Sonntag, 29. September 2024

# 454 - Verschickungskinder in Kinderkuren - Urlaub mit Schrecken ohne Ende oder pure Erholung?

Lena Gilhaus beschäftigt sich in ihrem Buch Verschickungskinder mit einem Thema, das jahrzehntelag totgeschwiegen wurde. Als die Radio- und Fernsehautorin erfährt, dass ihr damals neunjähriger Vater und dessen sechsjährige Schwester 1967 zu den Kindern gehörten, die ohne die Begleitung ihrer Eltern für sechs Wochen zur Erholung in ein Kinderkurheim geschickt wurden, forscht sie nach.

2022 sitzen Gilhaus, ihr Vater und ihre Tante im Zug von Dortmund nach Sylt, um den Erinnerungen der Geschwister nachzuspüren. Erinnerungen, über die sie lange geschwiegen und die sie größtenteils verdrängt hatten. Das, was sie erzählen, deckt sich mit den Erlebnissen und Erfahrungen zahlreicher Verschickungskinder, die in der BRD und der DDR  zwischen 1945 und bis in die 1990-er Jahre in eines der vielen Heime fuhren. Viele dieser Einrichtungen lagen abseits von Ortschaften und hatten zu wenig oder kaum für diese Aufgabe ausgebildetes Personal. Kontrollen gab es so gut wie nie, vereinzelte Todesfälle wurden verschleiert. Das waren ideale Bedingungen für Übergriffe des Personals: zwangsweises Aufessen (einschließlich des Erbrochenen), erzwungener "Mittagsschlaf", Einsperren in dunkle Kammern als eine von vielen Bestrafungen sowie sexuelle Annäherungen oder Quälereien war in zahlreichen Kurheimen Alltag. Viele Maßnahmen erinnern an pädagogische Dogmen des Nationalsozialismus': Wannenbäder in eiskaltem Wasser sollen die Kinder abhärten, und unwillkürlich fühlt man sich an Hitlers vielzitierten Ausspruch erinnert, wonach die Jugend "hart wie Kruppstahl" sein sollte.  

Es hat schätzungsweise bis zu 15 Millionen Kurverschickungen gegeben. Die genauen Zahlen sind unbekannt, weil sich viele Wohltätigkeitsinstitutionen und kirchliche Einrichtungen beteiligten und diese bis heute kein gesteigertes Interesse an einer Aufklärung über die Zustände in den Heimen haben. Man fühlt sich an das Verhalten der beiden christlichen Kirchen im Zusammenhang mit dem Missbrauch von Kindern erinnert: Nur der dauerhafte Druck hat sie dazu gebracht, sich (teils widerwillig) an der Aufklärung der Taten ihrer Amtsträger zu beteiligen.

Die Gründe für die Entsendung der Kinder waren unterschiedlich: Bei den meisten spielten Atemwegs- oder Hauterkrankungen, zu wenig oder zu viel Körpergewicht oder eine allgemein schlechte Konstitution eine Rolle. Etliche Kinder sollten aber eine Weile aus ihrem familiären Umfeld herausgenommen werden, um sich an der See oder in den Bergen von prekären Lebensverhältnissen zu erholen und die Eltern zu entlasten.

Lena Gilhaus beschreibt nicht nur, woran sich ihr Vater und seine Schwester erinnern können, sondern nimmt auch Kontakt zu anderen Verschickungskindern auf. Viele sind nachhaltig traumatisiert, was sich auf ihr Leben als Erwachsene auswirkt. Andere wollen sich an die Zeit, die manche mehrmals durchlebt haben, heute nicht mehr erinnern. Viele haben die traumatischen Erfahrungen jahrzehntelang verdrängt.

Doch wie stehen die Träger der Kinderkuren heute zu den Vorwürfen, mit denen sie seit einigen Jahren konfrontiert werden? Gilhaus nimmt mit einigen von ihnen Kontakt auf und stößt auf eine Mauer des Schweigens und Verharmlosens. Doch sie gibt nicht auf, und tatsächlich findet sie konkrete Vorwürfe bei Vor-Ort-Recherchen bestätigt. 

Lesen?

Verschickungskinder gehört zu den wenigen Sachbüchern, die sich mit den Bedingungen in den Kinder-Kurkliniken beschäftigen. Lena Gilhaus hat auch mit Menschen gesprochen, die ihre Kinderkur in guter Erinnerung haben, das sind jedoch Ausnahmen. Die überwältigende Mehrheit hat belastende Erinnerungen an diese Zeit, die ihnen eigentlich guttun sollte.

Gilhaus' Buch liefert einen wertvollen Beitrag zur Aufdeckung dieser Missstände, die zu lange verdrängt wurden. Dieses Thema muss medial am Leben erhalten werden, damit früher oder später alle Fakten offengelegt werden können.

Verschickungskinder ist 2023 im Verlag Kiepenheuer & Witsch erschienen und kostet gebunden 24 Euro sowie als E-Book 19,99 Euro.

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