Der Altphilologe, Schriftsteller, Übersetzer und Kritiker ist mehr als 30 Jahre Professor an der Eberhard Karls Universität in Tübingen gewesen. Er war als Dauergast in den Feuilletons und kulturellen Fernsehsendungen auch einem breiten Publikum außerhalb des Universitätsbetriebs bekannt. Dieser gebildete Mann, dessen schärfste Waffe das Wort war, litt in den letzten Jahren seines Lebens an Alzheimer, einer Krankheit, deren Verlauf sich mithilfe von Medikamenten für einen begrenzten Zeitraum abbremsen, aber nie heilen lässt.
Sein Sohn Tilman Jens veröffentlichte 2009 das Buch Demenz - Abschied von meinem Vater, in dem er sich mit dem Verlauf der Krankheit und den Persönlichkeitsveränderungen, die er an seinem Vater beobachten konnte, auseinandersetzte. Aber auch das Thema Sterbehilfe kommt immer wieder zur Sprache.
Doch auch wenn die ersten Ausfallerscheinungen Hinweise auf eine beginnende Demenz gegeben hatten, glaubte die Familie zunächst an eine Rückkehr der Depression, die Walter Jens in den 1980er Jahren durchlitten hatte. Im Laufe der folgenden Jahre nahm er nun eine Reihe von Psychopharmaka, die er sich von unterschiedlichen Ärzten an verschiedenen Orten verschreiben ließ.
Die Hinweise auf eine Demenz wurden jedoch immer deutlicher: Es kam zu Gewalt gegen seine Frau Inge, das Leben mit Jens wurde für sie immer schwieriger. Die Rollen kehrten sich um. Aber noch immer sprachen auch die Ärzte von psychischen Problemen, empfahlen allerdings wegen Jens' Medikamentenabhängigkeit eine Entziehungskur in einer geschlossenen psychiatrischen Einrichtung. Rückblickend zieht Tilman Jens den Schluss, dass die Familie von den dortigen Ärzten bewusst im Unklaren gelassen wurde, während immer von einer "atypischen Depression" die Rede war. Das hält er auch dem emeritierten Tübinger Professor Karl-Josef Kuschel vor, der in seinem 2008 erschienenen Porträt über Walter Jens dessen Demenz vollständig außen vor ließ; so, wie eine Schande, die das Bild, das man von einem Menschen hat, befleckt.Walter Jens hatte sich schon viele Jahre vor dem Beginn seiner Alzheimer-Erkrankung gewünscht, dass der ihm vertraute Hausarzt seinem Leben mit den richtigen Medikamenten ein Ende setzen sollte, wenn es nicht mehr lebenswert sein würde. Diesen Zeitpunkt hielt Walter Jens in einem geistig klaren Moment 2005 für gekommen und bat seinen Sohn darum, das Nötige zu veranlassen. Seine Familie hatte ihm die inzwischen gesicherte Diagnose Alzheimer verschwiegen und statt dessen nur von Entzugserscheinungen nach dem Absetzen der Psychopharmaka gesprochen. Doch der Arzt hatte noch einen anderen Vorschlag: Mit dem Präparat Memantin gelang es, den Fortschritt der Krankheit für einige Monate aufzuhalten.
Aber der Wunsch, zu sterben, kehrte zurück: Anfang Januar 2007 sagte Walter Jens gegenüber seinem Sohn und seiner Frau, dass er jetzt gehen wolle. Es sei jetzt genug. Die beiden konnten diesen Wunsch verstehen, doch nach wenigen Minuten Stille fügte Walter Jens hinzu: "Aber schön ist es doch!" Sollte man einem Menschen in dieser Gemütsverfassung zu einer aktiven Sterbehilfe verhelfen? Sie taten es nicht.Ein schwieriges Thema - nein, eigentlich zwei
Bevor ich mich diesem mit etwa 140 Seiten relativ kurzen Buch schon vor ein paar Jahren zugewendet habe, musste ich einmal tief durchatmen. Keines der beiden Themen, um die es hier im Kern geht, löst Heiterkeitsausbrüche aus. Ich mag mir weder vorstellen, selbst in den mentalen Sümpfen einer Demenz zu versinken und von den Entscheidungen anderer abhängig zu sein noch, mich jemals in einer Situation zu befinden, die mich über das vorgezogene Ende meines Lebens nachdenken lässt. Trotzdem, oder auch gerade deshalb, finde ich es wichtig, sich mit diesen Gedanken zu beschäftigen und für sich Entscheidungen zu treffen bevor es andere, die es "gut" meinen, tun.
Tilman Jens ist für sein Buch, in dem er auch offen seine eigene Gefühlslage während dieser Jahre schildert, von der Presse teilweise harsch abgestraft worden. Besonders vernichtend trat dabei die Kolumnistin einer überregionalen Wochenzeitschrift auf, die dem Sohn vorwarf, die Krankheit des Vaters zu romantisieren. Auch die Entdeckung der NSDAP-Mitgliedschaft von Walter Jens als Auslöser der Alzheimer-Krankheit findet sie "abwegig" und jenseits aller medizinischer Vernunft.
Warum eine Literaturkritikerin medizinische Bewertungen anstellt, bleibt ihr Geheimnis. Die Forschung geht heute tatsächlich davon aus, dass u. a. seelische Belastungen, Burn-Out oder Stress als Alzheimer auslösende Faktoren infrage kommen.Tilman Jens musste nicht davon ausgehen, dass sein Vater dieses Buch verurteilt hätte. Walter Jens selbst ist mit seiner Depression, unter der er rund 25 Jahre zuvor litt, offen umgegangen und hat nichts verheimlicht. Das Buch ist sehr mitfühlend geschrieben und spiegelt die Hilflosigkeit der ganzen Familie wider. An vielen Stellen ist Tilman Jens die Erschütterung anzumerken, die mit dem geistigen Verfall des Vaters einhergeht und die ich aus eigenem Erleben nachempfinden kann.
Demenz - Abschied von meinem Vater sollte dazu beitragen darüber nachzudenken, wie wir mit uns und denjenigen, die uns nahe stehen, umgehen wollen. Sowohl Demenz als auch Sterbehilfe sind Themen, die die meisten von uns gern mit einem gedanklichen "später" wegschieben. Aber es ist besser, so etwas wie einen Plan zu haben, um dann, wenn sich die Problematik stellt, vorbereitet zu sein.
Walter Jens starb im Juni 2013 und wurde 90 Jahre alt. Ohne Sterbehilfe.