Freitag, 5. Juli 2024

# 442 - Verkaufte Zukunft

Wenn es um die Klimakrise geht, liest man eine Menge
Meinungsäußerungen. Nicht alle sind von Kenntnis geprägt, sondern eher von so etwas wie Bauchgefühl oder Partikularinteressen - das passende Stichwort ist hier 'Lobbyismus'.

Das Buch Verkaufte Zukunft des Soziologen und Direktors des Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsordnung Jens Beckert ist eine Ausnahme. Der Wissenschaftler zieht hier alle argumentatorischen Register, wenn er der Gesellschaft den Spiegel vorhält. Mit dem Untertitel Warum der Kampf gegen den Klimawandel zu scheitern droht wird klar, in welche Richtung die Reise in die Zukunft geht. Beckert verfällt jedoch nicht in ein Wehklagen, sondern präsentiert Fakten. In neun Kapiteln sucht er Antworten auf seine zentrale Frage: Warum sind Gesellschaften nicht in der Lage, dem Klimawandel Einhalt zu gebieten?

Das Buch vermittelt ein Verständnis von Mechanismen, die in unserem Gesellschaftssystem dafür verantwortlich sind, dass sinnvolle Maßnahmen zur Erreichung der Klimaziele nur schleppend oder gar nicht umgesetzt werden. Dabei sollte man doch meinen, dass die Sachlage für die meisten Menschen klar ist: Die Ursachen für die Klimakrise sind bekannt, die Möglichkeiten, sie aufzuhalten, auch. Aber trotz ambitionierter Klimakonferenzen und selbst gesteckter Ziele, die Emissionen von klimaschädlichen Treibhausgasen drastisch abzumildern, werden diese Ziele nicht erreicht und für andere Dinge geopfert: für die nächsten Wahlen oder die anstehenden Unternehmensbilanzen. So verstreicht wertvolle Zeit, die Zukunft wird regelrecht verkauft - unsere, die unserer Kinder und Enkelkinder sowie aller weiteren Generationen.

Das Problem ist die Struktur unserer Gesellschaftsordnung: Die Politik braucht rasche Erfolge, anderenfalls werden ihre Repräsentanten nicht wiedergewählt; der Erfolg von Unternehmen wird an ökonomischen Kennzahlen gemessen, allen voran am Gewinn. Maßnahmen, die gut für den Klimaschutz wären, haben jedoch einen großen Nachteil: Sie wirken langfristig. Erfolge sind erst Jahre oder Jahrzehnte später zu erkennen. Bis dahin sind die Politiker und Unternehmenschefs von heute nicht mehr aktiv, vielleicht leben sie sogar nicht mehr. Die Folgen dieser Missachtung von sinnvollen Maßnahmen werden sowohl von ihnen als auch den Bürgern "übersehen" oder klein geredet. Schon auf den ersten Seiten schreibt Beckert: "Meine diesbezügliche These lautet schlicht: Die Macht- und Anreizstrukturen der kapitalistischen Moderne und ihre Steuerungsmechanismen blockieren eine Lösung des globalen Problems namens Klimawandel." Und: "Der kurzfristige Gewinn aus der Vermeidung von Klimakosten übersteigt den gegenwärtigen Nutzen zukünftiger Klimasicherheit."

Derzeit wird aber eher aufgeschoben als aktiv gehandelt: Die Rettung der Erde wird an die nächsten Regierungen oder Firmenlenker delegiert. Doch auch die Bürgerinnen und Bürger sind kaum besser: Die Mehrheit bejaht zwar, dass die Klimakrise unsere Welt bedroht, sobald jedoch Klimaschutzmaßnahmen zu Preissteigerungen führen oder die eigene Bequemlichkeit leidet, regen sich Widerstand und Ablehnung. Schon Appelle, sich im Alltag klimabewusster zu verhalten, werden als Einschränkung der persönlichen Freiheit wahrgenommen. Das ähnelt dem sog. Sankt-Florian-Prinzip: "Heiliger Sankt Florian / verschon mein Haus, zünd and're an."

Lesen?

Jens Beckert zeigt nicht nur mit dem Finger auf die Probleme, sondern skizziert auch, wie Lösungen aussehen können. Eins steht fest: Es ist kompliziert. Es sollte in den Industrienationen darum gehen, einen grünen Kapitalismus zu schaffen - schon deshalb, weil sich der Kapitalismus als Gesellschaftssystem nicht abschaffen lässt. Das Vermeiden von Emissionen muss für Unternehmen zu einem wirtschaftlichen Erfolg führen - wie wir bereits gelernt haben, ist der derzeit praktizierte Handel mit Emissionszertifikaten dafür nicht geeignet.

Der Autor verschweigt nicht das Dilemma, in dem sich der globale Klimaschutz befindet: Arme Länder, die bislang nur einen geringen Anteil an der Klimakrise haben, müssen, wenn sie z. B. auf fossile Rohstoffvorkommen stoßen und diese ausbeuten wollen, fair behandelt werden. Beckert führt beispielhaft die Demokratische Republik Kongo an, die für die Ölförderung Regenwald abholzen und so einen wirtschaftlichen Aufschwung erleben will. Ausgerechnet das Land mit den weltweit zweithöchsten Treibhausgas-Emissionen, die USA, verlangt, keine Förderlizenzen zu vergeben. Beckert resümiert: "Die Ungleichheiten der globalen Arbeitsteilung führen zu einer unfassbaren Verlogenheit in der Klimadebatte, bei der die Länder des globalen Südens für den Raubbau  an ihrer Natur verantwortlich gemacht werden, obwohl der Nutzen davon zu großen Teilen dem globalen Norden zugutekommt, der zudem den Raubbau mit seiner Technologie und seinem Finanzkapital erst ermöglicht."

Verkaufte Zukunft enthält viele Fakten und Argumente, die immer wieder in öffentlichen Diskussionen genannt werden. Doch Beckerts "Rundumschlag" ermöglicht ein umfassendes Bild über den aktuellen Stand des schwach ausgeprägten Eifers, die Klimakrise abzumildern. Davon, dass sie gestoppt werden könnte, geht er nicht aus. Eine Erwärmung der Erde um 2° C hält er für das wahrscheinlichste Szenario.

Das Buch ist auch für Laien sehr gut verständlich, die Argumente sind gut nachvollziehbar. Wahrscheinlich auch deshalb wurde der Titel für den Deutschen Sachbuchpreis und den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert.

Verkaufte Zukunft ist 2024 im Suhrkamp Verlag erschienen und kostet als gebundene Ausgabe 28 Euro sowie als E-Book 23,99 Euro,





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