Ein junger Mann ist die Hauptperson des Romans Reichskanzlerplatz von Nora Bossong: Die fiktive Figur des Hans Kesselbach, 1907 geborener Sohn eines im Ersten Weltkrieg schwer verwundeten Generals, übernimmt die Rolle des Erzählers. Durch Kesselbachs Augen wird die Geschichte von Johanna Maria Magdalena Behrend erzählt, die unter dem Namen Magda Goebbels bis heute bekannt ist.
Magda Goebbels wurde 1901 als uneheliche Tochter eines Dienstmädchens und eines Bauunternehmers geboren. Nach einer kurzen Ehe ihrer Eltern heiratete die Mutter später den wohlhabenden jüdischen Kaufmann Richard Friedländer. Friedländer adoptierte die achtjährige Magda, sodass diese von da an seinen Nachnamen trug.
1920 lernte Magda Friedländer zufällig den deutlich älteren verwitweten Industriellen Günther Quandt kennen. Da der Protestant keine Frau mit einem jüdisch klingenden Namen heiraten wollte, nahm sie übergangsweise den Namen ihres leiblichen Vaters, Ritschel, an, ehe sie 1921 durch ihre Heirat den Namen Quandt bekam. Ihr Ziel war der soziale Aufstieg, Quandts Antisemitismus war für sie kein Ehehindernis. Eine Äußerung, die Nora Bossong Magdas Stiefsohn Hellmut in den Mund legt, bringt es auf den Punkt:
Sie wechselt so oft ihren Namen und ihren Glauben, sagte Hellmut, was weiß ich, was sie in Wirklichkeit ist. Vermutlich kann sie das nicht mal selbst sagen. Weißt du, sagte er leise, Mama hätte gemerkt, dass Madame Quandt auch unseren Namen nur wie eine Maske trägt.
Hans Kesselbach lernt Magda in einer Zeit kennen, in der sie bereits mit Quandt verheiratet ist, sich an dessen Seite jedoch langweilt. Magda hatte sich mit ihrer Heirat nicht nur den sozialen Aufstieg, sondern auch ein aufregenderes Leben versprochen. Ihr Mann war jedoch vor allem an seinem Unternehmen interessiert.
Hans hat sich mit Quandts gleichaltrigem Sohn Hellmut angefreundet, mit dem er in derselben Schulklasse ist, und erhält durch seine Besuche in dessen Elternhaus Einblick in das Leben der Oberschicht. Hellmuts Mutter ist die erste Ehefrau Günther Quandts, die 1918 an der Spanischen Grippe verstarb.
Hans verliebt sich in Hellmut und sucht seine Nähe. Doch er registriert, dass Hellmut und Magda viel Zeit miteinander verbringen. Hellmut ist in der lieblosen Ehe mit Günther Quandt Magdas Halt. Als die beiden 1927 gemeinsam nach Paris reisen, erkrankt Hellmut an einer Blinddarmentzündung und verstirbt in einem Krankenhaus.
Hans nimmt 1927 nach seinem Militärdienst ein Jurastudium auf. Es beginnt die Zeit, in der er heimlich abends an den Wochenenden seine Homosexualität in den Büschen des Berliner Tiergartens auslebt. Sexuelle Handlungen unter Männern waren nach § 175 Strafgesetzbuch bereits seit 1871 strafbar. Das Verbot wurde erst im Juni 1994 abgeschafft.
Diese Heimlichkeit bestimmt auch in den nächsten Jahren sein Leben, und so ist es für beide von Vorteil, dass Hans Magdas Geliebter wird: Er kann von seiner Homosexualität ablenken und sie sich von ihrer unglücklichen Ehe. 1929 wird die Ehe geschieden und Magda bezieht eine Wohnung am Reichskanzlerplatz in Berlin. Dank des üppigen Unterhalts ihres Ex-Mannes führt sie ein angenehmes Leben. In ihrer Wohnung trifft sich die deutsche Wirtschafts- und Politprominenz.
Als die Affäre beendet ist, gerät Magda sowohl für Hans als auch die Leserinnen und Leser aus dem Fokus. Seine berufliche Laufbahn im diplomatischen Dienst richtet er danach aus, sich so weit wie möglich von der Berliner Politik und der Wehrmacht zu entfernen. Hans lebt seine Sexualität weiter heimlich aus und sieht das Erstarken des Nationalsozialismus' sehr kritisch. Doch er ist ein Mitläufer, der es versteht, das System für sich zu nutzen und Probleme zu umschiffen.
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In Reichskanzlerplatz beschreibt Nora Bossong zwei verschiedene Arten von Opportunisten: Hans will keinen Ärger und laviert sich mit Lügen und Täuschungen durch sein Leben. Die Gräuelmeldungen über die Judenverfolgung redet er klein. Dazu passt, dass er sich von einem jüdischen Bekannten abwendet, als der ihn verzweifelt um Hilfe bittet. Magda hingegen hat keine gefestigten Überzeugungen: Obwohl ihr Stiefvater Jude war und ihre erste große Liebe ein jüdischer junger Mann gewesen ist, passt sie ihr öffentliches Verhalten an das antisemitische Gedankengut der Nationalsozialisten an. Magda geht es allein um ihren gesellschaftlichen Aufstieg, für den sie alles andere hintanstellt.
Magda Goebbels historische Bedeutung wird leider kaum herausgearbeitet. Sie wirkt wie eine vom Wunsch nach Höherem angetriebene Frau, die sich im Glanz eines bedeutenden Mannes sonnen und so beachtet werden will. Es bleibt unklar, was sie zu der lieblosen Frau gemacht hat, die eine große Liebe erlebt hat, danach die Männer aber nur aus nüchternem Kalkül auswählte. Woran sich die Nachwelt vor allem erinnert, ist der Mord, den sie an ihren sechs Kindern, die sie gemeinsam mit Joseph Goebbels hatte, begangen hat.
Bossong schildert die historische Entwicklung Deutschlands von einer Demokratie mit großen wirtschaftlichen Problemen zu einer faschistischen Diktatur wie die Hintergrundmusik zur eigentlichen Romanhandlung. Alles, was die monströsen Untaten dieses Regimes ausgemacht hat, wird nur angedeutet. Das Wort "Konzentrationslager" fällt nur einmal, die Lage der Zwangsarbeiter, die für das Unternehmen Quandt in Hannover Akkumulatoren herstellen mussten, wird nur angerissen.
Reichskanzlerplatz ist ein unterhaltsamer Roman, dem es aber an manchen Stellen an Tiefe fehlt. Das Buch war auf der Longlist des Deutschen Buchpreises 2024.
Reichskanzlerplatz ist 2024 im Suhrkamp Verlag erschienen und kostet 25 Euro.