Sonntag, 16. Juni 2024

# 440 - China, wer bist du?

Mehr als 7.000 Kilometer Luftlinie liegen zwischen der
deutschen Hauptstadt Berlin und der chinesischen Hauptstadt Peking. Was wir von hier aus über das "Reich der Mitte" wahrnehmen: große Wirtschaftsmacht, viele Einwohner, einen seine Macht stetig ausbauenden
 Präsidenten Xi Jinping, starke Überwachung der Bevölkerung, chinesisches Porzellan, Buddhismus. Wir glauben, durch die vielen chinesischen Restaurants in Deutschland die chinesische Küche zu kennen, und erinnern uns, wenn wir alt genug sind, an das Foto von Mao Tse-Tung, der mit seiner diktatorischen Politik das Land von 1949 bis 1973 beherrschte, was - je nach Schätzung - 40 bis 80 Millionen Menschen den Tod brachte.

Was wir nicht wissen: Wie geht es der chinesischen Bevölkerung heute? Was ist den Menschen wichtig, worauf legen sie Wert - oder worauf nicht?
Diese Fragen und insbesondere die, was Chinesinnen und Chinesen unter Glück verstehen, hat sich auch die Schriftstellerin und Glücksforscherin Simone Harre gestellt. Innerhalb von fünf Jahren hat sie in mehreren Interviewreisen zahlreiche Gespräche mit Frauen und Männern zwischen Peking im Norden und Yangshuo im Süden der Volksrepublik geführt. 50 dieser Interviews hat sie in ihrem Buch China, wer bist du? versammelt. Ganz überwiegend kommen hier Männer zu Wort; nur zehn Frauen haben mit Simone Harre über ihre Vorstellung vom Glücklichsein gesprochen. Die Gründe für dieses Ungleichgewicht bleiben unerwähnt.

Harre ahnte, dass es nicht so einfach sein würde, Interviews zum Thema Glück in Gang zu bringen. Darum hat sie als "Türöffner" zu Beginn der Unterhaltungen zwei Fragen gestellt:
Welche Blume möchtest du sein? und Ist das Glas halb voll oder halb leer?

Für viele der Interviewten war das Gespräch mit der Autorin sehr herausfordernd, weil diese ihnen Fragen stellte, die sie sich selbst nie gestellt hatten. 

Harre ist es gelungen, Interviewpartnerinnen und -partner aus allen Gesellschaftsschichten zu finden. Von der Straßenverkäuferin über den Taxifahrer bis zum Chefkoch oder Professor stehen ihr die unterschiedlichsten Menschen Rede und Antwort. Die Mehrzahl der Befragten lebt in einer Großstadt, einige jedoch auf dem Land. Auffällig ist die hohe Zahl der Hochschulabsolventen, die allerdings nach ihrem Uni-Abschluss nicht unbedingt im selben Bereich, den sie studiert haben, arbeiten. Auffällig ist auch, wie viele Menschen auf verschiedenen Gebieten gleichzeitig tätig sind und das Scheitern von Unternehmen nicht mit Versagen und Resignation gleichsetzen. Die übliche Haltung ist eher: Wenn dieses Projekt nicht funktioniert, dann vielleicht ein anderes. Eine Einstellung, die für uns ungewohnt ist.

Zahlreiche Gesprächspartner haben in ihrer Kindheit und Jugend in tiefster Armut gelebt, viele sogar gehungert. Das betrifft vor allem die Generation der um 1970 Geborenen. Diese hat die kollektive Erfahrung gemacht, dass Fleiß und Erfolg sehr wichtig sind. Selbstverwirklichung kommt in ihrem Denken nicht vor.
Neben dem beruflichen Erfolg ist die Familie von großer Bedeutung. Zu heiraten und eine Familie zu gründen wird von den eigenen Eltern und der Gesellschaft zwar weniger strikt erwartet als noch vor etwa zwanzig Jahren, ist aber trotzdem als sehr erwünschter Teil des Lebens verankert. Individualismus, wie wir ihn aus unserem westlichen Selbstverständnis kennen, steckt in China noch in den Kinderschuhen.

Die Familie ist auch ein Ersatz für den praktisch nicht vorhandenen Sozialstaat. Wer in eine Notlage gerät und weder Geld noch helfende Angehörige hat, hat ein Problem. Die Vorstellung von sozialer Verantwortung beschränkt sich folgerichtig auf die eigene Familie.

Lesen?

Simone Harre ist es gelungen, die Menschen zum Nachdenken über sich selbst zu bringen - was eine besondere Leistung ist, da Selbstreflexion in der chinesischen Gesellschaft nicht verankert ist.
Es gelingt ihr, ein authentisches Bild von den Menschen zu zeichnen und uns so einen ungewöhnlichen Einblick in die "Seele" des Riesenreichs zu ermöglichen. 

China, wer bist du? ist allen zu empfehlen, die sich abseits der üblichen Reiseführer ein Bild vom heutigen China machen wollen. Ich bin mir sicher, dass viele überrascht sein werden, inwieweit alte Traditionen im modernen China noch eine Rolle spielen.

Die sehr schöne Aufmachung macht das positive Bild komplett: Der Einband besteht aus starker Pappe, zu jedem Interview gibt es mindestens ein Porträtfoto der befragten Person. Dafür wurde das Buch 2020 beim Wettbewerb der Stiftung Buchkunst "Die schönsten deutschen Bücher" mit der Silbermedaille ausgezeichnet.

China, wer bist du? ist 2020 im Verlag Reisedepeschen Berlin erschienen und kostet 26 Euro.


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