Fans von Fantasy-Büchern ist sein Name auf jeden Fall ein Begriff: Der 2015 verstorbene britische Schriftsteller Terry Pratchett ist vor allem für seine 41 Romane aus der Scheibenwelt-Reihe bekannt.
Im Herbst 2009 erfuhr Pratchett im Alter von nur 59 Jahren, dass er an
einer seltenen Variante von Alzheimer erkrankt war. Er gehörte nicht zu den Menschen, die Angst vor dem Sterben an sich hatten. Seine Ängste richteten sich gegen die Art des Sterbens: Pratchett hatte mit der Diagnose realisiert, dass ihm nun die Möglichkeit verwehrt sein würde, das Ende des Leidenswegs selbst zu bestimmen. Seine Wut über diesen Zustand kanalisierte er auf eine Weise, die er am besten beherrschte: schreibend.
Der kleine Band Dem Tod die Hand reichen ist 2016 erschienen und enthält eine Rede Pratchetts, die am 1. Februar 2010 von der BBC aus der Royal Society of Medicine ausgestrahlt wurde. Die Rede hielt Pratchett anlässlich der jährlich stattfindenden Richard Dimbleby Lecture, die sich gesellschaftlichen Themen widmet. Die Reihe wird zu Ehren des ersten Kriegsberichterstatters der BBC fast jedes Jahr gesendet. Der Journalist Dimbleby war 1965 an Krebs gestorben. Seine Familie hatte damals ein gesellschaftliches Tabu gebrochen, indem sie offen über die Todesursache gesprochen hatte. Das setzte in Großbritannien erstmals eine öffentliche Diskussion über diese Krankheit in Gang.
Möglicherweise hatte die BBC Pratchett genau deshalb gebeten, für die Ausgabe des Jahres 2010 einen Vortrag zu halten, weil sie sich eben diesen Effekt von 1965 erhoffte. Pratchett schonte in seiner Rede inhaltlich weder sich noch sein Publikum. Er berichtete davon, dass kein Arzt berechtigt war, ihm das einzige palliative Alzheimer-Medikament zu verschreiben, das erhältlich war. Er kritisierte, dass der Begriff der 'Sterbehilfe' ("assisted death") in Großbritannien immer noch unter dem Schlagwort 'Beihilfe zur Selbsttötung' ("assisted suicide") läuft.
Der Autor spricht sich deutlich für eine medizinische Sterbehilfe aus, wenn Patienten unter einer todbringenden Krankheit leiden und ihr Leben ausdrücklich beenden wollen. Pratchett greift auch die oft wiederholte Kritik der Sterbehilfe-Gegner auf, die auf den möglichen Missbrauch hinweisen. Er führt eine Studie aus dem US-Bundesstaat Oregon an, über die 2007 im 'Journal of Medical Ethics' berichtet wurde. Dort wurde die Sterbehilfe legalisiert, aber es gab keine Hinweise darauf, dass sie bei wehrlosen Patienten missbräuchlich angewendet wurde.
Pratchett machte in seiner Rede einen Vorschlag, wie mit dem Thema Sterbehilfe künftig umgegangen werden sollte und löste in seiner Heimat tatsächlich eine gesellschaftliche und politische Diskussion aus.
Dem Tod die Hand reichen ist im Manhattan Verlag erschienen und kostet als gebundenes Buch 10 Euro sowie als E-Book 8,99 Euro.
Jede Woche stelle ich ein Buch vor, das ich gelesen habe und das mich auf irgendeine Weise berührt hat.
Samstag, 28. Dezember 2019
Sonntag, 22. Dezember 2019
# 222- Eine Geschichte vom Abschiednehmen
Vatersohn hat Monika Boldt ihr erstes Buch betitelt und damit in diesem einen Wort viel von dessen Inhalt gesagt.
Im Mittelpunkt steht die Familie Kampmann. Die
Handlung spielt in der Nähe von Düsseldorf in den 1970-er Jahren. Vater Kampmann ist Lokführer, die Mutter kümmert sich um die beiden Kinder und den Haushalt. Der Sohn Marten ist zehn Jahre alt, seine Schwester Liz einige Jahre älter. Auch die Oma, Vater Kampmanns Mutter, spielt eine Rolle.
Der Alltag ist berechenbar und läuft nach einem festen Muster ab. Jeder hat seine Pflichten zu erfüllen. Der Vater ist für seinen Sohn ein Vorbild, das Kind bewundert seine Fähigkeiten und Kenntnisse beim Umgang mit Zügen.
Doch dann kommt der Tag, der alles durcheinanderwirft. Ein Selbstmörder steht plötzlich auf den Gleisen, als Kampmann die Strecke fährt, die er längst auswendig kennt. Es dauert 48 Sekunden, bis der Zug nach der Vollbremsung zum Stehen kommt. Die längsten 48 Sekunden in Kampmanns Leben. Zu lang, um den unbekannten Mann zu retten.
Der Lokführer ist seelisch tief erschüttert und versucht, den Vorfall zu verarbeiten. Dabei ist er praktisch auf sich allein gestellt. Diese Belastung ist zu viel für ihn, er stirbt wenige Wochen nach dem Unfall.
Sein Tod bringt seine Familie an den Abgrund der Verzweiflung. Die Mutter schafft es in ihrem Schmerz nicht, für ihre haltlosen Kinder da zu sein. Marten versucht sich zu schützen, indem er sich einredet, dass sein Vater nur für eine Weile weg sei und irgendwann zurückkomme. Da bekommt er eine Nachricht, die seine Welt erneut ins Wanken bringt. Er fasst einen wahnwitzigen Plan.
Vatersohn erzählt von sich nach einem Schicksalsschlag lösenden familiären Bindungen, der Vorstellung der damaligen Gesellschaft, dass man mit Belastungen selbst fertig werden muss und die Zeit alle Wunden heilt und von der Erkenntnis, dass sich in der eigenen Familie keineswegs die besseren Menschen befinden. Die Leichen befinden sich allerdings nicht im Keller.
Monika Boldts Roman ist ein sehr gelungenes Debut, das nach dem Lesen der letzten Sätze noch nachhallt. Die Autorin liest hier einige Abschnitte aus ihrem Buch:
Vatersohn ist im Karl Rauch Verlag erschienen und kostet 20 Euro. Der Titel ist sehr schön mit einem strukturierten Bezugspapier und einem Lesebändchen ausgestattet.
Im Mittelpunkt steht die Familie Kampmann. Die
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© Karl Rauch Verlag |
Der Alltag ist berechenbar und läuft nach einem festen Muster ab. Jeder hat seine Pflichten zu erfüllen. Der Vater ist für seinen Sohn ein Vorbild, das Kind bewundert seine Fähigkeiten und Kenntnisse beim Umgang mit Zügen.
Doch dann kommt der Tag, der alles durcheinanderwirft. Ein Selbstmörder steht plötzlich auf den Gleisen, als Kampmann die Strecke fährt, die er längst auswendig kennt. Es dauert 48 Sekunden, bis der Zug nach der Vollbremsung zum Stehen kommt. Die längsten 48 Sekunden in Kampmanns Leben. Zu lang, um den unbekannten Mann zu retten.
Der Lokführer ist seelisch tief erschüttert und versucht, den Vorfall zu verarbeiten. Dabei ist er praktisch auf sich allein gestellt. Diese Belastung ist zu viel für ihn, er stirbt wenige Wochen nach dem Unfall.
Sein Tod bringt seine Familie an den Abgrund der Verzweiflung. Die Mutter schafft es in ihrem Schmerz nicht, für ihre haltlosen Kinder da zu sein. Marten versucht sich zu schützen, indem er sich einredet, dass sein Vater nur für eine Weile weg sei und irgendwann zurückkomme. Da bekommt er eine Nachricht, die seine Welt erneut ins Wanken bringt. Er fasst einen wahnwitzigen Plan.
Lesen?
Monika Boldts Roman ist ein sehr gelungenes Debut, das nach dem Lesen der letzten Sätze noch nachhallt. Die Autorin liest hier einige Abschnitte aus ihrem Buch:
Vatersohn ist im Karl Rauch Verlag erschienen und kostet 20 Euro. Der Titel ist sehr schön mit einem strukturierten Bezugspapier und einem Lesebändchen ausgestattet.
Freitag, 13. Dezember 2019
# 221 - Lanzarote, Politik, Selbstbestimmung & mehr: Essays 2005 - 2014
Bei diesem Buch habe ich schon beim Lesen des ersten Textes unwillkürlich zustimmend genickt. Es
handelt sich um das Vorwort zur Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte in einer 2005 von der Büchergilde Gutenberg herausgegebenen Edition. In 'Auf der anderen Straßenseite' beschäftigt sich Juli Zeh mit dem schleichenden Verlust der Menschenrechte. Nicht nur in Staaten, die hier schon länger unter Generalverdacht stehen wie z. B. China oder die Türkei, sondern auch in Deutschland und anderen westlichen Ländern.
Der Text ist ein guter Auftakt zu der Essay-Sammlung Nachts sind das Tiere der Schriftstellerin und Juristin, in der einige ihrer Reden und Essays aus den Jahren 2005 bis 2014 vorgestellt werden. Es geht dort um die Gefahren, die die Rasterfahndung, die Registrierung bislang strafrechtlich nicht in Erscheinung getretener Bürger per Fingerabdruck oder die sich ausweitenden Abhörbefugnisse von Behörden für die Gesellschaft und den einzelnen Bürger mit sich bringen.
Dieser Faden wird in weiteren Texten aufgegriffen und das Thema um einige Facetten erweitert. Zeh markiert den zeitlichen "Startschuss" für die Maßnahmen, die die Politik für nötig hält, um die Bürger vor dem Terrorismus zu schützen. Sie zeigt auf, welchen Risiken wir tatsächlich ausgesetzt sind und was von Ankündigungen islamistischer Terroristen, zu einem bestimmten Zeitpunkt einen Anschlag zu verüben, zu halten ist.
Die Autorin schafft es, mit ihrer klaren und eindringlichen Sprache auch diejenigen Leser zu sensibilisieren, die sich bislang über die Datensicherheit, die Sinnhaftigkeit der derzeitigen Terrorismusprävention und den Umgang mit ihren persönlichen Daten keine Gedanken gemacht haben.
Juli Zeh ist eine leidenschaftliche Verfechterin des Erhalts der freiheitlichen Grundsätze und der Demokratie. Sie stemmt sich gegen den schon seit Jahren währenden Trend, Menschenrechte als etwas anzusehen, dass man sich nur in guten Zeiten leisten kann, nicht aber "in Zeiten wie diesen", wie es Politiker und Lobbyisten immer wieder gern betonen. Und sie gibt ihrer Sorge Ausdruck, dass die Menschenrechte, die über mehrere hundert Jahre hinweg gewachsen sind, für als besonders schwerwiegend proklamierte Probleme geopfert werden.
Zeh zitiert Benjamin Franklin, einen der Gründerväter der USA, mit einer etwa 200 Jahre alten Äußerung: "They who can give up essential liberty to obtain a little temporary safety deserve neither liberty nor safety."* Also: "Wer die grundlegende Freiheit aufgeben kann, um ein wenig vorübergehende Sicherheit zu erlangen, verdient weder Freiheit noch Sicherheit."
Auch mit ihrer Kritik an Kanzlerin Angela Merkel hält Zeh nicht hinterm Berg. Merkel ist für sie die Vertreterin eines Schlingerkurses, die nichts tut, um dem deutschen Bildungsnotstand ernsthaft etwas entgegenzusetzen und das Thema Datenschutz konsequent ignoriert.
Man muss sich klar machen, dass die vorgestellten Reden und Essays zwischen fünf und 14 Jahren alt sind. Bei den meisten von ihnen wäre es problemlos möglich, klammheimlich das Datum ihres Entstehens zu löschen und das heutige einzusetzen. Dass sich so wenig in so langer Zeit bewegt hat, sollte uns wirklich Sorgen machen. Empfehlung: auf jeden Fall lesen!
Nachts sind das Tiere ist in der mir vorliegenden Ausgabe 2016 bei btb erschienen. Ich bedanke mich beim Bloggerportal, das mir das Buch zur Verfügung gestellt hat.
Der Titel kostet als Taschenbuch 10,99 Euro sowie als E-Book 9,99 Euro.
* Zitat aus: Benjamin Franklin, William-Temple Franklin (1818). “Memoirs of the Life and Writings of (the Same), Continued to the Time of His Death by William Temple Franklin. - London, H. Colburn 1818”, p.270

Der Text ist ein guter Auftakt zu der Essay-Sammlung Nachts sind das Tiere der Schriftstellerin und Juristin, in der einige ihrer Reden und Essays aus den Jahren 2005 bis 2014 vorgestellt werden. Es geht dort um die Gefahren, die die Rasterfahndung, die Registrierung bislang strafrechtlich nicht in Erscheinung getretener Bürger per Fingerabdruck oder die sich ausweitenden Abhörbefugnisse von Behörden für die Gesellschaft und den einzelnen Bürger mit sich bringen.
Dieser Faden wird in weiteren Texten aufgegriffen und das Thema um einige Facetten erweitert. Zeh markiert den zeitlichen "Startschuss" für die Maßnahmen, die die Politik für nötig hält, um die Bürger vor dem Terrorismus zu schützen. Sie zeigt auf, welchen Risiken wir tatsächlich ausgesetzt sind und was von Ankündigungen islamistischer Terroristen, zu einem bestimmten Zeitpunkt einen Anschlag zu verüben, zu halten ist.
Die Autorin schafft es, mit ihrer klaren und eindringlichen Sprache auch diejenigen Leser zu sensibilisieren, die sich bislang über die Datensicherheit, die Sinnhaftigkeit der derzeitigen Terrorismusprävention und den Umgang mit ihren persönlichen Daten keine Gedanken gemacht haben.
Juli Zeh ist eine leidenschaftliche Verfechterin des Erhalts der freiheitlichen Grundsätze und der Demokratie. Sie stemmt sich gegen den schon seit Jahren währenden Trend, Menschenrechte als etwas anzusehen, dass man sich nur in guten Zeiten leisten kann, nicht aber "in Zeiten wie diesen", wie es Politiker und Lobbyisten immer wieder gern betonen. Und sie gibt ihrer Sorge Ausdruck, dass die Menschenrechte, die über mehrere hundert Jahre hinweg gewachsen sind, für als besonders schwerwiegend proklamierte Probleme geopfert werden.
Zeh zitiert Benjamin Franklin, einen der Gründerväter der USA, mit einer etwa 200 Jahre alten Äußerung: "They who can give up essential liberty to obtain a little temporary safety deserve neither liberty nor safety."* Also: "Wer die grundlegende Freiheit aufgeben kann, um ein wenig vorübergehende Sicherheit zu erlangen, verdient weder Freiheit noch Sicherheit."
Auch mit ihrer Kritik an Kanzlerin Angela Merkel hält Zeh nicht hinterm Berg. Merkel ist für sie die Vertreterin eines Schlingerkurses, die nichts tut, um dem deutschen Bildungsnotstand ernsthaft etwas entgegenzusetzen und das Thema Datenschutz konsequent ignoriert.
Man muss sich klar machen, dass die vorgestellten Reden und Essays zwischen fünf und 14 Jahren alt sind. Bei den meisten von ihnen wäre es problemlos möglich, klammheimlich das Datum ihres Entstehens zu löschen und das heutige einzusetzen. Dass sich so wenig in so langer Zeit bewegt hat, sollte uns wirklich Sorgen machen. Empfehlung: auf jeden Fall lesen!
Nachts sind das Tiere ist in der mir vorliegenden Ausgabe 2016 bei btb erschienen. Ich bedanke mich beim Bloggerportal, das mir das Buch zur Verfügung gestellt hat.
Der Titel kostet als Taschenbuch 10,99 Euro sowie als E-Book 9,99 Euro.
* Zitat aus: Benjamin Franklin, William-Temple Franklin (1818). “Memoirs of the Life and Writings of (the Same), Continued to the Time of His Death by William Temple Franklin. - London, H. Colburn 1818”, p.270
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