Samstag, 26. November 2022

# 372 - Atmosphärisch dichter Krimi in den Weiten Nebraskas

Die amerikanische Autorin Chris Harding Thornton hat
ihren Debütroman in eine Kleinstadt inmitten der Sandhills von Nebraska verlegt und in den Sommer des Jahres 1978: Pickard County ist eine Gegend, in dem jeder jeden kennt und in dem zahllose Geschichten und Gerüchte die Runde machen. 

Eine der Hauptfiguren ist Deputy Sheriff Harley Jensen. Er ist geschieden, hat kein nennenswertes Sozialleben und darum kein Problem damit, die Nachtschichten zu übernehmen. Sein Leben ist unaufgeregt: Manchmal kommt ein Notruf, auf den er reagieren muss, aber einen großen Teil seines Dienstes verbringt er mit der Kontrolle der vielen leerstehenden Farmhäuser. Jedes von ihnen hat eine Geschichte, auch das, in dem Harley aufgewachsen ist. Wegen eines traumatischen Erlebnisses in seiner Kindheit versucht er das Gebäude zu meiden.

Doch da ist diese Brandserie. Immer wieder treiben sich gelangweilte Jugendliche in den verlassenen Farmhäusern herum und zünden Teile davon an. Harley ist allerdings davon überzeugt, dass dahinter der jüngste Sohn der Reddick-Familie steckt, den er schon eine Weile beobachtet. Paul gehört zu den Leuten, die ihren Mitmenschen gehörig auf die Nerven gehen, die aber schlecht zu fassen sind. Er ist der örtlich bekannte Kleinkriminelle, der aus einer Familie stammt, die nach einem tragischen Ereignis achtzehn Jahre zuvor zerrüttet ist. Der älteste Sohn wurde im Alter von sieben Jahren erschlagen, der Mörder konnte jedoch nicht mehr sagen, wo er die Leiche abgelegt hatte: Bevor es zur Verhaftung kam, erschoss er sich. Breit angelegte Suchaktionen waren erfolglos, das tote Kind blieb verschwunden. Auch Harley Jensen war an der erfolglosen Suche beteiligt gewesen.

Die Mutter Viginia Reddick zog sich danach völlig zurück und versank in Alkohol und Zigarettenqualm. Ihre Söhne Rick und Paul wuchsen in einer durch das Familientrauma geschwängerten Atmosphäre auf.
Als junge Erwachsene arbeiten sie nun für ihren despotischen Vater, der alte und beschädigte Trailer aufkauft, sie von seinen Söhnen aufarbeiten lässt und weiterverkauft. 

Während Paul halt- und emotionslos durch sein Leben schlingert, versucht Rick, seine kleine Familie über Wasser zu halten. Er lebt mit seiner Frau Pam und seiner kleinen Tochter Anna in einem Trailerpark, in dem sich Pam immer unwohler fühlt. Sie spürt genau, dass die Entscheidung, Mutter zu werden, für sie grundfalsch war und sie sich auch nicht als Ehe- und Hausfrau eignet. Ihr wird klar, dass sie das, was sie sich unter einem normalen Leben vorstellt, an Ricks Seite nie erreichen wird. Pam wird die einzige Person in diesem Krimi sein, die versucht, ihre Situation zu ändern. 

Die Handlung nähert sich nur langsam ihrem Höhepunkt, was dem Buch aber nichts von seiner Spannung nimmt. Der Schluss wird von einem Showdown bestimmt, der nur darum entsteht, weil zu viele Personen die falschen Schlüsse gezogen haben und sich an den Falschen rächen wollen.

Lesen?

Chris Harding Thornton ist in siebter Generation in Nebraska ansässig. Das merkt man ihrem Buch deutlich an: Der Kriminalroman atmet gewissermaßen die besondere Atmosphäre, die eintönige und karge Landschaft, die verlassenen und verfallenden Farmen mit ihren teils dramatischen Geschichten sowie die Art und Weise, wie die Menschen dort miteinander umgehen. 

Pickard County ist allerdings kein typischer Krimi, wie man ihn sonst gewohnt ist. Dem Buch liegt kein Mord zugrunde, der von einem cleveren Polizisten gelöst wird. Es geht vielmehr um die Abgründe im menschlichen Miteinander, um Hoffnungen, Träume, Enttäuschungen und Traumata. Alles zusammen ergibt eine so gute Mischung, dass das Buch von der ersten bis zur letzten Seite nicht langweilig wird.
Da Chris Harding Thornton mehrere Fragen unbeantwortet gelassen hat, kann man vermuten, dass es eine Fortsetzung von Pickard County geben wird.

Pickard County wurde 2022 auf Deutsch im Polar Verlag veröffentlicht und kostet als Taschenbuch 16 Euro sowie als E-Book 10,99 Euro.


Montag, 21. November 2022

# 371 - Mehr als nur Schlange und Walfisch: Die Biester der Bibel

Um die 130 Tiere gibt es in der Bibel, und es sind
nicht nur die, die in der Erzählung von der Arche Noah vorkommen. Die Philosophin Claudia Paganini und der Theologe Simone Paganini setzen mit Die Biester der Bibel die Reihe ihrer Bücher fort, in denen sie ihren Leserinnen und Lesern die Besonderheiten der Bibel mit viel Freude und Humor näherbringen.

Das gelingt ihnen auch diesmal. Sie erläutern, warum die Schlange aus dem Paradies nur einmal spricht, was es mit Einhörnern und Drachen im Alten Testament auf sich hat und wie nach biblischer Rechtsprechung mit Tieren umgegangen wurde, die einen Menschen verletzt oder gar getötet hatten.

An etlichen Stellen fragt man sich beim Lesen, warum einem bei einem Blick ins Alte Testament solch abenteuerliche Tiere, auf die man doch sofort aufmerksam würde, nicht aufgefallen sind. Beim Einhorn beispielsweise, das wir heute als mystisches Wesen kennen, lässt sich das mittlerweile gut nachvollziehen. Beim Übersetzen des Alten Testaments ins Griechische galt die Redewendung: Viele Köche verderben den Brei. Immerhin 72 Übersetzer waren mit der Übertragung des Textes beschäftigt. Sie stießen im Original auf das hebräische Wort "Re'em", das ein starkes und wildes Tier beschreiben sollte, und entschieden sich für den griechischen Begriff "Monókeros": Das Einhorn war geboren, zumindest sprachlich. 
Sogar die Heilige Hildegard von Bingen glaubte an die Existenz des Tieres und schilderte in einer ihrer Schriften, wie man es am besten fangen könne: Mithilfe blonder Jungfrauen sollte die Jagd auf Einhörner zum Erfolg werden.
Martin Luther ließ das edle Tier in seiner Bibelübersetzung am Leben und nannte es immerhin neun Mal. Erst als sich Sprachkundige 1984 an die Modernisierung der Luther-Bibel machten, starb das Einhorn einen unspektakulären Tod.

Mit dem Untertitel Warum es in der Heiligen Schrift keine Katzen, aber eine Killer-Kuh gibt locken Claudia und Simone Paganini ihre Leserschaft etwas in die Irre. Hier geht es nicht um durchdrehende Rinder, die mit Schaum vorm Maul alles um sich herum niederwalzen, sondern um einen  Vergleich zwischen dem biblischen und unserem heutigen Tier-Recht. Der wesentliche Unterschied: Tiere wurden strafrechtlich fast wie Menschen behandelt. Wurde eine Kuh damals gewalttätig und verletzte einen Menschen tödlich, wurde sie genauso wie ein Mensch bestraft: Die übliche Sanktion war Tod durch Steinigung.

Interessant ist der Abschnitt, der sich mit dem Vegetarismus zu Jesus' Lebzeiten beschäftigt. Jesus aß hin und wieder Fisch und Fleisch, sein älterer Bruder Jakobus allerdings nicht. Was waren die Gründe dafür? Und wie wichtig waren Tiere für die Ernährung der Menschen?

Lesen?

Die Biester der Bibel ist kein trockenes theologisches Sachbuch, sondern will auf unterhaltsame Weise ein bisschen Wissen weitergeben. Das ist dem Ehepaar Paganini sehr gut gelungen. Doch es handelt sich nicht (nur) um eine Sammlung tierischer Anekdoten, sondern gibt einen sehr guten Überblick über geschichtliche Hintergründe, die hinter dem Auftauchen und Verschwinden von Tieren aus dem Alten Testament stehen.

In ihrem Schlusswort macht das Autorenpaar einen Exkurs zum Thema "Tier-Ethik im Neuen Testament" und plädiert dafür, "die selbstverständliche Machtausübung des Menschen über die Tiere fundamental in Frage zu stellen. Je früher auch die Kirche damit beginnt, desto besser".

Die Biester der Bibel ist 2022 im Gütersloher Verlagshaus erschienen und kostet als Klappenbroschur 16 Euro,





Dienstag, 15. November 2022

# 370 - Von Schuld und Vergebung

 Absolvo te heißt das zweite Buch des bulgarischen
Schriftstellers Georgi Bardarov, das die Jury des Europäischen Literaturpreises 2021 so sehr überzeugte, dass sie den Preis an den Autor vergab.

Bardarov ist Professor für ethno-religiöse Konflikte und Demographie an der Universität Sofia. Da scheint das Thema seines Romans nahezuliegen: Ein Araber, ein Jude und ein Nazi-Offizier stehen im Mittelpunkt der Handlung. Aber es gibt nicht "die" Handlung im klassischen Sinn, sondern Bardarov schildert in mehreren Handlungssträngen geschichtliche Ereignisse, die auf den ersten Blick nichts miteinander zu tun zu haben scheinen: die Diktatur der Nationalsozialisten mit ihrer brutalen Tötungsmaschinerie und der israelisch-palästinensische Konflikt, dessen Beginn etwa auf das Ende des 19. Jahrhunderts datiert werden kann und der bis heute andauert. Die Romanhandlung betrachtet diesen Konflikt im Zeitrahmen der 1970-er und 1980-er Jahre.

Wie ein roter Faden zieht sich die Figur des Max Schewtschenko durch den Roman. Das Kuriose daran: Man bemerkt diesen Kniff beim Lesen erst mit Verzögerung. Max, ein begabter Student und Sportler, ist ein aus der Ukraine stammender Jude, der Mitte November 1944 mit einem Güterzug zusammen mit vielen anderen Menschen in das Konzentrationslager Auschwitz gebracht wird. Unter dem Eindruck von Hunger und unmenschlicher Grausamkeit lernt er nicht nur seine seelischen und körperlichen, sondern auch seine moralischen Grenzen kennen. Zu überleben ist das einzige Ziel. Bardarov weist Max Schewtschenko die Funktion einer Brücke zwischen dem Holocaust und der tief sitzenden Feindschaft zwischen Juden und Palästinensern zu. Kann das gelingen?

Lesen?

Absolvo te bedeutet etwa "Ich spreche dich frei" oder "Ich entlaste dich". Das ist die Botschaft, die Georgi Bardarov seinen Leserinnen und Lesern vermittelt: Bevor es Frieden und Versöhnung geben kann, muss man einander vergeben. Angesichts dessen, dass das Buch auf zwei wahren Begebenheiten beruht, die von Brutalität und Gnadenlosigkeit geprägt sind, kann man sich gut vorstellen, dass die Vergebung für die Menschen, die sowohl Opfer als auch Täter sind, ein Kraftakt ist. Noch schwerer ist es aber, sich selbst zu vergeben.

Absolvo te ist in der deutschen Übersetzung 2022 im Anthea Verlag erschienen und kostet als gebundenes Buch 22,90 Euro.

Freitag, 4. November 2022

# 369 - Von der Qualle ins Innere des Menschen

Wie es zu dem Buchtitel von Marie Gamillschegs Roman Aufruhr der Meerestiere kam, bleibt ungeklärt, denn um einen Aufruhr geht es in diesem Buch nicht.

Um Meerestiere allerdings schon. Genauer: um die Meerwalnuss, die nicht etwa eine Nuss, sondern eine Rippenqualle ist. Obwohl sie zu 99 Prozent aus Wasser besteht, bereitet sie nicht nur Meeresbiologen, sondern auch Fischern und Tourismusmanagern Sorgen: Als sog. "invasive Art" hält sie sich nicht nur im heimischen subtropischen Atlantik, sondern auch verstärkt in der immer wärmer werdenden Ostsee auf. Vermutlich ist sie vor einiger Zeit an der Spundwand eines Containerschiffs in unsere Breiten gereist. Die Meerwalnuss vereint einige Extreme auf sich: Sie vermehrt sich rasant, wenn sie sich wohl fühlt. Einige Tausend Eier pro Tag zu produzieren fällt dieser Quallenart leicht. Und wenn so viel Nachwuchs da ist, wird auch der Futterbedarf groß: Meerwalnüsse fressen kleine Krebschen, die die Grundnahrung für Heringe, Sprotten und Fischlarven sind. Das Problem für den Fischfang liegt auf der Hand.
Aber damit ist die Meerwalnuss noch nicht fertig, den Menschen auf die Nerven zu gehen: Wo sehr viele von ihnen sind, fühlt sich das Ostseewasser an wie Gelee. Das ist zwar nicht gesundheitsschädlich, wird von badenden Touristen aber als ekelhaft empfunden. 
Der Klimawandel lässt grüßen.

Das und noch ein bisschen mehr erfährt man über das hirnlose Glibberwesen, wenn man sich durch diesen Roman liest. Aber die Meerwalnuss bildet nur den Rahmen für die eigentliche Handlung, in deren Mittelpunkt die Meeresbiologin Luise steht. Luise forscht schon lange an der Meerwalnuss und sieht in ihr nicht ein Wesen, gegen das man angehen muss, sondern einen sensiblen Organismus, der eine faszinierende Eigenschaft hat: Durch Biolumineszenz können Meerwalnüsse leuchten.

Die 32-jährige Luise arbeitet am Helmholtz-Zentrum in Kiel und ist eine gefragte Expertin. Sie ist beruflich viel unterwegs, ein geregelter Tagesablauf ist ihr fremd. Trotz der fachlichen Anerkennung ist sie nicht glücklich und weit davon entfernt, mit sich im Reinen zu sein. Ihr Verhältnis zu ihrem Vater ist von Sprachlosigkeit geprägt, das zu ihrem Bruder eher angespannt. Die Gründe dafür lassen sich nur erahnen. 

Als ein renommierter Tierpark in Graz ein neues Forschungsprojekt beginnen will, fährt Luise in ihre Heimatstadt. Es wird eine Reise in die eigene Vergangenheit. Man erfährt von Luises Essstörungen in ihrer Jugendzeit und dass sie diese immer noch nicht überwunden hat. Man liest auch über ihre Unfähigkeit, Liebesbeziehungen aufzubauen: Bevor es zu einer gewissen Tiefe kommt, entfernt sich Luise von dem jeweiligen Mann. Sie ist so schlecht zu fassen wie die Meerwalnuss, über die die Wissenschaftlerin fast alles weiß. So sehr sie eine exzellente Forscherin ist, so wenig versteht sie es, mit ihrem eigenen Leben zurechtzukommen. 

Luise lebt während ihrer Zeit in Graz in der Wohnung ihres Vaters, der sich bei ihrem Bruder von einem Herzinfarkt erholt. Dort versucht sie, dem Vater näherzukommen und die Erinnerungen an ihre Kindheit wieder aufleben zu lassen - sowohl die an die Zeit mit beiden Eltern als auch nach deren Scheidung. Ihr Vorhaben mit dem Tierpark gerät darüber oft in Vergessenheit, Luise lebt in den Tag hinein. Umso überraschender ist, wie der Aufenthalt dort für sie endet.

Lesen?

Aufruhr der Meerestiere ist kein Roman, der chronologisch und geordnet eine Geschichte erzählt. Hier ist vieles im Fluss, einige Dinge bleiben unklar oder undeutlich und oft hat man beim Lesen den Eindruck, dass sich Marie Gamillscheg atmosphärisch von der Meerwalnuss hat inspirieren lassen, die sich schon mal in nichts auflösen kann. Der Versuch, Luises Persönlichkeit zu beschreiben, den Leserinnen und Lesern die Besonderheiten der Meerwalnuss nahezubringen und beides mit dem großen Problem unserer Zeit, dem Klimawandel, zu verknüpfen, ist der Autorin gelungen. Dieser Roman hebt sich vor allem durch seine besondere Sprache von der Masse ab und sorgt so für ein ungewöhnliches Literaturerlebnis.

Aufruhr der Meerestiere ist 2022 im Luchterhand Verlag und kostet als gebundenes Buch 22 Euro sowie als E-Book 14,99 Euro. Der Roman stand auf der Longlist des Deutschen Buchpreises 2022. 

Nachtrag: Die leuchtende Meerwalnuss ist sehr faszinierend. Hier kann man einen Blick auf sie werfen.