büchern, die nicht in der Mainstream-Welle mitschwammen, hat mir viel Spaß gemacht. Die angebotenen Rezensionsexemplare waren ein guter Querschnitt durch alle Genres. Doch Anfang 2019 wurde es plötzlich still. Auf meine Nachfrage teilte mir ein Mitarbeiter des Indie-Katalogs mit, dass man an einem tollen neuen Konzept arbeite und man die Zusammenarbeit mit Bloggern "vorerst" einstelle. Aus dem "vorerst" wurde der Tod des Indie-Katalogs. Was Jahre zuvor so positiv und euphorisch angekündigt worden war, verschwand sang- und klanglos von der Bildfläche. 

Vielleicht war das der Anfang vom Ende des Harenberg-Verlags. Ich weiß es nicht. Der Verlag meldete im Dezember 2023 Insolvenz an. Seit 1971 hatte er für den SPIEGEL die Bestsellerliste erstellt. Nach über 50 Jahren war es damit plötzlich vorbei. Nun werden die Bestsellerlisten von der Buchhandels-Genossenschaft eBuch erstellt und in der Zeitschrift "BuchMarkt" veröffentlicht.

Blogsterben?

Etwa zu dem Zeitpunkt, in dem ich hier meiner Bücherkiste Leben eingehaucht habe, sind auch sehr viele andere Buchblogs entstanden. Ich habe keine Ahnung, was diese "Gründungswelle" ausgelöst hat, aber der Trend war nicht zu übersehen. Ich bin damals einigen Blogs, die mich interessierten, über die Blogroll gefolgt. Nach ein oder zwei Jahren habe ich aber festgestellt, dass ich diese verlinkte Leseliste überarbeiten muss: Die meisten Blogs existierten gar nicht mehr, der anfängliche Schwung der lesebegeisterten Bloggerinnen und Blogger ist nach relativ kurzer Zeit auf der Strecke geblieben. Jetzt, während ich diesen Text schreibe, fällt mir auf, dass ich mir meine Blogroll mal wieder ansehen muss. Die Liste ist bereits auf nur sechs unterschiedliche Blogs geschrumpft. Vier davon sind passiv, ein Foto-Blogger postet nur noch alle paar Monate einen Beitrag, nur eine Buchbloggerin lädt regelmäßig ihre Rezensionen hoch.

Mir fallen Buchblogs ein, die vor Jahren in den sozialen Netzwerken eine Nische besetzt haben und nach meinem Eindruck damit erfolgreich waren. Auch sie existieren nicht mehr.

Woran liegt das? Ich kann da nur spekulieren. Vor einigen Jahren wurde unter Buchbloggern diskutiert, ob es anrüchig ist, mit dem Veröffentlichen von Rezensionen Geld zu verdienen. Auf den Social-Media-Plattformen wurde diese Frage rauf und runter besprochen. Viele bezogen sich auf Kosmetik-, Mode-, Koch- oder Reiseblogger, die bei ausreichend hoher Reichweite mit guten Einnahmen rechnen konnten - und es noch immer können. Da stand dann die kulturell-ethische Fraktion der ökonomischen gegenüber, eine Einigung konnte es nicht geben. Ich selbst habe für mich keine klare Antwort gefunden, ob es in Ordnung ist, mit einem Buchblog Einnahmen zu erzielen. Das Buch wie ein sakrosanktes Kulturgut zu behandeln, finde ich allerdings übertrieben. Möglicherweise gab es Buchblogger, die auf Einkünfte gehofft haben, dann jedoch nur Kosten hatten. 

Das wird aber nur einige Buchbloggerinnen und -blogger zum Aufgeben gebracht haben. Was für Blogleser nicht zu erkennen ist, ist der Aufwand, der hinter jedem Beitrag steckt.
Zuerst muss das Buch natürlich gelesen werden. Bei schmalen Bänden reichen ein paar Stunden, bei dicken und/oder anspruchsvollen Büchern vergehen Tage von der ersten bis zur letzten Seite. Dann wird am Blogtext gefeilt. Das kann dauern und hängt auch von der Tagesform ab. Was nicht vergessen werden darf: Das Bloggen ist für mich wie wahrscheinlich die Mehrheit der Buchbloggerinnen und -blogger ein Hobby. Ich bin im Gegensatz zu manchen anderen Buchbloggern wirtschaftlich nicht mit der Literaturbranche verbunden. Das heißt aber auch, dass ich niemandem nach dem Mund reden muss und in der Auswahl der vorgestellten Titel frei bin. Das ist sicher ein großes Plus. Aufgrund dieser Freiheit entscheide ich auch über die Art, wie ich die Bücher präsentiere. Ich möchte, dass sie im Mittelpunkt stehen und der Blick aufs Buch nicht von Dekoartikeln abgelenkt wird. Meine Bücherkiste ist keine Unterabteilung von "Schöner Wohnen", da muss kein Vorhang oder Blumenstrauß auf die Farben des Covers abgestimmt sein.

Die Zahl der kunstvoll arrangierten Buchfotos dürfte in den letzten Jahren aber zugenommen haben. Viele Buchblogger betreiben entweder parallel zu ihrem klassischen Weblog Accounts auf Social-Media-Kanälen oder sind komplett zu ihnen abgewandert. Während 2015 Facebook weit vorn lag, findet man heute viele Buchblogger bei Instagram, Pinterest und TikTok. Diese Portale haben gemeinsam, dass sie visuell ausgerichtet sind. Der Rezensionstext spielt, wenn es überhaupt einen gibt, nur eine Nebenrolle. Häufig reichen dann drei Sätze und fünf Hashtags, um einen Post zu erstellen. Wenn ich dann Kommentare wie "geiles Cover" lese, weiß ich, dass ich falsch bin. Ich erkenne dann weder in den Buch-Posts noch in den Kommentaren eine Liebe zum Buch.

Ich habe auch Social-Media-Accounts bei InstagramX (Ex Twitter) und Threads. Sie dienen dazu, den eigentlichen Buchblog zu bewerben. Was ich vor neun Jahren für überflüssig gehalten habe, scheint heute der einzige Weg zu sein, Aufmerksamkeit zu erzeugen. Die Folge: Die Social-Media-Aktivitäten kosten weitere Zeit. Zeit, die ich im Grunde lieber mit dem Lesen oder anderen Dingen verbringen möchte.

Messen und Kontakte

Buchbloggen kann man natürlich im stillen Kämmerlein im Schein einer Kerze betreiben, das Glas Rotwein immer in Reichweite. Aber wer will das schon?

Zum Bloggerleben gehörte für mich auch der Besuch der Buchmessen in Frankfurt und Leipzig. Es war schön, sich mit anderen Bloggerinnen (ja, die große Mehrheit der Buchblogger ist weiblich) auszutauschen und Kontakte mit Verlagen zu knüpfen. Mein Schwerpunkt lag dabei auf unabhängigen Verlagen; die großen Publikumsverlage haben ohnehin viel Aufmerksamkeit. Doch mein letzter Messebesuch war im April 2023 auf der Leipziger Buchmesse. Danach habe ich beschlossen, nicht mehr zu großen Messen zu gehen. Als Mensch mit Mobilitätseinschränkung habe ich die Besuche in den überfüllten Hallen als extrem anstrengend empfunden, auch mit einem Elektro-Scooter. Es war der nackte Stress, trotz der Unterstützung meiner jeweiligen Begleitung. In Leipzig kam 2023 noch die nicht vorhandene Steuerung auf den Parkplätzen hinzu, was mich trotz meines Presseausweises stundenlang von der Veranstaltung ausschloss. 

Der Kontakt mit den Verlagen hat unter meiner Messe-Abwesenheit allerdings gelitten, was ich sehr schade finde. Physisch präsent zu sein ist dort offenbar wichtiger als ich dachte. Hier nutze ich die Gelegenheit, mich insbesondere beim Verlag Donata Kinzelbach, dem Polar Verlag sowie dem Anthea Verlag für die gute Zusammenarbeit zu bedanken.
Zu einzelnen Buchbloggerinnen gibt es noch eine Verbindung. Aber wahrscheinlich haben alle Dinge ihre Zeit.

Mir macht das Buchbloggen immer noch Spaß und ich bin gespannt, was ich bis zum zehnten Geburtstag der Bücherkiste noch erleben werde. Wenn ich ihn nicht wieder vergesse...



Montag, 24. Juni 2024

# 441 - Eine wahre Geschichte über den Jazz als Propagandamittel des Dritten Reichs

Jazz galt für die Nationalsozialisten als entartete Kunst. Das hielt sie jedoch nicht davon ab, ihn im 2. Weltkrieg für ihre Propaganda zu benutzen. Genauer: eine Propaganda gegen Großbritannien, in der vor allem Premierminister Winston Churchill und dessen Kriegspolitik aufs Korn genommen wurden. Der Radiointendant Adolf Raskin schlug dem Propagandaministerium deshalb 1940 ein Paket von drei Maßnahmen vor, die einander jeweils unterstützen sollten: eine Radiosendung mit dem Namen Germany Calling, eine in dieser Sendung auftretende Jazzband und eine wohlwollende Publikation, für die ein bislang unbekannter Schweizer Schriftsteller ausgewählt wurde. Dieser propagandistische Dreiklang war an dem ausgerichtet, was man im Ministerium für angelsächsischen Geschmack hielt.

Was seltsam klingt, hat so tatsächlich stattgefunden. Der Schweizer Autor und Archäologe Demian Lienhard hat die Begebenheit in seinem Roman Mr. Goebbels Jazzband aufgegriffen und sich dabei eng an die historischen Fakten gehalten. Zu diesen Fakten gehört auch, dass man es bei der Auswahl der Bandmitglieder mit deren Herkunft nicht so genau nahm und auch jüdische oder homosexuelle Musiker einstellte. Die Motive, bei Charlie and His Orchestra - wie die Band damals hieß - dabei zu sein, reichten von der Verbesserung des Einkommens bis zur Hoffnung, möglichst lange vom Kriegsdienst verschont zu bleiben.

Für die Moderation der Radiosendung setzte man auf größtmögliche Authentizität und wählte den faschistischen irisch-britischen Kommentator William Joyce aus. Er ging seinem Auftrag mit einem so großen Eifer nach, dass es in Großbritannien eine Fangemeinde gab.
Das kann über den Schriftsteller Fritz Mahler nicht gesagt werden. Er verstand seine Abreise aus der Schweiz nach Berlin und seinen ungewöhnlichen Auftrag sowohl als eine Flucht vor seinem Vater, von dem er sich bevormundet fühlte, als auch die Chance auf den schriftstellerischen Erfolg, den er sich so sehr wünschte.

Die dem Buch seinen Titel gebende Jazzband spielt hier jedoch nicht die Hauptrolle. Lienhard legt den Schwerpunkt auf den Kollaborateur Joyce sowie den Möchtegern-Autor Mahler. Ersterer ist mit seinem unsteten Lebenswandel und einem auf ihn wartenden Henker, noch bevor er 40 Jahre alt wird, eine historisch ziemlich traurige Figur
Mahler wird als Person beschrieben, die sich einredet, sich über den Inhalt des beauftragten Buches ständig Gedanken zu machen, aber in Wahrheit die personifizierte Unstrukturiertheit und der wandelnde Selbstzweifel ist. Es vergehen drei Jahre, in denen Mahler komplett unproduktiv ist und sich auf Kosten des Propagandaministeriums in Bars, Kneipen und Restaurants aufhält - zu Recherchezwecken, versteht sich.

Lesen?

Demian Lienhard hat sich einem Thema gewidmet, das mir bislang unbekannt war. Dass man es mit den selbst aufgestellten Kriterien, wie ein für die "deutsche Rasse" wertvoller Mensch auszusehen habe, in der eigenen Führungsriege nicht so genau nahm, ist bekannt: Joseph Goebbels haftete wegen seiner geringen Körpergröße und seines Klumpfußes der Spitzname "Schrumpfgermane" an, der 1934 auf Befehl von Adolf Hitler ermordete SA-Führer Ernst Röhm war homosexuell.
Wenn es der eigenen Sache diente, waren auch Menschen gut genug, die man unter anderen Umständen als "unwert" eingestuft hätte.

Das hätte jedoch in Mr. Goebbels Jazzband jedoch auch etwas gestraffter dargestellt werden können. Auch der Schreibstil ist mit seinen oft sehr langen Sätzen und geschraubten Formulierungen gewöhnungsbedürftig. Erst zum Schluss, im Nachwort des Berner Staatsarchivars Dr. phil. Samuel Tribolet, in dem dieser süffisant über Lienhards dortige Nachforschungen berichtet, heißt es zu meiner Überraschung: "Unter diesen Materialien befand sich auch das uns damals nicht näher bekannte, unvollendete Typoskript eines Romans mit dem Titel 'Mr. Goebbels Jazzband', den Lienhard nun auf den vorangehenden Seiten erstmals der Öffentlichkeit zugänglich macht." Damit soll vermutlich der teilweise antiquiert wirkende Stil erklärt und die Handlung zu einem Ende gebracht werden.
Aber stammt dieses Nachwort tatsächlich von Staatsarchivar Tribolet oder hat sich Lienhard die Freiheit genommen, ihn als fiktive Person und Stilmittel einzusetzen? Das bleibt unklar; auf der Website des Berner Staatsarchivs findet sich zumindest kein Mitarbeiter mit diesem Namen.

Mr. Goebbels Jazzband ist 2023 bei der Frankfurter Verlagsanstalt (FVA) erschienen und kostet als gebundene Ausgabe 24 Euro, als E-Book 18,99 Euro sowie als Hörbuch 9,95 Euro.

Der Roman wurde 2023 für den Schweizer Buchpreis nominiert.

Sonntag, 16. Juni 2024

# 440 - China, wer bist du?

Mehr als 7.000 Kilometer Luftlinie liegen zwischen der
deutschen Hauptstadt Berlin und der chinesischen Hauptstadt Peking. Was wir von hier aus über das "Reich der Mitte" wahrnehmen: große Wirtschaftsmacht, viele Einwohner, einen seine Macht stetig ausbauenden
 Präsidenten Xi Jinping, starke Überwachung der Bevölkerung, chinesisches Porzellan, Buddhismus. Wir glauben, durch die vielen chinesischen Restaurants in Deutschland die chinesische Küche zu kennen, und erinnern uns, wenn wir alt genug sind, an das Foto von Mao Tse-Tung, der mit seiner diktatorischen Politik das Land von 1949 bis 1973 beherrschte, was - je nach Schätzung - 40 bis 80 Millionen Menschen den Tod brachte.

Was wir nicht wissen: Wie geht es der chinesischen Bevölkerung heute? Was ist den Menschen wichtig, worauf legen sie Wert - oder worauf nicht?
Diese Fragen und insbesondere die, was Chinesinnen und Chinesen unter Glück verstehen, hat sich auch die Schriftstellerin und Glücksforscherin Simone Harre gestellt. Innerhalb von fünf Jahren hat sie in mehreren Interviewreisen zahlreiche Gespräche mit Frauen und Männern zwischen Peking im Norden und Yangshuo im Süden der Volksrepublik geführt. 50 dieser Interviews hat sie in ihrem Buch China, wer bist du? versammelt. Ganz überwiegend kommen hier Männer zu Wort; nur zehn Frauen haben mit Simone Harre über ihre Vorstellung vom Glücklichsein gesprochen. Die Gründe für dieses Ungleichgewicht bleiben unerwähnt.

Harre ahnte, dass es nicht so einfach sein würde, Interviews zum Thema Glück in Gang zu bringen. Darum hat sie als "Türöffner" zu Beginn der Unterhaltungen zwei Fragen gestellt:
Welche Blume möchtest du sein? und Ist das Glas halb voll oder halb leer?

Für viele der Interviewten war das Gespräch mit der Autorin sehr herausfordernd, weil diese ihnen Fragen stellte, die sie sich selbst nie gestellt hatten. 

Harre ist es gelungen, Interviewpartnerinnen und -partner aus allen Gesellschaftsschichten zu finden. Von der Straßenverkäuferin über den Taxifahrer bis zum Chefkoch oder Professor stehen ihr die unterschiedlichsten Menschen Rede und Antwort. Die Mehrzahl der Befragten lebt in einer Großstadt, einige jedoch auf dem Land. Auffällig ist die hohe Zahl der Hochschulabsolventen, die allerdings nach ihrem Uni-Abschluss nicht unbedingt im selben Bereich, den sie studiert haben, arbeiten. Auffällig ist auch, wie viele Menschen auf verschiedenen Gebieten gleichzeitig tätig sind und das Scheitern von Unternehmen nicht mit Versagen und Resignation gleichsetzen. Die übliche Haltung ist eher: Wenn dieses Projekt nicht funktioniert, dann vielleicht ein anderes. Eine Einstellung, die für uns ungewohnt ist.

Zahlreiche Gesprächspartner haben in ihrer Kindheit und Jugend in tiefster Armut gelebt, viele sogar gehungert. Das betrifft vor allem die Generation der um 1970 Geborenen. Diese hat die kollektive Erfahrung gemacht, dass Fleiß und Erfolg sehr wichtig sind. Selbstverwirklichung kommt in ihrem Denken nicht vor.
Neben dem beruflichen Erfolg ist die Familie von großer Bedeutung. Zu heiraten und eine Familie zu gründen wird von den eigenen Eltern und der Gesellschaft zwar weniger strikt erwartet als noch vor etwa zwanzig Jahren, ist aber trotzdem als sehr erwünschter Teil des Lebens verankert. Individualismus, wie wir ihn aus unserem westlichen Selbstverständnis kennen, steckt in China noch in den Kinderschuhen.

Die Familie ist auch ein Ersatz für den praktisch nicht vorhandenen Sozialstaat. Wer in eine Notlage gerät und weder Geld noch helfende Angehörige hat, hat ein Problem. Die Vorstellung von sozialer Verantwortung beschränkt sich folgerichtig auf die eigene Familie.

Lesen?

Simone Harre ist es gelungen, die Menschen zum Nachdenken über sich selbst zu bringen - was eine besondere Leistung ist, da Selbstreflexion in der chinesischen Gesellschaft nicht verankert ist.
Es gelingt ihr, ein authentisches Bild von den Menschen zu zeichnen und uns so einen ungewöhnlichen Einblick in die "Seele" des Riesenreichs zu ermöglichen. 

China, wer bist du? ist allen zu empfehlen, die sich abseits der üblichen Reiseführer ein Bild vom heutigen China machen wollen. Ich bin mir sicher, dass viele überrascht sein werden, inwieweit alte Traditionen im modernen China noch eine Rolle spielen.

Die sehr schöne Aufmachung macht das positive Bild komplett: Der Einband besteht aus starker Pappe, zu jedem Interview gibt es mindestens ein Porträtfoto der befragten Person. Dafür wurde das Buch 2020 beim Wettbewerb der Stiftung Buchkunst "Die schönsten deutschen Bücher" mit der Silbermedaille ausgezeichnet.

China, wer bist du? ist 2020 im Verlag Reisedepeschen Berlin erschienen und kostet 26 Euro.


Samstag, 8. Juni 2024

# 439 - Ich bin Anna Freud

Mit Ich bin Anna hat der Autor und Psychiater Tom Saller einen Roman geschrieben, der sich intensiv mit dem Leben von Anna Freud, der jüngsten Tochter des Psychoanalytikers Sigmund Freud, beschäftigt.

Anna ist das sechste Kind von Sigmund und Martha
Freud. Ihr Vater ist bei ihrer Geburt 1895 bereits 39 Jahre alt und hat wie seine Frau nicht mehr mit einem weiteren Kind gerechnet. Martha Freud lässt ihre Tochter spüren, dass sie das überzählige Kind ist. Anna ist kränklich und wird dafür von einer ihrer Schwestern gehänselt, die der Liebling der Eltern ist. Doch sie ist stärker, als ihre Familie glaubt: Sie arbeitet gegen das Klischee der Jüngsten an und macht mit 17 Jahren ihr Abitur. Danach wird sie Lehrerin. Anna ist das einzige der Freud-Kinder, das sich für die Arbeit des Vaters interessiert. Da sich Sigmund Freud wünscht, dass sein Werk fortgesetzt wird, schlägt er Anna vor, von ihm in die Psychoanalyse eingeführt zu werden.

Ein schwieriger Patient, Ludwig Stadlober, wird 1917 das Anschauungsobjekt, an dessen Behandlung Sigmund Freud seine Tochter teilhaben lassen will. Der junge Deutsche war als Soldat bei einem Senfgasangriff schwer an den Augen verletzt worden, was seine Kriegsbegeisterung allerdings nicht geschmälert hat. Stadlober hat eine temporäre Blindheit, die bislang von keinem Arzt geheilt werden konnte. Der junge Mann glaubt zwar nicht an die Psychoanalyse, aber Sigmund Freud ist seine letzte Hoffnung. Durch die Arbeit mit dem Deutschen gelangt Sigmund Freud zu der Erkenntnis, dass seine eigene Theorie der Libido als zentrale Triebkraft unvollständig ist, und er stellt dem Liebes- den Todestrieb an die Seite.

Stadlober nimmt ohne es zu ahnen eine Position zwischen Anna Freud und ihrem Vater ein. Anna beginnt, sich von ihrem übermächtig scheinenden Vater abzunabeln, und verabredet sich hinter dessen Rücken mit seinem Patienten. Sie ist 22 Jahre alt und hat noch nie Kontakt zu jungen Männern gehabt, die nicht ihre Brüder waren. Stadlober interpretiert die heimlichen Treffen als Annäherungsversuche und ist gekränkt, als sich Anna nach einer Tuberkulose-Erkrankung zurückzieht und die Bekanntschaft nur noch als Brieffreundschaft fortsetzen will. Sie ist sich nicht darüber im Klaren, ob eine Beziehung zu einem Mann in ihrem Leben Platz hat. Stadlober wird durch Annas Entschluss in eine tiefe Krise gestürzt; sein Selbstmordversuch bleibt glücklicherweise erfolglos. Doch Anna kann mit ihren Empfindungen, die sie während der Treffen mit Stadlober hatte, nicht umgehen, und bittet ihren Vater, sie zu therapieren.

Lesen?

Ich bin Anna beleuchtet das Leben von Anna Freud, soweit es die zur Verfügung stehenden Quellen zugelassen haben. Tom Saller hat die Figur des Ludwig Stadlober erfunden und weiß von der Therapie, der sich Anna bei ihrem Vater unterzogen hat, nur aus Andeutungen. Später sollte allerdings klar werden, warum es ihr nicht gelang, zu einem Mann eine romantische Beziehung aufzubauen.

Saller verfolgt Anna Freuds Leben bis zu Flucht der jüdischen Familie vor den Nationalsozialisten nach London im Jahr 1938. Sie ist ihrem Vater bis zu seinem Tod eine Stütze, obwohl ihr schon lange klar war, dass ihre zwischenzeitlich verstorbene Schwester dessen Lieblingskind gewesen ist.

Tom Sallers Roman ist ungewöhnlich aufgebaut: Anna und Sigmund Freud kommen in identisch nummerierten Kapiteln abwechselnd zu Wort und beschreiben die jeweiligen Situationen aus ihrer eigenen Sicht. So ist es möglich, in die Gedanken der beiden einzutauchen und sich ein umfassendes Bild zu machen.

Ich bin Anna ist ein interessanter Roman, der erklärt, wie aus der unterschätzten jüngsten Freud-Tochter eine angesehene Psychoanalytikerin und die Begründerin der Kinderanalyse wurde.

Ich bin Anna ist 2024 im Kanon Verlag erschienen und kostet gebunden 24 Euro sowie als E-Book 21,99 Euro.


Montag, 27. Mai 2024

# 438 - 16 Bundesländer, 16 Berge: ein Radiomoderator auf Wanderschaft

Der gebürtige Bayer Achim Bogdahn moderiert seit
mehr als 30 Jahren beim Bayerischen Rundfunk verschiedene Radiosendungen und ist wahrscheinlich einer der größten Fans von TSV 1860 München. Diese drei Merkmale - Herkunft, Fußballfan und die Art der "Schreibe" - durchziehen sein Buch Unter den Wolken - Meine Deutschlandreise auf die höchsten Berge aller 16 Bundesländer wie ein Roter Faden.

Eine Zeitungsmeldung gab für Bogdahn den Ausschlag für sein Projekt: 2016 las er, dass der unter dem Spitznamen "Brocken-Benno" bekannt gewordene Benno Schmidt seit dem 3. Dezember 1989, dem Tag der Öffnung der Brockenmauer, zum 8000. Mal den höchsten Berg Sachsen-Anhalts besteigen wollte. Und das am geschichtsträchtigen 3. Oktober. Der Plan, nicht nur den Brocken, sondern alle höchsten Berge der Bundesländer zu erwandern, war geboren.

Bis zur Umsetzung dauerte es jedoch etwas. Bogdahn hatte nämlich nicht vor, allein unterwegs zu sein. Außerdem wollte er möglichst klimafreundlich reisen und plante, sich Übernachtungsmöglichkeiten per Couchsurfing, also für lau, zu organisieren.
Hinter dem Anspruch des klimafreundlichen Reisens konnte er mit dem Kauf einer BahnCard 100 einen Haken machen.
Bei den Begleiterinnen und Begleitern sollte es sich nicht um Krethi und Plethi, sondern bekannte Persönlichkeiten, die ihr Bundesland repräsentierten, handeln. Das ist Bogdahn gelungen: In Niedersachsen wanderte beispielsweise die frühere Bischöfin Margot Käßmann mit ihm auf den Wurmberg, für die Erklimmung des namenlosen Bergleins in Bremen (32,50 Meter Höhe) konnte er den früheren Bürgermeister Henning Scherf gewinnen, für die Bezwingung des Langenberges in NRW (843,50 Meter) bekam er die Unterstützung des langjährigen Geschäftsführers des Fußball-Bundesligisten Borussia Dortmund, Hans-Joachim Watzke.

Die neunte Wanderung auf den Wurmberg Anfang Februar 2020 fand noch unter normalen Bedingungen statt. Im fernen China gab es irgendein geheimnisvolles "Corona-Virus", aber keine Anzeichen für die Probleme, die auf die Welt in den nächsten Jahren zukommen sollten.
Wanderung Nummer 10 im Mai 2020 führte Bogdahn auf den Brandenburger Kutschenberg. Er wurde von der Bundestagsabgeordneten Anke Domscheit-Berg begleitet, die beiden nutzten die Zeit der Lockerungen nach der ersten Corona-Welle. Planung und Durchführung aller Wanderungen wurden nun jedoch grundsätzlich durch die Pandemie erschwert. 

Lesen?

Unter den Wolken ist vor allem eines: entspannte Unterhaltung. Um die eigentlichen Erhebungen geht es zwar auch, aber sie sind nur ein Vehikel, um Kontakt zu bekannten Personen herzustellen und rund um die Wanderungen Geschichten zu erzählen, die damit rein gar nichts zu tun haben. Da bricht dann Bogdahns langes Berufsleben als Radiomoderator durch, das ihm einen lockeren Sprachstil und ein für sein Anliegen hilfreiches Netzwerk beschert hat.

Viel Raum nehmen neben seinen persönlichen Anekdoten die Schilderungen des Wanderwetters sowie der meistens sehr langen Bahnfahrten ein. München liegt nun mal in Deutschland sehr dezentral, sodass sich so manche Fahrt wie eine Reise ans Ende der Welt anfühlt. Dieser Eindruck wird noch durch die bekannte "Zuverlässigkeit" der Deutschen Bahn unterfüttert und den Umstand, dass zahlreiche Orte aus Kostengründen vom Bahnnetz abgehängt und oft sogar mit anderen öffentlichen Verkehrsmitteln schlecht oder gar nicht erreicht werden können. 

Erst die letzte Wanderung führt Bogdahn dann im Juli 2021 gemeinsam mit Felix Neureuther auf den bayerischen Hausberg, die Zugspitze. Auf den ersten dreieinhalb Seiten lässt er als Bayer Bayern hochleben. Danach wird die Bedeutung der Zugspitze für Bayern erläutert: Man lernt, dass sich das Zugspitzmassiv zu zwei Dritteln auf österreichischem Gebiet befindet und darum nur vom höchsten Gipfel (!), nicht aber höchstem Berg (!) Deutschlands gesprochen werden kann.
Dann wird Felix Neureuther sehr ausführlich vorgestellt und seine Beliebtheit und Bekanntheit beschrieben. Wie in jedem der vorangegangenen Kapitel geht es dann eine ganze Weile um die Erlebnisse und Beobachtungen während der Anreise mit Bahn und Bus. Zum eigentlichen Wandern kommt es nur kurz: Den "Aufstieg" bewältigen die beiden Männer mit der Seilbahn. Erst die letzten Meter bis zum Gipfelkreuz, die man mithilfe einiger Eisensprossen und entlang eines gesicherten Grats überwinden muss, sind die Herausforderung des Tages. Ähnlich kurz kommen auch die anderen jeweils höchsten Erhebungen weg. 

Mir hatte die Idee gefallen, alle höchsten Berge in den 16 Bundesländern zu besuchen, ich habe aber offenbar eine andere Erwartung gehabt, wie ein Buch darüber aussehen könnte: mehr Inhaltliches von der Umgebung der Erhebungen, ein paar Anekdoten vielleicht, mehr über ihre Bedeutungen für die Menschen, die Landschaft, die Gegend,...
Wahrgenommen habe ich, dass die Berge Mittel zum Zweck waren, eine Projektionsfläche für den Autor. 
Mir ist auch unverständlich, warum man ohne einen dringenden Grund während einer Pandemie in öffentlichen Verkehrsmitteln durch die Republik reisen und bei fremden Menschen übernachten muss. Während der Zugfahrt ins sächsische Fichtelgebirge im Oktober 2020 beobachtet Bogdahn im Zug eine Mitreisende: "Eine rothaarige Frau um die vierzig hustete Stakkato und machte alle nervös." Es hat eben jeder andere Prioritäten.

Unter den Wolken - Meine Deutschlandreise auf die höchsten Berge aller 16 Bundesländer ist 2022 im Heyne Verlag erschienen und kostet gebunden 22 Euro, als Taschenbuch 14 Euro sowie als E-Book 12,99 Euro.

Samstag, 18. Mai 2024

# 437 - Das, was am Ende von uns übrig bleibt - Kodokushi in Japan

Der Roman Oben Erde, unten Himmel der österreichischen Schriftstellerin Milena Michiko Flašar ist eines der sensibelsten Bücher, das mir in der letzten Zeit untergekommen ist. Flašar stellt ein gesellschaftliches Phänomen in den Mittelpunkt, das nicht nur in Japan, wo die Handlung angesiedelt ist, sondern auch in vielen anderen Industrienationen thematisiert, aber oft nicht ernst genug genommen wird: die Einsamkeit.

Aber ist es nicht ganz einfach, der Einsamkeit zu entfliehen, wenn man in Vereine eintritt, sich gesellschaftlich engagiert oder auf andere Weise mit Menschen in Kontakt kommt? Wenn es so banal wäre, gäbe es keine einsamen Menschen mehr. 

Milena Michiko Flašar hat sich in ihrem Buch einer besonderen Form der Einsamkeit gewidmet, für die es in Japan seit den 1980-er Jahren einen eigenen Begriff gibt: Kodokushi, den einsamen Tod. In Japan versteht man darunter das Versterben von Menschen, die über Wochen oder sogar Jahre von niemandem vermisst werden. 

Die 25-jährige Suzu ist grundsätzlich eine heiße Kodokushi-Kandidatin. Sie ist introvertiert und in einem Maße sozial inkompetent, dass sie ihren Aushilfsjob in einem typischen japanischen Familienrestaurant verliert.
Gleich zu Beginn charakterisiert sie sich treffend selbst: "Ich bin gerne allein. Und eigentlich hat sich daran auch nichts geändert. Nach wie vor bin ich kein Mensch, der viel Gesellschaft um sich braucht. Anders als früher brauche ich jedoch welche, und die Erkenntnis, dass dem so ist, hat meinem Leben eine neue Richtung gegeben." 

Auf einen Schlag hat sie nun kein Einkommen mehr. Ihre Eltern, die auf dem Land leben, um Hilfe zu bitten, kommt nicht infrage: Suzu war für ein Studium, das sie nach kurzer Zeit abgebrochen hatte, in die Großstadt gezogen. Das und die Tatsache, noch immer keinen heiratswilligen Partner zu haben, sind genug Enttäuschungen, die sie ihnen zugemutet hat. Eine weitere will Suzu nicht hinzufügen.

Wenn es nicht ihren Hamster Punsuke gäbe, der auf ihre Fürsorge angewiesen ist, wäre jetzt wohl der Zeitpunkt gekommen, an dem sich Suzu aufgegeben und womöglich einen einsamen Tod gestorben wäre. Aber die Verantwortung bringt sie dazu, sich nach einer neuen Stelle umzusehen. Das erste (und einzige) Vorstellungsgespräch bringt sie in die Reinigungsfirma von Herrn Sakai. Suzu begreift erst nach und nach, worauf sich dessen Unternehmen  spezialisiert hat: Der Chef reinigt mit seinem Team die Wohnungen von Verstorbenen, die erst nach langer Zeit entdeckt wurden. Wenn der Trupp kommt und seine Arbeit beginnt, sind die Leichen nicht mehr da, wohl aber die Spuren, die sie hinterlassen haben. Für diese Arbeit braucht man einen starken Magen und ein dickes Fell.

Für Suzu ist klar, dass sie diesen Job nur so lange machen wird, bis sie etwas Besseres gefunden hat. Doch sie fragt sich, wer sie wohl vermissen würde, wenn sie stürbe. Wann würde ihr Tod bemerkt werden?
Die Monate gehen dahin, und sie merkt, dass sie nicht nur wegen des Geldes zur Arbeit geht, sondern dort Teil einer Gemeinschaft geworden ist. Das ist vor allem Herrn Sakai zu verdanken, der seine Firma nicht nur ökonomisch, sondern auch hinsichtlich des sozialen Miteinanders zusammenhält. 

Die neuen Kontakte zu anderen Menschen führen bei Suzu zu ihr völlig neuen Einsichten. Angespornt von einem gleichaltrigen Kollegen steigt sie auf das Flachdach ihres Mehrfamilienhauses, von dem aus sich ihr das Panorama auf ihre Nachbarschaft offenbart: nicht einfach nur eine Ansammlung von Fassaden und Dächern, sondern Szenen aus den Leben der Menschen um sie herum. Bis zu diesem Tag kannte sie in diesem Haus nur den Weg von der Haustür bis zu ihrer Wohnung.
Aber dann gibt es in Herrn Sakais Firma eine Nachricht, die Suzu aus der Bahn werfen könnte. 

Lesen?

Ich habe die Antwort darauf gleich zu Beginn vorweggenommen. Oben Erde, unten Himmel ist ein durch und durch empathisches Buch, das von großer Kenntnis der japanischen Kultur zeugt. Das ist kein Wunder, denn Flašars Mutter ist Japanerin. Die Autorin hat in ihrer Kindheit mehrere Sommer in Japan verbracht und reist jedes Jahr für einige Wochen in das Land. 

Oben Erde, unten Himmel gehört zu den Büchern, die so berühren, dass man sie nach der letzten Seite nicht einfach beenden und das nächste Buch beginnen kann.

Oben Erde, unten Himmel ist 2023 im Verlag Klaus Wagenbach erschienen und kostet gebunden 26 Euro sowie als E-Book 22,99 Euro.

Nachtrag: Die Japanerin Miyu Kojima hat selbst als Reinigungskraft in einer Firma, die sich um die Wohnungen einsam Verstorbener kümmerte, gearbeitet. Irgendwann kam ihr die Idee, deren Wohnungen so, wie sie vorgefunden worden waren, im Kleinformat nachzubilden. Wer mehr darüber wissen will: hier entlang.

Freitag, 10. Mai 2024

# 436 - Die Krise und der Schatz

Quelle Foto: Verlagsbuchhandlung Liebeskind 
Die Welt ist voller Krisen, die sich geradezu zu stapeln
scheinen. Zahlreiche Menschen empfinden diese Entwicklung als Bedrohung, und viele von denen, die es sich leisten können, lassen sich in ihre Eigenheime private komfortable Bunker für den Ernstfall einbauen - wie immer der am Tag X aussehen mag. Doch was ist mit den Leuten, die ebenfalls Angst, aber weniger Geld haben?

Segismundo García II. ist der Erzähler in dem Roman Ein sicherer Ort des spanischen Schriftstellers Isaac Rosa und hat für sie die Geschäftsidee: Er bietet ihnen den Einbau eines "Sicheren Ortes" an. Dafür eignen sich mehr Gebäudeteile als man ahnt: Segismundo empfiehlt hierfür nicht nur mit Gerümpel vollgestellte Kellerabteile oder Garagen, sondern auch winzige, mit einer Holzklappe abgedeckte Erdlöcher. Wo ein Wille ist, sollte auch ein Weg sein.
Die Nachfrage ist da, aber um seine Idee erfolgreich umzusetzen, braucht Segismundo vor allem Geld. Geld, das er nicht hat und ihm die Bank nicht geben wird. Denn: Sein Vater, Segismundo "der Große", hatte sich mit Billig-Zahnkliniken einst von ganz unten nach ganz oben gearbeitet, die Firmendaten etwas aus dem Blick verloren und war wegen Betrugs zu einer Gefängnisstrafe verurteilt worden. Ein sozialer Absturz, von dem er sich nicht mehr erholen sollte und der auch das Leben seiner Frau und seines Sohnes aus der Bahn warf. Wer also "Segismundo García" in eine Suchmaschine eingibt, findet zunächst Artikel über die kriminellen Machenschaften des alten Mannes. Der Name ist verbrannt.

Vor seinem Haftantritt hatte Segismundo I. allerdings vorgesorgt und einen Teil des ergaunerten Geldes versteckt. Mittlerweile wurde er zwar entlassen und lebt in einer Wohnung in Madrid, aber seine Demenz hat ihn seine Vergangenheit vergessen lassen. Er wird von einer Pflegerin rund um die Uhr betreut und ist als alter Mann so freundlich, wie er es früher nie war. Hoffnung geben dem Sohn jedoch die spontanen Gänge des Vaters durch die Straßen der Hauptstadt: Segismundo II. hofft, dass sein Vater sich irgendwann an das Geldversteck erinnert und damit unwissentlich die Geldprobleme seines Sohnes und Enkels löst. Ein Peilsender am Handgelenk des Seniors verrät, welche Route er nimmt.

Segismundo III. ist noch Schüler und ebenso schlitzohrig wie Vater und Großvater. Als noch genug Geld da war, hat man ihn auf eine Privatschule geschickt, um ihm die Chance auf ein gutes und erfolgreiches Leben zu geben. Doch Segis, wie er von seinem Vater genannt wird, investiert seine Zeit lieber in Sportwetten und sammelt von seinen reichen Mitschülern Wetteinsätze ein. Aktuell befindet er sich jedoch wie sein Vater in Schwierigkeiten und braucht wie er dringend Geld.

Lesen?

Isaac Rosa greift sehr gekonnt die Ängste auf, die Teile der Gesellschaft umtreiben: Der Wunsch nach dem sozialen Aufstieg geht Hand in Hand mit der Angst vor dem Abstieg; die allgemeine Panikmache befördert die Sorge, es könnte zu Ereignissen kommen, die die Menschheit ins Elend stürzen oder gar auslöschen. Rette sich, wer kann.

Diesen Ängsten wird in diesem Roman entweder mit dem egoistischen Einbunkern oder mit dem Gegenteil, einer auf Zusammenhalt und Kooperation basierenden Gesellschaft, die Segismundo II. spöttisch als "Tonkrügler" bezeichnet, begegnet. Er erzählt seinem dementen Vater in der seltenen "Du-Form" seine Sicht auf dessen Leben und nimmt dabei kein Blatt vor den Mund. Am Ende schimmert so etwas wie Versöhnlichkeit gegenüber dem alten Vater durch - oder ist es Resignation?

Ein sicherer Ort ist 2022 in der Originalausgabe unter dem Titel Lugar Seguro erschienen und wurde in der deutschen Übersetzung von Luis Ruby 2024 von der Verlagsbuchhandlung Liebeskind herausgebracht.
Der Roman kostet als gebundenes Buch 24 Euro und als E-Book 18,99 Euro.