Freitag, 30. November 2018

# 175 - Das war 1949 der Neuanfang in Deutschland

Die ersten hundert Tage - das ist der Titel des neuesten Buches von Wolfgang Brenner, der bereits beschreibt, was den Leser erwartet: Der Autor schildert anhand von verschiedenen Episoden, wie es den Deutschen unter den Alliierten und in der sowjetischen Besatzungszone (SBZ) in der ersten Zeit nach den Gründungen der BRD und der DDR ergangen ist. Die vierzehn von ihm vorgestellten Geschichten sind allesamt der breiten Öffentlichkeit praktisch unbekannt.

Von Zoodirektoren, einer gigantischen Explosion und Damenringkämpfen

 

Brenner spürt den kleinen und großen Geschichten des deutschen Alltags in der Zeit der Staatengründungen hinterher und berichtet über Intrigen, verheerende Fahrlässigkeiten oder politische Scharmützel. Da ist zum Beispiel das französische Munitionsdepot im Eifelort Prüm, das sich in einem Bergbunker befand. Kein Deutscher wusste so ganz genau, was genau dort eigentlich gelagert wurde, aber die Einwohner hatten bei dem Gedanken an eine unbekannte Sprengstoffmenge in ihrer direkten Nachbarschaft ein ungutes Gefühl. Zu Recht, wie sich dann herausstellen sollte: Am 15. Juli 1949 explodierten 500 Tonnen Munition mit einer derartigen Wucht, dass sich die Bergkuppe für einen Moment hob. Prüm, das vier Jahre lang aufgebaut worden war, lag in Schutt und Asche. Dass es nur zwölf Tote gab, war dem Einsatz des Landrats und des Gendarmerie-Hauptmanns zu verdanken. 

Auch die Frage, warum sich Schauspielerinnen und Operettensängerinnen als Ringkämpferinnen verdingten, wird beantwortet. Außerdem wird auch geklärt, warum ausgerechnet im Frankfurter Zoo, den damals Bernhard Grzimek leitete, so viele Tiere einen zunächst rätselhaften Tod starben. Gab es einen Zusammenhang zu seiner Vergangenheit als NSDAP-Mitglied? Brenner schildert diese und die weiteren Begebenheiten anschaulich, interessant und oft mit einem Augenzwinkern. 

Schwieriger wird es allerdings in den Abschnitten, die sich den Ereignissen in Berlin widmen und bei denen es um politische Scharmützel zwischen den Alliierten im West- und den Sowjets im Ostteil der Stadt geht. Die Tragweite, die manche Entscheidungen oder Vorfälle auf der einen oder anderen Seite offenbar gehabt haben, hat sich mir nicht durchgehend erschlossen. Manches hätte sicher etwas kürzer ausfallen dürfen, anderes etwas konkreter. Auch ein Personenverzeichnis wäre schön gewesen; viele Namen sagten mir noch etwas, andere waren mir völlig unbekannt. Ich vermute, dass die Zahl der Unbekannten bei jüngeren Lesern noch deutlich höher ist.

Die ersten hundert Tage wirft ein Schlaglicht auf den Neuanfang der beiden deutschen Staaten und erklärt, wie die Deutschen damals "tickten" und wer wirklich das Sagen hatte. Brenners Buch macht auch deutlich, dass sich die Deutschen kaum für politische Fragen interessierten. Das eigene Überleben war für die meisten weit wichtiger.

Die ersten hundert Tage ist im Herder Verlag erschienen und kostet als gebundene Ausgabe 24 Euro sowie als epub- oder Kindle-Edition 16,99 Euro. 

Sonntag, 18. November 2018

Statt einer Rezension: So war's auf der Buchlust 2018



Kennt Ihr die Buchlust in Hannover? Das ist eine kleine Buchmesse, die jedes Jahr im Künstlerhaus in Hannover stattfindet und auf der sich unabhängige Verlage präsentieren. In diesem Jahr hatte die Buchlust ihr 25-jähriges Jubiläum, und passend dazu waren 25 Verlage vor Ort.

Ich war dieses und letztes Jahr auf der Frankfurter Buchmesse und 2017 auf der Leipziger Buchmesse. Auch, wenn die unabhängigen Verlage dort in einem separaten Bereich untergebracht sind, stehen sie in unmittelbarer Konkurrenz zu den großen Publikumsverlagen. Die meisten Besucher steuern zunächst deren Stände an und gucken bei den kleinen Unabhängigen nur dann vorbei, wenn sie noch ein bisschen Zeit übrig haben. Das ist sehr schade, weil sich unabhängige Verlage gern um Buchprojekte abseits des Mainstreams kümmern.

Dieser Konkurrenz müssen sich die Unabhängigen auf der Buchlust nicht aussetzen. Dort kommt man mit kompetentem Standpersonal ins Gespräch und kann in Ruhe stöbern.
Immer wieder habe ich mein Smartphone gezückt und Fotos der Bücher gemacht, die mich interessiert haben. Ich werde versuchen, sie Euch nach und nach vorzustellen. Hier ist meine "Ausbeute":


Mit diesem Buch liebäugele ich schon eine ganze Weile. Spätestens, seit diese Graphic Novel zu den zehn Gewinnern der Hotlist 2017 gehörte, war mein Interesse geweckt.













Was kann man anderes über dieses Buch sagen als "Toll!", wenn man sich diese Bilder ansieht?








Dieses Foto ist leider etwas verwackelt, aber es geht in diesem Buch um einen Prozess gegen eine Ärztin, der über Jahre hinweg den Raum Hannover beschäftigt hat. Dr. Mechthild Bach war viele Jahre niedergelassene Internistin und hatte Belegbetten in einem Krankenhaus bei Hannover. Eines Tages wurde sie von ehemaligem Krankenhauspersonal angezeigt: Sie sollte für den Tod von mehreren Patienten verantwortlich sein. Sie wurde wegen Mordes angeklagt und hat immer gesagt, sie würde auf keinen Fall eine Haft antreten. Das hat sie auch nicht, da sie ihrem Leben ein Ende setzte, bevor es soweit kommen  konnte. Alle, die sie als Patienten, Angehörige oder Freunde kannten, waren sich sicher, dass an den Vorwürfen gegen sie nichts dran war. Sie wurde durchgehend als kompetent und engagiert bezeichnet. Ein Gerichtsverfahren, das es wirklich in sich hatte.

Die weiteren Favoriten, nachdem ich ein bisschen in ihnen gelesen hatte:














  





Bei der nächsten Buchlust bin ich sicher wieder dabei.

Hier habe ich weitere Eindrücke von dieser Buchmesse geschildert, die die Atmosphäre dort beschreiben und auch erzählt, was mir besonders aufgefallen ist.



Freitag, 9. November 2018

# 174 - Wie starb der Irokesen-Chief?

Mit seinem Buch Ein Irokese am Genfersee bettet Willi Wottreng eine wahre Geschichte in einen fiktiven Rahmen. Die Zürcher Staatsanwältin Ursula Haldimann begleitet eine Hausdurchsuchung bei einem Antiquitätenhändler, der der Hehlerei verdächtigt wird. Der Verdacht stellt sich als falsch heraus, aber zu den beschlagnahmten Gegenständen gehört auch ein Fotoalbum, in dem Haldimann ein ungewöhnliches Bild findet: Ein Irokesen-Chief sitzt mit Kopfschmuck und traditioneller Kleidung in einer bürgerlichen Stube an einem Tisch. Um ihn herum befinden sich sitzend oder stehend fünf Frauen und Männer. 

Der Antiquitätenhändler weiß, was es damit auf sich hat: Der Mann mit dem Federschmuck ist Deskaheh, der im Auftrag der "Six Nations", der sechs kanadischen Irokesenstämme, 1923 nach Genf reiste, um dort vor dem Völkerbund ihr dringliches Anliegen vorzutragen und um Unterstützung zu bitten. Die im Gebiet des "Grand River" in der Provinz Ontario lebenden Irokesen erkannten den kanadischen Staat nicht an, sondern sahen sich als eigenes unabhängiges Volk, das die Kanadier als ihre Nachbarn tolerierte. Das führte zu Konflikten mit dem kanadischen Staat, die sich zu Beginn des 20. Jahrhuderts deutlich verschärften. Das Anliegen der Irokesen führten diese darauf zurück, dass König George III. 1784 Ländereien am Grand River erworben und die Six Nations dazu eingeladen hatte, dorthin auszuwandern; im Gegenzug wurde ihnen ihre Unabhängigkeit zugesichert. Das Foto wurde im Haus von Deskahehs Gastgeber in Zürich aufgenommen.

Deskaheh war zäh und ließ sich durch Misserfolge von seinem Vorhaben nicht abbringen. Auch die schlechten Nachrichten, die ihn aus seiner Heimat erreichten, brachten ihn nicht dazu, von seinem Ziel abzuweichen: Unter den Irokesen gab es Intrigen, und die Indianerbehörde machte ihnen das Leben schwer, um sie zum Aufgeben zu bringen. Deskahehs Kampf für die Six Nations trug Züge des Kampfes von Don Quijote gegen die Windmühlenflügel.

Von Deskaheh ist eine Rede aus dem März 1925 überliefert, die er drei Monate vor seinem Tod nach seiner Rückkehr aus der Schweiz in den USA im Radio gehalten hat:
 "My skin is not red but that is what my people are called by others. My skin is brown,
light brown, but our cheeks have a little flush and that is why we are called red skins.
We don’t mind that. There is no difference between us, under the skins, that any
expert with a carving knife has ever discovered."
Deskahehs Tod 1925 gibt Haldimann nun Anlass zu Spekulationen: Starb der Chief wirklich eines natürlichen Todes oder wurde er ermordet?

Wie war's?

Ein Irokese am Genfersee greift historisch belegte Tatsachen auf, von denen ich bislang nichts gewusst hatte. Wottreng hat die Geschichte um Deskaheh und den Sprung in die Gegenwart zur Staatsanwältin Haldimann zu einer interessanten Handlung verwoben. Der einzige Makel an diesem lesenswerten Buch ist, dass die Frage nach der wahren Todesursache des Chiefs leider nur kurz angerissen wird. 

Ein Irokese am Genfersee  ist im Bilgerverlag Zürich in einer gebundenen Ausgabe erschienen und kostet 24 Euro.

Samstag, 3. November 2018

# 173 - Ein Kind wird gefunden, das niemand vermisst

Die Geschichte vom alten Kind ist das erste Buch der bekannten und mit mehreren Preisen ausgezeichneten Autorin Jenny Erpenbeck und mein erstes, das ich von ihr gelesen habe. Das Kuriose: Obwohl es eine Handlung, eine Spannungskurve oder ein anderes stilistisches Merkmal, das einen Roman normalerweise ausmacht, nicht gibt, übt es so etwas wie eine Anziehungskraft aus.

Wenig Handlung, viel Atmosphäre

 

Eines Nachts wird ein Mädchen auf der Straße gefunden. Außer einem leeren Blecheimer hat es nichts bei sich. Man erfährt nur, dass es vierzehn Jahre alt ist, sonst nichts. Da das Mädchen nicht als vermisst gemeldet wurde und sich auch keine Angehörigen ausfindig machen lassen, wird es in ein Heim gegeben. Dort wird ihm alles, was es hat, weggenommen, und es wird neu ausgestattet. Eine deutliche Zäsur, die den alten vom neuen Lebensabschnitt trennt.

Das namenlose Mädchen ist größer als alle anderen Gleichaltrigen im Heim und in der Schule, aber auf eine seltsame Art kraftlos. Seine Statur ist konturlos und schwammig, sein Gesicht nichtssagend und es spricht so gut wie nie. Die saloppe Redewendung "Wenn sie reinkommt, denkt man, jemand sei hinausgegangen" passt hier genau. Das Mädchen schwimmt mit den Mitbewohnern und -schülern mit und ist froh, auf der untersten Stufe der Gruppenhierarchie zu stehen: Ist man dort, muss man um nichts kämpfen. Doch bald merken die Gleichaltrigen, dass sein Verhalten einen Vorteil hat: Das, was dem Mädchen erzählt wird, versinkt in ihm wie in einem schwarzen Loch und es erfährt garantiert niemand anders davon; das, womit man es beauftragt, erledigt es, ohne zu protestieren oder Fragen zu stellen.
Ihre Unscheinbarkeit und gewissermaßen Unsichtbarkeit ermöglichen es dem Mädchen, Dinge zu sehen und zu erfahren, die allen anderen verborgen bleiben. Aber auch Beobachtungen, die bei anderen Menschen dazu geführt hätten, dass sie sie wenigstens einem anderen Menschen anvertraut hätten, sinken folgenlos in ihr Bewusstsein hinab.

Die Kraftlosigkeit und Müdigkeit des Mädchens nehmen immer stärker von ihm Besitz. Eines Morgens sind sie so übermächtig, dass sie nicht mehr aufstehen kann. Wenn man in einem Leben, das derart von Schwäche und Stille geprägt ist wie das dieses Mädchens, überhaupt von einem Wendepunkt sprechen kann, dann ist er jetzt gekommen.

Wie war's?

 

Geschichte vom alten Kind wurde nach seinem Erscheinen 1999 hoch gelobt. Jenny Erpenbeck ist mit diesem Buch ein Roman gelungen, der sich von den meisten abhebt, die mit einer nachvollziehbaren Handlung aufwarten können. Wer Lust hat, sich auf eine ungewöhnliche "Schreibe" einzulassen, der sollte dieses Buch lesen.
Geschichte vom alten Kind ist in der mir vorliegenden Taschenbuchausgabe 2001 bei btb zum Preis von 7,99 Euro erschienen. Als epub- oder Kindle-Edition kostet es 6,99 Euro.