Dienstag, 4. Februar 2025

# 465 - Aus der Krise entsteht ein Buch: Joachim Meyerhoffs Rettung durch seine Mutter

Mit Man kann auch in die Höhe fallen hat der
Schauspieler und Autor Joachim Meyerhoff sein sechstes Buch veröffentlicht. In allen seiner Bücher geht es um seine Eltern, seine Brüder und ihn selbst. Seine Partnerinnen sowie die gemeinsamen Kinder werden zwar nicht verschwiegen, kommen aber nur am Rande vor.

In diesem Buch beschränkt sich Meyerhoff nun fast ausschließlich auf seine Mutter Susanne und sich selbst. Eine schwere Lebenskrise bringt ihn mit Mitte fünfzig zu dem Entschluss, seine in Berlin lebende Familie vorübergehend zu verlassen und bei seiner 86-jährigen Mutter, die allein in einem Haus mit großem Grundstück in Schleswig-Holstein an der Ostsee lebt, Unterschlupf zu suchen. In der ländlichen Ruhe hofft er, wieder zu sich selbst zu finden und sein Leben in den Griff zu kriegen.

Der Krise sind ein Schlaganfall, die Unzufriedenheit als Schauspieler und der ungeordnet wirkende Umzug vom geliebten Wien ins unruhige Berlin vorausgegangen. Meyerhoff schreibt in Episoden, die sich mal mit seinen teilweise skurrilen Erlebnissen auf deutschen Theaterbühnen und mal mit dem Mutter-Sohn-Leben an der Ostsee beschäftigen. Wer mindestens eines der vorangegangenen Bücher gelesen hat, wird den selbstironischen Tonfall und trockenen Humor wiedererkennen.

Joachim und Susanne Meyerhoff werkeln zusammen im Garten, baden gemeinsam in der Ostsee oder tun Dinge, die Mutter Meyerhoff spontan in den Sinn kommen. Das abendliche Zusammensitzen mit einem Glas Whisky in der Hand ist ein Ritual, bei dem sich gute Gespräche ergeben. Joachim Meyerhoff beschreibt seine Mutter als eigenwillige Person, die nach dem Tod ihres Mannes aufgeblüht ist und sich um Konventionen keine Gedanken macht. Auch in Situationen, die befremdlich wirken, kommt seine Mutter letztendlich noch gut weg.

Mit sich selbst geht der Autor in seinem Buch weniger schonend um. Wenn Meyerhoff Szenen aus seinem Leben Revue passieren lässt, macht das Gelesene teilweise ratlos. Oft steht er sich selbst im Weg und findet aus Alltagssituationen, die anders als geplant verlaufen, keinen sinnvollen Ausweg. Er beobachtet an sich eine erhöhte Reizbarkeit, die er für eine Folge des Schlaganfalls hält und seinen Alltag verkompliziert. Sein Nervenkostüm ist so dünn, dass Meyerhoff vor einer Lesung in einer Lübecker Buchhandlung eine Panikattacke erleidet. Die Lesung wird durch seine Mutter gerettet, die diese Aufgabe trotz fehlender Erfahrung mit Bravour meistert.

Meyerhoff verbringt zehn Wochen bei seiner Mutter, ehe er sich in der Lage fühlt, nach Berlin zu seiner Partnerin und seinem jüngsten Sohn zurückzukehren. In dieser Zeit hat er die Texte für Man kann auch in die Höhe fallen fertig gestellt, was ihm in Berlin nicht möglich gewesen war.

Lesen?

Man kann auch in die Höhe fallen liest sich ebenso flüssig wie seine Vorgänger. Bei einigen Anekdoten aus Meyerhoffs Leben als Schauspieler kann man sich wegen ihrer Absurdität fragen, ob sie tatsächlich wahr oder einfach gut erfunden sind.

Das Buch hat einen hohen Unterhaltungswert, aber (zu) oft beschleicht einen das Bedürfnis, den hilflos wirkenden Autor an die Hand zu nehmen und zu sagen: "Komm, mien Jung, ick helpe di."

Rührend und zugleich bedrückend ist Meyerhoffs Fazit seiner Aus-Zeit, das er seiner Mutter gegenüber kurz vor seiner Abreise zieht:
"Seit Jahren habe ich das Gefühl, dass sich etwas zuzieht, Mama, dass ich in etwas Dunkles hineingerate. Ich versuche ununterbrochen alles, um es abzuwenden. Mich zu wappnen und stark zu bleiben. Ich versuche, für alle da zu sein. [...] Aber die Zeit bei dir, die hat mich gerettet. Es geht mir wirklich viel besser. Ich werde am Theater kündigen. [...] Es geht einfach nicht mehr, das hab ich jetzt begriffen. Durch dich. Danke, Mama."

Dass ihr Sohn, als seine Mutter mit einem Bekannten spontan zu einer Reise aufbricht und er zwei Wochen allein in ihrem Haus ist, beim Gedanken an ihren Tod von Verlustängsten geradezu überrollt wird, weiß sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht.

Man kann auch in die Höhe fallen ist 2024 im Verlag Kiepenheuer & Witsch erschienen und kostet 26 Euro sowie als E-Book 22,90 Euro.

Hinweis: Aus Meyerhoffs Buchreihe wurden in meiner Bücherkiste Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war (der erste Beitrag dieses Blogs!) und Alle Toten fliegen hoch - Teil 1: Amerika besprochen.

Sonntag, 26. Januar 2025

# 464 - Vom Heidedichter bis zur Schäferromantik mit Fehlern

2014. Jannes Kohlmeyer ist neunzehn Jahre alt und
lebt mit seinen Eltern und seinem Großvater auf einem alten renovierungsbedürftigen Hof in der Lüneburger Heide, einer Landschaft zwischen Hannover und Hamburg. Wie schon Generationen vor ihm ist er Schäfer, während seine ältere Schwester dieses Leben nicht wollte und nach Frankfurt gezogen ist.

Die Heide: Das ist Stille, Nebel und Einsamkeit im Winter und lila blühende Heideflächen und Touristenströme im Sommer. Ohne die Touristen geht wirtschaftlich schon lange nichts mehr, so nervtötend sie manchmal auch sind. Die Ruhe wird vor allem von den Detonationsgeräuschen unterbrochen, die vom Testgelände des Waffenherstellers Rheinmetall in Unterlüß stammen und das Sinnbild für den Roman Von Norden rollt ein Donner von Markus Thielemann sind. Das nahe Munster ist mit seinen Kasernen der viertgrößte Standort der Bundeswehr und trägt zu einer sehr speziellen Atmosphäre bei. Dazwischen ist der Luftwaffenstützpunkt Faßberg, der Ort verdankt seine Entstehung den Nationalsozialisten. Der Schäferhof der Kohlmeyers liegt zwischen Unterlüß und Faßberg.

Auf den ersten Blick versinkt das Leben der Familie im stetigen Einerlei, das sich nur den Jahreszeiten anpasst. Aber schleichend bahnen sich Veränderungen an, die Jannes nicht beeinflussen kann: Seine im Pflegeheim wohnende demente Oma baut stetig ab und redet in Fragmenten immer wieder über ein Ereignis, was von ihrem Mann abgewiegelt und von Jannes' Mutter mit Unverständnis kommentiert wird. 
Jannes' Stiefvater Friedrich ist augenscheinlich ebenfalls auf dem Weg, dement zu werden und versucht diesen Zustand zu kaschieren, indem er sich mit vollem Eifer einem neuen Thema widmet: Seit einiger Zeit gibt es in der Heide angeblich wieder Wolfsichtungen und Risse. Die Gegend um den Kohlmeyerschen Hof ist nicht betroffen, aber man kann ja nie wissen...

Das Vertrauen der Landbevölkerung in die Lokal- und Landespolitiker ist bei nahe null, deshalb entsteht der Plan, das Wolf-Problem selbst in die Hand zu nehmen. Das Repertoire reicht dabei von Mahnfeuern bis zur Überlegung, den heimischen Waffenschrank zu öffnen. Bei den Aktionen sind vor allem Friedrich und der neue Nachbar Karl Röder ganz vorn mit dabei. Wie nebenbei fällt Jannes das seltsame Verhalten und die Lebensart der Familie Röder auf, beides lässt sich am besten mit "völkisch" umschreiben. Friedrich blendet das allerdings aus.

Jannes Großvater lebt nicht nur auf, wenn es um die vermeintliche  Gefahr durch Wölfe geht, die seiner Meinung nach nicht auf die Heide gehören, sondern auch beim Erzählen von alten Geschichten. Am liebsten ist ihm die Erinnerung an seine Heldentat: Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg hat er einen Wolf erschossen und die Heide von diesem Räuber befreit. Aber stimmt das überhaupt? Jannes, der bislang jeden Tag nahm, wie er kam, wird aus mehreren Gründen hellhörig: Seine Oma erwähnt in ihren verwirrten Gedanken den Namen einer Frau, von der niemand sonst in der Familie etwas gehört haben will, und Jannes erscheint mehrmals eine verwahrloste Frau so authentisch, dass er beginnt, an seinem eigenen Verstand zu zweifeln. Gibt es ein Familiengeheimnis, das mit dem nahen KZ Bergen-Belsen und dessen Außenstelle Tannenberg in Altensothrieth zusammenhängt?

Lesen?

Von Norden rollt ein Donner ist ein Roman voller Metaphern und das Gegenteil der typischen Heimat-Romane, die eine Region idyllisch und oft verkitscht präsentieren. Hier geht es um menschliche Abgründe, politische Entwicklungen und lange gehütete Geheimnisse, die ans Licht kommen. Der Schönheit der Heidelandschaft tut das keinen Abbruch, und der im Buch vielzitierte und immer noch von vielen bewunderte Heideschriftsteller Hermann Löns wird in die Ecke gestellt, in die er gehört: weg von der verschrobenen Heimatromantik und hin zu der Erkenntnis, dass es sich bei ihm um einen Rassisten gehandelt hat.

Markus Thielemann arbeitet eindrucksvoll die Konflikte und Verwerfungen heraus, die sich in der Gesellschaft und in der Familie Kohlmeyer abzeichnen, ohne seine Leserinnen und Leser zu belehren. Ich konnte jedoch mit Jannes' Visionen wenig anfangen, die für mich so wirkten, als habe Thielemann ein Vehikel gebraucht, um eine Brücke in die Vergangenheit zu schlagen. 
Das Auftauchen von Familie Röder, die der damals noch jungen AfD nahesteht, wird nicht weiter vertieft und wirkt leider wie ein loses Ende. 
Unverständlich war, dass ausgerechnet der unter einer beginnenden Demenz leidende Friedrich das stärkste Engagement im Kampf gegen den Wolf gezeigt hat. Dadurch wurden Friedrichs Sorgen herabgesetzt, da zumindest seine Familie ihn immer weniger ernst genommen hat.

Diese Kritik beeinträchtigt den Gesamteindruck jedoch nicht in dem Maße, dass ich den Roman nicht empfehlen würde. Von Norden rollt ein Donner ist ein lesenswerter Roman, der nachdenklich macht.

Das Buch wurde 2024 im Verlag C. H. Beck veröffentlicht und kostet 23 Euro. Von Norden rollt ein Donner stand 2024 auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises.

Montag, 20. Januar 2025

# 463 - Tödlicher Wackelkontakt

Mit Wackelkontakt ist dem österreichischen Schriftsteller Wolf Haas ein ungewöhnlicher Roman gelungen. Das Ungewöhnliche: Ohne das Lesen eines bestimmten Buches käme die Handlung nicht voran.

Elio Russo ist ein Verräter. Der junge Mafioso aus Südkalabrien sitzt im Knast und wartet darauf, freigelassen zu werden. Er hat als Kronzeuge kurz zuvor siebenundzwanzig hochrangige Mitglieder der 'Ndrangheta verraten. Im Gegenzug wurde ihm eine neue Identität versprochen, um in Deutschland neu anfangen zu können.

Der leidlich erfolgreiche Trauerredner Franz Escher wartet in seiner Wohnung in Wien auf den Elektriker. Eine Steckdose in seiner Küche hat einen Wackelkontakt, der nun behoben werden soll. Der alleinstehende Escher hat zwei Leidenschaften: anspruchsvolle Puzzles - gern mit Motiven seines Namensvetters M. C. Escher - und das Lesen von Mafia-Romanen. Die Wartezeit auf den Handwerker zieht sich hin, deshalb beginnt Escher, ein neues Buch zu lesen. Es handelt von dem jungen Kriminellen Elio Russo aus Südkalabrien, der siebenundzwanzig hochrangige Mafiosi verraten hat und eine neue Identität bekommen wird. 

Elio Russo vertreibt sich im Gefängnis das Warten mit dem Lesen eines Buches, das er von seinem deutschen Zellennachbarn bekommen hat. Es geht um einen Mann namens Franz Escher, der zu Hause auf den Elektriker wartet. Als der Handwerker die defekte Steckdose repariert, kommt er ums Leben. Escher wird verzögert klar, dass dieser Tod seine Schuld ist. 

Wolf Haas verwebt zwei Handlungsstränge, die jedoch nicht unbedingt zeitlich parallel verlaufen. Die Leben zweier Männer, die einander nicht kennen und nichts gemeinsam haben, laufen trotzdem aufeinander zu. Das ist umso erstaunlicher, wenn man registriert, dass die Handlung im Leben des Franz Escher nur wenige Tage abdeckt, im Leben von Elio Russo, der nach einem vorgetäuschten Suizid zu Marko Steiner wird, jedoch viele Jahre vergehen.
Das von Escher gelesene Buch bleibt bei ihm, während Steiners Exemplar in andere Hände gerät und die Lesenden wie dieser den Fortgang der Ereignisse er-lesen. 
Letztlich wird die Handlung von Eschers Vorstellung vom Lauf der Zeit bestimmt. Wolf Haas lässt seinen Protagonisten diese Sätze sagen, die dessen Sichtweise auf den Punkt bringen: "Wir haben sowieso eine falsche Vorstellung von der Zeit. Unsere Vorstellung ist zu linear. Wir glauben, es geht in eine Richtung. Man muss es sich aber wie eine Schleife vorstellen."

Lesen?

Wackelkontakt ist ein sehr unterhaltsames Spiel mit der Zeit. Die Anspielungen auf den Künstler M. C. Escher und seine besonderen Werke sowie die Verschränkungen der Handlung machen das Buch zu etwas Besonderem. 

Der deutsche Schriftsteller Daniel Kehlmann hat im Dezember 2024 gegenüber dem Deutschlandfunk diesen passenden Kommentar abgegeben: "Ich bin sehr neidisch auf diese Grundidee. Ich denke mir, man, die hätte ich gerne gehabt, aber ich hatte sie nicht, was soll man machen."

Wackelkontakt ist 2024 im Carl Hanser Verlag erschienen und kostet 25 Euro sowie als E-Book 18,99 Euro.

Sonntag, 12. Januar 2025

# 462 - Wie Protest wirklich wirkt

Proteste gehören in unserer Gesellschaft zum Alltag.
Mit unterschiedlichen Methoden machen Menschen auf die verschiedensten Anliegen aufmerksam: Sie kleben sich auf Straßen und werfen Suppe auf Kunstwerke, um gegen die Passivität angesichts des Klimawandels zu protestieren, oder fahren auf Traktoren zu Demonstrationen, um laut- und PS-stark die Anliegen der Betriebe in der Landwirtschaft zu vertreten. Aber sind Proteste dazu geeignet unsere Gesellschaft zu verändern? In seinem Buch Was ihr wollt 
- Wie Protest wirklich wirkt sieht sich der Journalist Friedemann Karig die verschiedensten Protestbewegungen der letzten Jahrzehnte genauer an.

Die Mehrzahl der Menschen hat noch nie öffentlich gegen irgendetwas demonstriert. Die Motive sind vielfältig: Man vermutet zum Beispiel, dass man nicht genug Mitstreiter findet, Protest sowieso nichts bringt, man sich selbst nicht für den geeigneten 'Typ Mensch' hält oder schlicht zu bequem ist, um sich in einen Demonstrationszug einzureihen. Aber: "Umstürze und Umschwünge, Revolutionen und Revolten werden immer und ausschließlich von vielen Menschen getragen, von denen die wenigsten in irgendeiner Form herausstechen."

Karig zeigt jedoch auch Irrtümer auf, denen Menschen unterliegen, die mit etwas unzufrieden sind: Viele sind beispielsweise der Meinung, dass man erst einen großen Teil der Bevölkerung hinter sich bringen muss, um überhaupt etwas zu erreichen. Das ist jedoch eine falsche Annahme, wie u. a. die US-Bürgerrechtsbewegung mit ihrer Galionsfigur Martin Luther King zeigte: Bei 64 Prozent der US-Bürgerinnen und Bürger war King unbeliebt.

Karig erläutert an zahlreichen Beispielen, nach welchen Mechanismen Protest funktioniert, wie er effizient organisiert wird und was passieren muss, damit sich Menschen einem Protest anschließen. Angesichts von Fernsehbildern, die oft einen anderen Eindruck vermitteln, stellt Karig fest, dass "die allermeisten Bewegungen bewundernswert friedlich geblieben [sind], egal wie hart sie angegangen wurden." Friedliche Bewegungen waren sogar doppelt so erfolgreich wie gewalttätige.

Aber was muss passieren, damit wir uns einer Bewegung anschließen? "Erst wenn wir uns in einer Gruppe sicher fühlen, werden wir aktiv. Nur wenn wir glauben, es bringt etwas, bleiben wir dabei. Und nur wenn wir wirklich wütend sind über eine Ungerechtigkeit, bleiben wir hartnäckig genug, um etwas zu erreichen." Ebenfalls wichtig sind Vorbilder aus dem eigenen Umfeld, die uns den nötigen Schubs für ein Engagement geben.

Lesen?

Was ihr wollt - Wie Protest wirklich wirkt  zeigt auf, dass wir einem Missstand nicht ohnmächtig zusehen müssen. Die Methode des steten Tropfens, der den Stein höhlt, ist einer der Bausteine, die einen Protest zum Erfolg führen können. Und: Protest muss nicht nur auf der Straße stattfinden, sondern kann sich auch auf andere Ebenen verlagern, mit denen viele Menschen erreicht werden. Dabei zählt nicht nur seine Menge, sondern vor allem seine Qualität.

Mit Blick auf unsere aktuell in Deutschland geführten Debatten fiel mir dieser Satz auf: "Wer ein bestehendes Narrativ einer Gesellschaft herausfordert, macht sich zwangsläufig bei denen unbeliebt, die daran aus Überzeugung oder Opportunismus festhalten." Mir kommt das sehr bekannt vor.

Was ihr wollt - Wie Protest wirklich wirkt ist 2024 im Ullstein Verlag erschienen und kostet gebunden 22,99 Euro sowie als E-Book 18,99 Euro.

Freitag, 3. Januar 2025

461 - Das letzte Buch eines Nobelpreisträgers

Der Todestag des Literatur-Nobelpreisträgers Gabriel
García Márquez jährt sich im April zum elften Mal. Seine letzten Lebensjahre wurden von einer fortschreitenden Demenz geprägt. Kurz vor dem Ende seines Lebens schrieb er die letzte Fassung von Wir sehen uns im August, ein kurzes Werk von nur 63 Seiten. Das 2024 als Kurzroman herausgegebene Buch war ursprünglich dazu gedacht, Teil eines umfangreicheren Romans zu sein, der aus fünf Teilen bestehen und sich mit der Liebe älterer Menschen beschäftigen sollte. Wir sehen uns im August sollte eine dieser Erzählungen sein. 
1999 wurde der Text erstmals in der spanischen Tageszeitung El País abgedruckt.

Doch Gabriel García Márquez' hoher Anspruch an seine Arbeit verhinderte den Fortgang. Der Text wurde von ihm mehrmals geändert. García Márquez kämpfte dabei gegen seine schwindenden geistigen Kräfte an. Im Vorwort schreiben seine Söhne, die sich letztendlich für die Veröffentlichung nach einer erneuten Überarbeitung entschieden haben, wie ihr Vater dazu stand:
"Dieses Buch taugt nichts. Es muss vernichtet werden."

Als García Márquez-Fan mag ich so weit nicht gehen. Die Geschichte um Ana Magdalena Bach, die zu Beginn 46 Jahre alt, mit einem Dirigenten verheiratet und Mutter von zwei erwachsenen musikalisch begabten Kindern ist, ist berührend. Jedes Jahr im August besucht sie allein das Grab ihrer Mutter, die auf einer nicht benannten Insel in der Karibik bestattet ist. Jahrelang folgen diese Besuche einem festen Ablauf, doch dann lernt Ana Magdalena in ihrem Stammhotel einen allein reisenden Mann kennen. Die beiden kommen sich näher und schlafen am selben Abend miteinander. Das Gefühl, begehrt worden zu sein, erlischt schlagartig, als Ana Magdalena am nächsten Morgen allein in ihrem Hotelbett aufwacht und bemerkt, dass der Fremde einen Zwanzigdollarschein in das aktuell von ihr gelesene Buch gesteckt hat.

Trotz dieser Demütigung wird die Suche nach einem Mann für eine Nacht für sie in den nächsten Jahren fester Bestandteil der Aufenthalte auf der Insel. Das regelmäßige Fremdgehen wirkt sich jedoch auf ihre Ehe aus. Ana Magdalena hat außerdem den Eindruck, dass sich die Insel seit ihrer ersten Affäre jedes Jahr stärker wandelt. Auch ihrem Mann fällt das veränderte Verhalten seiner Frau auf, sodass Ana Magdalena befürchtet, dass ihr Geheimnis auffliegen könnte.

Der Schluss des Buches hält für die nun fast 50-jährige Frau eine überraschende Erkenntnis über ihre Mutter bereit.

Lesen?

Wir sehen uns im August ist ein guter Einstieg für alle, die bislang noch kein Werk von Gabriel García Márquez gelesen haben und sich einen ersten Eindruck von seinem Schreibstil verschaffen wollen.
Mir sind jedoch leider die Schwächen aufgefallen, die das Buch im Vergleich zu allen anderen Titeln des Autors hat: Manche Reaktionen sind nicht nachvollziehbar, wiederholt werden Erzählstränge nicht fortgesetzt, sondern verharren wie lose Enden in der Geschichte. Immer wieder blitzt das grandiose Erzähltalent des preisgekrönten Autors auf, und man spürt, dass da noch mehr hätte kommen sollen. Den Eindruck, ein unfertiges Buch in der Hand zu halten, wird man nicht los.

Die Hauptfigur Ana Magdalena Bach hat den fast identischen Namen der zweiten Ehefrau des Komponisten Johann Sebastian Bach. Wollte García Márquez eine Parallele herstellen und hat vergessen, den Gedanken fortzuführen? Oder hat er sich nichts dabei gedacht? Man wird es nicht mehr erfahren.

Wir sehen uns im August ist 2024 im Verlag Kiepenheuer & Witsch erschienen und kostet 23 Euro sowie als E-Book 19,99 Euro.

Freitag, 27. Dezember 2024

# 460 - Couchsurfing in der Ukraine während des Krieges

Warum macht man eine Couchsurfing-Reise in ein
Kriegsgebiet und setzt sich dem hohen Risiko aus, im Bett, im Supermarkt oder wo auch immer von einem russischen Geschoss oder einer einstürzenden Hauswand getötet zu werden? Und haben die Menschen in der Ukraine derzeit nichts Besseres zu tun, als einem deutschen Journalisten einen Schlafplatz in ihrer Wohnung inmitten einer Stadt, die zu einem großen Teil nur noch aus Trümmern besteht oder einem Dorf, in dem nur noch wenige Bewohner ausharren, zu ermöglichen?

Die erste Frage hat Stephan Orth in seinem Buch Couchsurfing in der Ukraine so beantwortet: "Erstens wohnt Julija in Kyjiw, wir sind seit gut einem Jahr zusammen." Und: "Ich möchte durch die Ukraine reisen und couchsurfen." 
Die Antwort auf die zweite Frage lautet: Die meisten Frauen und Männer, denen Orth begegnet ist, waren ihm gegenüber aufgeschlossen und hilfsbereit. Sie haben bereitwillig über ihr Leben vor und seit dem 24. Februar 2022 erzählt: ihre Ängste, ihre Hoffnungen und ihre Verluste.

Orth macht sich im April 2023 mit dem Zug auf den Weg nach Kyjiw. Durch seine Freundin hat er den Krieg vom ersten Tag an aus der Ferne miterlebt. Aber er will selbst sehen, was aus der schon seit vierzehn Monaten von Russland angegriffenen Ukraine geworden ist.

Was er in den folgenden fast acht Monaten erlebt, ist Gastfreundschaft unter erschwerten Bedingungen, ein unerschütterlicher Durchhaltewille und viel Optimismus. Orth startet in Kyjiw, von wo aus er sternförmig ins Land fährt und immer wieder zu seiner dort wohnenden Freundin zurückkehrt. Er beginnt im Westen im Karpatenvorland und wohnt bei den Trekking-Guides Polina und Roman, die ihn auf eine Wandertour in den Karpaten mitnehmen. Während einer Pause denkt Polina darüber nach, ob Menschen aus der Geschichte lernen oder sich Ereignisse in großen Abständen wiederholen: "Manchmal glaube ich, in jedem Land ist etwa alle achtzig Jahre ein großer Krieg möglich. Weil dann alle tot sind, die noch von dem vorherigen Krieg berichten können." Man blickt beim Lesen dieses Satzes unwillkürlich auf die Geschichte des eigenen Landes und die aktuelle Situation.

Stephan Orth besucht auch Charkiw, wo er von der Lehrerin Wiktorija erfährt, wie die russische Propaganda einen Keil zwischen sie und ihre in Russland lebende Verwandtschaft getrieben hat. Auch die eigene Mutter glaubt dem russischen Fernsehen mehr als den Berichten der Tochter.
Seine Gastgeberin Swetlana macht ihm deutlich, wie wenig sich die Menschen mittlerweile von Raketeneinschlägen beeindrucken lassen: "Unterrichten, leben, kochen, schlafen. Wenn eine Rakete im Nachbarviertel in einen Supermarkt einschlägt, gehe ich trotzdem am nächsten Tag einkaufen."

Orths weitere Ziele sind unter andrem die Oblast Lwiw, Poltawa, Odesa, Dnipro oder Saporischschja - Orte, die im Zusammenhang mit dem russischen Angriffskrieg immer wieder in den Nachrichten genannt werden und für Tod und Zerstörung stehen. Doch der Journalist erlebt auch, dass Spaß zu haben und sich in einem Krieg zu befinden sich nicht ausschließen: Die intakten Restaurants und Cafés sind gut besucht, die Theater bieten Aufführungen an - nun allerdings ohne Stücke von russischen Autoren. Diese schönen Erlebnisse brauchen die Menschen, um die ständige Bedrohung auszuhalten.

Stephan Orth macht sich in seinem Buch auch Gedanken über die eigenen moralischen Wertvorstellungen, als er von Polina erfährt, was sie in den ersten Kriegswochen tat, um "runterzukommen": Sie sah sich im Internet Videos an, in denen russische Soldaten getötet wurden. Orth verurteilt ihre Freude am Tod von Menschen in einem ersten Reflex. Doch dann kommen ihm Zweifel, ob er es sich erlauben kann, Polinas Verhalten auf diese Weise zu bewerten: "Die Schwelle zwischen dem, was wir Zivilisation nennen, und einem sehr düsteren Abgrund ist nicht so hoch, wie ich bislang dachte."

Lesen?

Couchsurfing in der Ukraine bietet einen guten Einblick in den Alltag der Ukrainerinnen und Ukrainer unter Kriegsbedingungen. Trotz des vielen Leids bewahren sich die Menschen die Hoffnung auf eine bessere Zeit, viele von ihnen glauben an den Sieg ihres Landes über Russland.

Stephan Orth macht deutlich: Die Ukraine wird sich gegen ihren Angreifer nur behaupten können, wenn sie weiterhin von den westlichen Staaten unterstützt wird.
Er empfiehlt, das Land zu bereisen, sobald Frieden ist, und es auf diese Weise dabei zu unterstützen, wirtschaftlich wieder auf die Beine zu kommen.
Eine Café-Inhaberin, die mit ihrem Mann aus Cherson geflüchtet ist und in Winnyzja in der West-Ukraine eine Konditorei und Eisdiele eröffnete, bringt ihre Zukunftsperspektive auf den Punkt: "Als klar war, dass ich tatsächlich hier einen Laden aufmachen kann, war das mein glücklichster Tag seit Langem. Weil ich verstand: Das Leben geht weiter."

Couchsurfing in der Ukraine ist 2024 im Piper Verlag erschienen und enthält mehr als neunzig Fotos. Das Buch kostet als Paperback 18 Euro sowie als E-Book 13,99 Euro.


Dienstag, 17. Dezember 2024

# 459 - Vaterländer

Der erfolgreiche Schauspieler Sabin Tambrea hat mit
seinem zweiten Roman Vaterländer ein sehr persönliches Buch vorgelegt. Er erzählt darin die Geschichte von drei Generationen seiner aus Rumänien stammenden Familie. 

Wer sich mit der rumänischen Geschichte beschäftigt hat, weiß, wie viel Gewalt und Leid der Bevölkerung angetan wurde, seitdem aus dem Land 1948 eine stalinistisch geprägte Volksrepublik wurde. Im selben Jahr entstand die Geheimpolizei Securitate, deren willfährige Helfer vor keiner grausamen Gewalttat zurückschreckten, um die Bevölkerung mundtot zu machen. 

Die Securitate entwickelte sich unter der Diktatur von Nicolae Ceaușescu zu einer Folterorganisation, die half, die herrschenden Machtverhältnisse zu festigen. Das wahre Ausmaß ihrer Barbarei kam erst ans Licht, nachdem die Diktatur mit der Hinrichtung von Nicolae Ceaușescu und seiner Frau Elena ihr Ende gefunden hatte.

In diesem Zeitraum bewegt sich die Handlung von Vaterländer. Tambrea beginnt 1987 mit der Auswanderung seiner Familie nach Deutschland, die außer ihm aus dem Vater Béla, der Mutter Rodica und der Schwester Alina bestand. Sabin Tambrea ist zu diesem Zeitpunkt zweieinhalb Jahre alt und Béla bereits seit zwei Jahren in Marl. Er hatte bei einer Konzertreise die Gelegenheit zur Flucht genutzt. Wie seine Frau ist er Berufsmusiker.

Tambrea beschreibt das Heimweh der Mutter, die vor allem ihre Eltern vermisst, und wie es ist, alles aufzugeben, um in einem fremden Land neu anzufangen. Béla hat sich bereits eingelebt, aber Rodica fällt es schwerer, sich an die fremde Umgebung zu gewöhnen. Als sie nach dem Sturz Ceaușescus 1989 zum ersten Mal wieder in die Heimat fahren, erleben sie an der rumänischen Grenze, dass die im Regime übliche Korruption nicht mit diesem verschwunden ist.

Sabin Tambrea hat seinen Roman in drei Abschnitte aufgeteilt. Im ersten geht es um die Ankunft der Mutter mit ihren beiden Kindern in Marl, wo der Vater eine Wohnung gemietet hat, und ihre Schwierigkeiten, beruflich Fuß zu fassen und mit der ständigen Geldnot zurechtzukommen. Tambrea schreibt über seine Verlustängste in dieser Zeit, die er als Junge lange nicht überwinden konnte. 

Béla und Rodica legen großen Wert auf die musikalische Erziehung ihrer Kinder. Der Geigenunterricht ist selbstverständlich, und es wird erwartet, dass Alina und Sabin bei Wettbewerben zu den Besten gehören. Als Rodica endlich eine feste Stelle in einem Orchester bekommt, bessert sich die Situation der Familie. Doch weil der Familienzusammenhalt auch über die Grenzen hinweg besteht, wird viel Geld dafür aufgebracht, die Verwandten in Rumänien zu unterstützen.

Im zweiten Teil des Romans kommt Tambreas Großvater Horea zu Wort, den er immer als freundlich lächelnden Mann wahrgenommen hatte. Nach dessen Tod werden in seinem Kleiderschrank seine Memoiren gefunden, in denen er ausführlich die Umstände seiner Verhaftung im April 1949 durch die Securitate wegen einer Nichtigkeit beschreibt. Er wird unter grausamen Umständen ohne Gerichtsurteil in mehreren Gefängnissen unschuldig festgehalten und erst nach fast drei Jahren freigelassen. Nach dieser Zeit gilt er als ehemaliger politischer Gefangener, was ihn für den Rest seines Lebens immer wieder benachteiligt.

Im dritten Abschnitt erklärt Tambrea, wie sich seine Eltern kennengelernt haben und es zu der Entscheidung, das Land zu verlassen, gekommen ist. Die schlechten Bedingungen, unter denen die Bevölkerung zu leiden hatte, sowie eine vom Regime geförderte Kultur der Denunziation machten das Leben in der Ceaușescu-Diktatur unerträglich.

Lesen?

Sabin Tambrea zeigt in Vaterländer den Bruch, den eine Flucht mit sich bringt. Er zeigt auch, dass starke Gründe dazu führen, dass man das, was einem lieb und teuer ist, verlässt: die Heimat, die Menschen, das gewohnte Umfeld. Die, die diesen Weg gehen, wissen nicht, ob sie ihre Familie jemals wiedersehen. Béla Tambrea hat damals viel Mut aufgebracht, diesen Schritt zu gehen. Und Großvater Horea hat die schwersten Jahre seines Lebens in den Fängen der Securitate nicht nur überlebt, sondern sich trotz allem sein freundliches und zugewandtes Wesen bewahrt.

Vaterländer ist 2024 im Gutkind Verlag erschienen und kostet gebunden 24 Euro sowie als E-Book 20,99 Euro.


Mittwoch, 4. Dezember 2024

#458 - Ein anderes Leben - aber wessen?

Die Schauspielerin Caroline Peters hat ihr erstes Buch geschrieben. Bislang war sie dem breiten Publikum als Teil des Ensembles am Wiener Burgtheater und in der Rolle der Kommissarin Sophie Haas in der Krimi-Serie "Mord mit Aussicht" bekannt.

Schon viele Schauspieler und Schauspielerinnen haben sich als Autoren versucht. Das gelang mal gut und mal weniger gut. In Ein anderes Leben entwirft Peters das Leben einer Patchwork-Familie, in deren Mittelpunkt die Mutter Hanna steht. Das ist zunächst ein bisschen kurios, weil die Handlung auf dem Friedhof beginnt: Peter, der Vater der Ich-Erzählerin und von allen "Bow" genannt, ist gestorben. Peter war Hannas dritter Ehemann, die ersten beiden waren seine besten Studienfreunde. Von jedem Ehemann hat Hanna, die schon seit etlichen Jahren nicht mehr lebt, eine Tochter: Laura von Klaus, Lotta von Roberto, die Erzählerin von Bow, von dem Hanna ebenfalls seit langem geschieden ist. Treffend lässt Caroline Peters ihre Erzählerin diesen Satz sagen:

Heute ist die Beerdigung meines Vaters, und für mich ist es die Auferstehung meiner Mutter. Ich kann es nicht anders sagen. So viele Jahre vor ihm ist sie gestorben.

Doch Hanna war nicht nur wegen dieser Familienkonstellation eine ungewöhnliche Mutter. Sie versuchte, trotz des Mutter-Seins Konventionen zu ignorieren. Das ist allerdings nicht so einfach: Die promovierte Germanistin und Slawistin mit einem ausgeprägten Faible für das Übersetzen von russischer Literatur musste sich um ihre Kinder kümmern. Ihr dritter Mann Bow war Architekt und hatte so viel zu tun, dass er am Alltag nur sporadisch teilnahm.
Hannas Kompromiss, ihre Leidenschaft und ihre Pflichten als Mutter halbwegs unter einen Hut zu bekommen, war ihre Arbeit in der Universitätsbibliothek.

Doch Hanna entsprach nicht dem traditionellen Mutterbild, das vorsieht, dass die Kinder immer an erster Stelle stehen und die Mutter ihre eigenen Bedürfnisse hintanstellt. Sie wie auch Papa Bow verhielten sich zumindest ihrer jüngsten Tochter gegenüber manchmal fast schon lieblos: Zu ihrer Einschulung reisten die Eltern in die USA, nach vierwöchigen Sommerferien bei der Oma holten sie das Kind nicht vom Bahnhof ab.

Caroline Peters wirbt jedoch auch um Verständnis um manche auf den ersten Blick seltsamen Verhaltensweisen von Mutter und Vater, weil sie oft auf Erfahrungen beruhten, die beide während des Zweiten Weltkriegs gemacht haben.

Ein anderes Leben zeigt jedoch auch, was die meisten von uns selbst schon festgestellt haben werden, wenn sie mit anderen über "früher" gesprochen haben: Die Erzählerin und ihre beiden deutlich älteren Schwestern tauschen sich noch während der Trauerfeier über Ereignisse und Erlebnisse mit Hanna und ihren jeweiligen Vätern aus - um festzustellen, dass es nicht die eine Erinnerung gibt, sondern jeder anders an vergangene Zeiten zurückdenkt.

Lesen?

Caroline Peters hat in Interviews mehrmals betont, dass in ihre Figur Hanna vieles von ihrer eigenen und schon lange verstorbenen Mutter eingeflossen ist, es sich aber nicht um sie handelt. Sie ist sich jedoch sicher, dass ihre Mutter oft gern so wie die Hanna im Roman ihrer Tochter gewesen und Ein anderes Leben gelebt hätte. Die Grenzen zwischen tatsächlicher Familiengeschichte und Fiktion verschwimmen in Peters' Geschichte. Aber ist das im Leben nicht ebenfalls oft so?

Mit Ein anderes Leben hat Caroline Peters bewiesen, dass sie nicht nur eine gute Schauspielerin ist, sondern auch schreiben kann.

Ein anderes Leben ist 2024 im Rowohlt Verlag erschienen und kostet als Hardcover 23 Euro sowie als E-Book 19,99 Euro.


Donnerstag, 24. Oktober 2024

# 457 - Allein durch die Wüste - eine wahre Geschichte über die Flucht eines Kindes

Vor 25 Jahren wird ein neunjähriger Junge auf eine
lange und gefährliche Reise von El Salvador nach Tucson, Arizona, geschickt. Der Versuch, ein reguläres Visum zu bekommen, ist da bereits gescheitert. Er wird einem Schlepper anvertraut, sein Großvater begleitet seinen Enkel auf der Busfahrt durch Guatemala bis nach Ocós an der mexikanischen Grenze. Ab dort ist das Kind auf sich allein gestellt. Dieses Kind ist der Autor Javier Zamora, der diese unglaubliche und rd. 6.000 Kilometer lange Reise in seinem Buch Solito beschreibt. Der Titel trifft die Sache genau, denn 'solito' bedeutet 'allein'.

Javiers Eltern sind schon einige Jahre zuvor als "Illegale" in die USA geflüchtet. Der zwölfjährige Bürgerkrieg in ihrer Heimat hatte zu einer Gewaltspirale geführt und El Salvador auch wirtschaftlich zerrüttet. Doch 1999 beschließt die Familie, dass Javier seinen Eltern nach 'La USA' folgen soll. Für den Jungen wird ein Traum wahr.

Javier kennt seinen Vater, der zuerst das Land verlassen hat, nur noch durch regelmäßige Telefonate und weiß durch Fotos, wie er aussieht. An seine Mutter kann er sich jedoch gut erinnern. Die Fotos zeigen seine Eltern vor schönen Häusern, die gepflegte Gärten und Swimmingpools haben. Javier schließt daraus irrtümlich, dass auch sie in solch einer Umgebung leben. Das steigert - neben seiner Sehnsucht nach ihnen - seine Vorfreude auf das neue Leben in den USA.

Javier fährt auf dem Pazifik in einem überladenen Boot von Ocós (Guatemala) nach Oaxaca (Maxiko); er schläft mit seiner Flüchtlingsgruppe in billigen Motels oder überfüllten Wohnungen und läuft nachts durch die eiskalte Wüste, die sich am Tag wie ein brütend heißer Ofen anfühlt; er erlebt Gewalt und Korruption und verbringt eine Nacht und einen Tag in der überfüllten und stinkenden Sammelzelle eines amerikanischen Grenzgefängnisses. Menschen, die mit der Gruppe nicht mehr Schritt halten können, werden in der Wüste zurückgelassen.

Doch Javier hat Glück: Er bekommt unterwegs Hilfe vom 19-jährigen Chino und der 27-jährigen Patricia, die mit ihrer kleinen Tochter Carla ebenfalls auf dem Weg in die USA ist. Die Vier werden auf dem Boot bis zu ihrer Ankunft zu einem Team, das zusammenhält und aufeinander achtet. Sie erleben gemeinsam, an der Grenze ihres Traumlands zu scheitern und motivieren sich gegenseitig, nicht aufzugeben. Die Familie auf Zeit ist Javiers rettender Anker. 

Lesen?

Solito war 2022, als die Originalausgabe in den USA erschien, wochenlang auf der Bestseller-Liste der New York Times. Das Thema illegale Migration spaltet seit etlichen Jahren das Land und trieb die Wählerinnen und Wähler im Wahlkampf sowohl in diesem Jahr als auch vor vier Jahren um. Zamora hat mit seinem Buch dazu beigetragen, sich in die Situation der Migranten, gegen die Ex-Präsident Trump das Land mit einer Mauer schützen will, hineinzuversetzen. 

Javier Zamora arbeitet zwar mit konkreten Datumsangaben, es darf jedoch bezweifelt werden, dass sich ein neunjähriger Junge, der mit dem nackten Überleben beschäftigt ist, täglich Notizen macht. Seine in Romanform verarbeiteten Erlebnisse geben jedoch Einblicke, wie gefährlich eine Flucht durch Schlepper und wie groß die Hoffnung ist, die Angehörigen wiederzusehen und ein Leben in Frieden zu führen.

Zamora hat viele Jahre lang niemandem von seiner fast zehnwöchigen Flucht erzählt. Die Erlebnisse haben ihn so schwer traumatisiert, dass er sich in psychotherapeutische Behandlung begeben hat. Seine Erzählung enthält sehr viele Eindrücke aus der Perspektive eines Kindes, das sich immer wieder orientieren und eine Situation einschätzen muss: Zamora schildert Gerüche in Unterkünften oder von Menschen, das Mienenspiel von Mitflüchtlingen, Schleppern oder Polizeibeamten oder den Geschmack von Staub. Es ist der Blickwinkel eines Kindes, von dem das Verhalten eines Erwachsenen erwartet wird. Die Angst ist ein ständiger Begleiter - bis zum Schluss, als der kleine Javier hofft, dass seine Eltern ihn vom letzten Schlepper freikaufen und abholen.

Das Buch ist sehr interessant, die immer wieder eingestreuten spanischen Begriffe und Aussprüche, die im Glossar übersetzt werden, haben den Lesefluss allerdings leider gehemmt und waren für das Verständnis nicht nötig.

Zamora ist in den USA bis zur Veröffentlichung von Solito als Lyriker bekannt gewesen und wurde mit mehreren Preisen ausgezeichnet. 

Solito ist 2024 im Verlag Kiepenheuer & Witsch erschienen und kostet als gebundenes Buch 26 Euro sowie als E-Book 19,99 Euro.


Tipp: Im Laufe der Handlung werden immer wieder Bands aus Mittelamerika und ihre bekanntesten Lieder genannt. Man muss kein Fan dieser Musik sein, aber sie sich zwischendurch anzuhören trägt dazu bei, die Atmosphäre des Buches zu erfassen.


Freitag, 18. Oktober 2024

# 455 - Lügen verboten! Sonst...

Tessa Weidrich und Philipp Bajon sind neunzehn Jahre alt, kennen sich (bislang) nicht und finden unabhängig voneinander eine mysteriöse Silbermünze. Obwohl finden nicht das richtige Wort ist: Tessa stiehlt ihr Exemplar aus dem Portemonnaie ihres verhassten Onkels Henrik, Philipp bekommt seine von einer Kommilitonin, die diese in einer Packung Teelichter entdeckt hat. An dieser Stelle läuft sich Scandor von Ursula Poznanski noch warm, wird aber schon kurz danach spannend.

Auf der einen Münzseite ist ein Barcode, der zu einer Website führt, in die man sich mit dem auf der zweiten Seite abgedruckten Pin einloggen kann. Dort stoßen sie auf einen Wettbewerb, der es in sich hat: Es geht darum, eine Zeit lang nicht zu lügen. Keine Notlügen, keine Halbwahrheiten, keine ausweichenden Antworten auf Fragen von Gesprächspartnern. Keine leichte Aufgabe, wenn man dem ständig meckernden Nachbarn einen guten Morgen wünscht oder das neue Kleid, das die beste Freundin begeistert vorführt, scheußlich findet. Kleine Lügereien sind gesellschaftlich akzeptiert und werden in bestimmten Situationen sogar erwartet, weil man seine Mitmenschen nicht verletzen will. Aber sie sind bei diesem ungewöhnlichen Spiel absolut tabu: Wer von den 100 Teilnehmerinnen und Teilnehmern lügt, scheidet sofort aus.

⮚ [...]Alles deutet darauf hin, dass dieser Tag ein Scheißtag wird. Als sie sich das nächste Mal aufrichtet, steckt gerade der Briefträger - der neue, hübsche - ein paar Umschläge in den Postkasten. Er lächelt ihr zu. "Wie geht es Ihnen heute?"
Sie lächelt zurück [...]. "Danke, gut."
Dass das nicht der Wahrheit entspricht und dass Scandor auch dahingesagte Floskeln abstraft, begreift sie erst, als Kälte ihren Arm durchströmt. Ein Gefühl, als hätte sie Eiswasser in den Adern. 

Die Mühe, die die Teilnehmerinnen und Teilnehmer auf sich nehmen, wird belohnt: Die Person, die zum Schluss alle anderen mit ihrer absoluten Wahrheit besiegt hat, bekommt fünf Millionen Euro.
Aber während des Auswahlgesprächs wird klar, dass alle, die ausscheiden, sich ihrer größten Angst stellen müssen. Die Furcht, Dinge tun oder aushalten zu müssen, die einem schon beim bloßen Gedanken an sie den Angstschweiß auf die Stirn treiben, ist eine zusätzliche Motivation.

Philipp kommt aus einer wirtschaftlich gut situierten Familie. Er leidet jedoch unter den ständigen Streitereien seiner Eltern, die seine Kindheit und Jugend begleitet haben. Er möchte sich mit dem Preisgeld den Traum vom Auslandsstudium erfüllen. Weit weg von den Eltern.

Auch Tessas Entscheidung, bei dem Wettbewerb mitzumachen, hängt mit ihrer Familie zusammen. Ihr Vater hatte einen Motorradunfall, als Tessa ein kleines Mädchen war. Seitdem ist er stark gehbehindert und hadert mit seinem Schicksal. Die Eltern leben zur Miete in einer Wohnung, die Tessas Onkel Henrik gehört. Hendrik unterstützt die beiden auch finanziell, behandelt sie jedoch wie Bettler und generiert sich als barmherzigen Samariter. Mit dem Gewinn wären die Eltern für immer von Henrik unabhängig. Und sie selbst natürlich auch.

Bereits bei der Eignungsprüfung bekommen Tessa und Philipp einen ersten Eindruck von dem, was da auf sie zukommt: Wie alle Kandidatinnen und Kandidaten sind sie mit einem sehr zuverlässig arbeitenden Lügendetektor verbunden, der schon bei der kleinsten Nachlässigkeit anschlägt. Das ist ein Vorgeschmack auf das, was sie im Wettbewerb erwartet. Wie alle anderen werden Tessa und Philipp mit Scandor ausgestattet, einem neuartigen Gerät, das seinen Träger Tag und Nacht auf Ehrlichkeit und Offenheit scannt. Die flache Vorrichtung wird den Mitspielern auf dem Unterarm fixiert, sie können sie nicht selbst entfernen.

Bald wird deutlich, dass mit dem Gewinnspiel ein bestimmtes Ziel verfolgt werden soll und der Wettbewerb nur den Rahmen bildet. Tessa und Philipp haben jedoch mit großen Schwierigkeiten zu kämpfen. Sie müssen ihren normalen Alltag leben, also zur Uni gehen und in ihren Jobs arbeiten: Tessa in einem Callcenter und als Servicekraft, Philipp als Aushilfe in einem Jeansladen. Und dann sind da noch die Konkurrenten, die mit fiesen Tricks versuchen, die anderen Mitspieler auszuschalten, sowie zusätzliche Aufgaben, die erfüllt werden müssen. Wer ist der oder die Nächste, die durch einen Kältestoß von Scandor erfährt, dass das Spiel für ihn oder sie zu Ende ist?

Tessa und Philipp gewöhnen sich an, keine spontanen Antworten zu geben und die gewohnten Floskeln aus ihrem Sprachschatz zu tilgen. Mit ihrer Taktik machen sie ihrer Konkurrenz schwer zu schaffen. Doch mit dem, was sie gegen Ende erwartet, haben sie nicht gerechnet. Die meisten Leserinnen und Leser vermutlich auch nicht.

Lesen?

Scandor spielt mit der Frage, wie aufrichtig Menschen sind. Wie oft lügen wir pro Tag? Lange Zeit wurde gesagt, dass durchschnittlich 200 Lügen pro Tag normal seien. Doch mittlerweile weiß man, dass es bedeutend weniger sind: Die meisten von uns lügen nur ein bis zwei Mal täglich.

Ursula Poznanski sorgt mit ihrem Jugendroman (ab 14 Jahre) für reichlich Spannung und vermittelt wie nebenbei, dass wir uns unserer Verantwortung für unser Handeln stellen müssen - auch, wenn es schmerzhaft werden kann.

Scandor ist 2024 im Loewe Verlag erschienen und kostet 19,95 Euro sowie als E-Book 14,99 Euro.