Freitag, 28. Oktober 2022

Frankfurter Buchmesse 2022 - ein Rückblick auf spannende Tage

Anstelle einer Rezension erzähle ich heute von
meinem Besuch auf der Frankfurter Buchmesse 2022. Mit meiner Begleiterin bin ich vom 19. bis zum 21. Oktober durch die Messehallen gestreift. Hat es sich gelohnt?

Eines vorweg: An die Zahlen "vor Corona", also aus dem Jahr 2019, kam die Buchmesse nicht heran. Weniger Aussteller, freie Flächen in den Hallen und weniger Besucher sind für die Einnahmen der Frankfurter Buchmesse GmbH nicht günstig, für die Besucherinnen und Besucher ist der Aufenthalt aber wesentlich entspannter. Wer auf der Buchmesse 2019 gewesen ist (Stichwort: Messesamstag, Halle 3.0), weiß, was ich meine.

Auf der Agora sah man sofort, welches Land in diesem Jahr der Ehrengast war: Spanien. Das weltbekannte Museo del Prado aus Madrid hatte dort seine Wanderausstellung La Prado en las calles (Der Prado in den Straßen) aufgebaut, die schon in zahlreichen Städten wie z. B. Havanna, Guatemala-Stadt oder Manila sowie mehreren spanischen Städten zu sehen war. Dabei wurden die wichtigsten Meisterwerke des Museums als Reproduktionen in Originalgröße gezeigt. Das hat natürlich nichts mit Büchern zu tun, ist aber ein schöner Einstieg, um das Land kulturell besser kennenzulernen.

In Halle 3.0 zogen vor allem die Stände der größeren Verlagshäuser die Interessenten an. Uns auch. Aber ich will hier nicht auf einzelne Bücher verweisen, die mir ins Auge gefallen sind, dann würde der Text zu lang werden. Es soll hier mehr um die Besonderheiten gehen, die mir besonders gefallen haben. 

Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass ich vor dieser Messe noch nie von der Stiftung Illustration mit dem Bilderbuchmuseum Troisdorf gehört hatte. Die Stiftung wurde 2005 von den Städten Troisburg und Siegburg gegründet und will die Illustrationskunst fördern. Das Bilderbuchmuseum ist europaweit das einzige dieser Art. Es verfügt über Sammlungen mehrerer Illustratorinnen und Illustratoren und veranstaltet Ausstellungen. Am Stand wurden einige Illustrationen gezeigt, und den anwesenden Mitarbeiterinnen war die Freude an ihrer Tätigkeit anzumerken.

Ebenfalls in Halle 3.0 wurden wir fast überfallartig von einer Frau angesprochen, die um Aufmerksamkeit für die mittlerweile zehn Bücher ihres Mannes aus dem Spica-Verlag warb. Sie trug uns die Inhalte aller Mystery Thriller vor, die ihr Mann bislang veröffentlicht hatte. Schon das war beeindruckend, aber ihr Engagement war es noch mehr. Mit diesem starken Rückhalt kann nichts mehr schiefgehen, oder? Danke Frau Roth für das sehr nette Gespräch.

In Halle 3.1 haben wir bei der Bundeszentrale für politische Bildung einen Stopp eingelegt. Dort waren alle aktuellen Publikationen zur Ansicht ausgelegt. Wer sich für Politik und Geschichte interessiert, ist dort genau richtig. Wer nicht, sollte sich beim nächsten Mal trotzdem dort umschauen und bei den spannenden Titeln "Feuer fangen".

Ein paar Meter weiter war der Stand des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung. Ich glaube, dass die wenigsten Menschen, die dort schauten, dies taten, um sich zu informieren. Dazu hätten die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter vielleicht etwas offensiver sein und auf die Menschen aktiv zugehen müssen. Viele, die dort stoppten, griffen nach einem der Give-Aways und zogen weiter. Wie vielen Leuten ist die tolle Außenwand des Standtresens aufgefallen? Ich habe die Bepflanzung erst wahrgenommen, als ich unmittelbar davor stand und mir der Geruch von Basilikum in die Nase stieg. Die ganze Seite ist mit Kräutertöpfen bestückt gewesen, die jeden Abend gegossen wurden. Der Herr links äußerte die Hoffnung, dass die Kräuter nach der Messe nicht vernichtet, sondern genutzt werden.

Im selben Gang hatte der Diogenes Verlag seinen Stand. Dort habe ich mir ein Buch angesehen, von dem ich schon begeisterte Rezensionen gelesen hatte: Papyrus von der spanischen Autorin Irene Vallejo. Es geht um die Geschichte der Bücher und darum, wann der Mensch mit dem Lesen begann und welche Entwicklung dadurch ausgelöst wurde. Der Titel liest sich nicht wie ein trockenes Geschichtsbuch, sondern wie ein spannender Roman. Ich musste mich förmlich von diesem Buch losreißen.
Dort waren auch zwei Promis anwesend: Die Krimiautorin Donna Leon und der Literaturkritiker Denis Scheck. Besonders spannend war daran aber eher nichts.

Der Besuch beim Polar Verlag durfte auf keinen Fall fehlen. Völlig zu Recht bezeichnet er sich als "DER Verlag für anspruchsvolle Kriminalromane". Den Kontakt zwischen uns gibt es bereits seit einigen Jahren und ich freue mich sehr, dass der Verlag die letzten schwierigen Jahre gut überstanden hat und sich seine Fans auf viele weitere spannende Pageturner freuen können. Die Rezensionsexemplare, die mir von Frau Kuhlmann überreicht wurden, sind Pickard County von Chris Harding Thornton und Pleasantville von Attica Locke, das am 15. November 2022 auf den Markt kommt. In meinem Bücherregal stehen bereits etliche Polar-Krimis, und ich könnte jeden empfehlen.

Die Austeller in Halle 4.0 kamen mehrheitlich aus Nord- oder Osteuropa sowie aus arabischen Ländern. Die meisten hatten Literatur in ihren Heimatsprachen ausgelegt, was für uns eher uninteressant war.

Sehr interessant hingegen war das Gespräch mit Margarita Stein, der Geschäftsführerin der Anthea Verlagsgruppe aus Berlin. Der Verlag veröffentlicht Titel aus den Bereichen Lyrik, Belletristik und Zeitgeschichte und kann von sich sagen, das Werk eines Literaturpreisträgers in seinem Programm zu haben: 2021 gewann der bulgarische Autor Georgi Bărdarov mit seinem Roman Absolvo Te den Literaturpreis der Europäischen Union. Ich habe mich sehr gefreut, als er zufällig zum Anthea-Stand kam und mir ein Rezensionsexemplar signiert hat. Das Buch werde ich demnächst hier vorstellen.

Frau Stein empfahl noch ein weiteres Buch aus ihrem Programm: In ihrem biografischen Roman Glut im Eis hat Inge Ruth Marcus sich dem bewegten Leben ihrer Großeltern gewidmet, das von Flucht geprägt war. Die Lebenslinien von vier Generationen wurden davon beeinflusst, dass sich immer wieder politische Verhältnisse änderten und die Familie nur deshalb ihr Leben retten konnte, weil sie in einem (weiteren) fremden Land eine neue Heimat suchte. 

Wer sich im Bildungsbereich umsehen wollte, war in Halle 4.2 richtig. Wissenschaftsverlage und Universitäten zeigten dort ihr Repertoire. Das war interessant, aber hier reichte ein grober Überblick.


Völlig klar, dass ein Besuch im Forum, wo der Ehrengast Spanien seine Sonderausstellung zeigte, nicht fehlen durfte. Das Motto lautete "Creatividad Desbordante", was mit "Sprühende Kreativität" übersetzt werden kann. Diese sprühende Kreativität hat sich vor allem in technischen Dingen gezeigt: Aus in Mikrofone gesprochenen Wörtern wurden bunte Farbbilder, die auf Standbildschirmen zu sehen waren; ein Drucker stellte Geschriebenes in Brailleschrift dar; ein mechanischer Arm schrieb
 live ein Universal Poem, ein von der Menschheit geschriebenes Gedicht; auf einer Installation aus Glasscheiben und Licht stand ein Gedicht, das einer Paula Romero gewidmet war.
In einem Teil des Raums waren weiße, mit spanischen Wörtern bedruckte Stoffbahnen aufgehängt worden, die sich bei jedem Luftzug leicht bewegten. Nicht zuletzt hatte der Ehrengast an einer der Wände eine hohe geschwungene Bücherwand aufgestellt, wo überwiegend spanischsprachige Titel, aber auch Übersetzungen gezeigt wurden. Davor war eine Landschaft aus Sitzschläuchen aufgebaut worden. Vieles war zwar schön anzusehen, aber mir hat der besondere Bezug zu Spanien und die Vermittlung des dortigen Lebensgefühls gefehlt. Die Exponate hätten nach einem Sprachenaustausch von jedem beliebigen anderen Land stammen können. In der Vergangenheit hat es Ausstellungen von Ehrengästen gegeben, denen es besser gelungen war, eine Brücke zu ihrer Heimat zu schlagen.




Zum guten Schluss stand ein Besuch in Halle 6 an.
Ausschnitt Stand der chin. Regierung

Hier waren internationale Verlage vertreten. China war mit großen Ständen sehr präsent. Ein Stand wurde von der chinesischen Regierung betrieben, zwei weitere von chinesischen (unabhängigen?) Verlagen. Was nicht fehlen durfte, war der 4-teilige Bestseller des chinesischen Staatspräsidenten Xi Jinping China regieren. Er wurde auf dem Regierungsstand von weiteren hilfreichen Büchern Xis sowie Titeln, die die Großartigkeit des Reichs der Mitte verdeutlichten, eingerahmt. Xis Buch gibt es selbstverständlich in etlichen weiteren Sprachen.
Auffällig war das völlige Fehlen von Belletristik oder Lyrik. Das Buchangebot beschränkte sich auf Titel, die - sagen wir mal - "hilfreich" waren. 

Interessant war auch, dass die asiatischen Verlage (abzüglich China) einen Schwerpunkt auf Kinderbücher gelegt hatten. Im Gegensatz zu deutschen Exemplaren hatten diese Bücher kreischbunte Cover, die in Deutschland vermutlich viele Eltern eher davon abhalten würden, solch ein Buch zu kaufen.
Ich zeige hier einige allgemeine Impressionen aus der Halle, um einen Eindruck zu vermitteln:






Dem Aufruf, der am Eingang zum Forum angebracht war, schließe ich mich an und beende damit meinen Bericht von der Frankfurter Buchmesse 2022. Wenn es geht, werde ich im nächsten Jahr wieder dort sein. Aber wer weiß schon, was in einem Jahr ist.


Nachtrag: Viele werden wissen, dass ich mein Leben auf "drei Beinen" verbringe. In einigen Tagen werde ich in meinem anderen Blog Das tägliche Gruseln darüber schreiben, wie mir die Frankfurter Buchmesse aus meiner Perspektive als behinderte Besucherin gefallen hat. Wenn es soweit ist, werde ich das bei Twitter und Instagram veröffentlichen.
Nachtrag 2: Eben habe ich den Blogtext auf Das tägliche Gruseln veröffentlicht. Schaut vorbei!

Sonntag, 23. Oktober 2022

# 368 - Ein simpler Eingriff - mit Folgen

Meret ist Mitte 20, arbeitet seit acht Jahren als Krankenschwester in einer namenlosen Klinik und wohnt in einem Schwesternwohnheim, in dem Privatsphäre ein Fremdwort ist. Man teilt sich das Zimmer mit einer anderen Krankenschwester, es gibt einen Gemeinschaftswaschraum, die Mahlzeiten außerhalb des Dienstes werden zusammen im Speisesaal eingenommen. Yael Inokai zeichnet in ihrem Roman Ein simpler Eingriff das Bild eines durchstrukturierten und gleichförmigen Lebens, dessen Erschwernisse zwar erkannt, aber kritiklos hingenommen werden.

Auch Meret nimmt sie hin. Was sie motiviert, ist die besondere Aufgabe, für die sie eingeteilt wird: In der Klinik werden experimentelle Gehirnoperationen an Menschen durchgeführt, die psychisch auffällig geworden sind. Während des Eingriffs bleiben die Patientinnen und Patienten wach. Merets Auftrag ist, ihnen die Angst zu nehmen und sie während der OP zu beschäftigen. Sie glaubt den Aussagen des Chefarztes, dass es sich hierbei um einen simplen Eingriff handele, der anschließend vorübergehende Schmerzen auslösen könne. Danach sei alles wieder gut und der Mensch von seinem auffälligen Verhalten geheilt.

Dann jedoch passieren zwei Dinge, die das Leben der jungen Krankenschwester und ihre bisherigen Einstellungen grundlegend verändern: Meret bekommt mit Sarah eine neue Zimmernachbarin. Die beiden Frauen verlieben sich ineinander und versuchen, ihre Gefühle vor allen anderen geheim zu halten. Es ist völlig klar, dass weder ihr Arbeitgeber noch ihre Familien oder gar die Gesellschaft ein lesbisches Paar akzeptieren würden.
Die Aufnahme einer jungen Frau aus einer wohlhabenden und angesehenen Familie in das Krankenhaus verändert Merets bisherige kritiklose Haltung zu den Gehirnoperationen ihres Chefarztes. Marianne Ellerbach hat immer wieder Wutanfälle, die mit dem chirurgischen Eingriff behoben werden sollen. Es drängt sich der Verdacht auf, dass die OP vor allem den auf den guten Ruf der Familie bedachten Eltern wichtig ist, die nicht mehr erleben wollen, dass ihre erwachsene Tochter in der Öffentlichkeit aus der Rolle fällt. Doch die Operation misslingt. Marianne fällt ins Koma und wird als Pflegefall in eine spezielle Einrichtung abgeschoben.

Lesen?

Ein simpler Eingriff hat mir aus mehreren Gründen gut gefallen. Yael Inokai gelingt es, ihre Kritik an patriarchalischen Strukturen und Denkmustern, Homophobie sowie den Trend zur Optimierung in ihrem Roman miteinander zu verweben. Obwohl Ort und Zeit der Handlung nicht benannt werden, liegt die Vermutung nah, dass Inokais Roman in der Vergangenheit spielt. Das, was die Autorin beschreibt, erinnert stark an die Lobotomie, die von dem portugiesischen Neurologen António Caetano de Abreu Freire Egas Moniz in den 1930-er Jahren entwickelt und vom US-Psychiater Walter Freeman fast schon exzessiv betrieben wurde. Die Idee dahinter war, dass man Menschen von psychischen Leiden heilen kann, wenn man einige Nervenbahnen in ihren Gehirnen durchtrennt. Die Methode, die zahllose Menschen in tiefes Leid gestürzt hat und für die Moniz 1949 sogar den Nobelpreis erhielt, ist längst verboten. 

Bei der Schilderung des Leids von Marianne hatte Yael Inokai möglicherweise das tragische Schicksal von Rosemary Kennedy, einer Schwester von John F. Kennedy, vor Augen. 1941 wurde an ihr eine Lobotomie vollzogen, vermutlich, weil sie Legasthenikerin und leicht geistig zurückgeblieben war. Die Familie fürchtete, dass das Verhalten ihrer "ungebärdigen" Tochter dem Ruf der Familie schaden würde.  Der von Freeman vollzogene Eingriff schlug fehl, Rosemary Kennedy verbrachte den Rest ihres 86-jährigen Lebens in einer Heilanstalt, wo sie 2005 starb. Ihr Vater Joseph Kennedy, auf dessen Betreiben die Lobotomie an seiner Tochter durchgeführt worden war, besuchte sie nie.

Ein simpler Eingriff hat mich sehr berührt und stand auf der Longlist des diesjährigen Deutschen Buchpreises. Schade, dass es der Roman nicht in die Shortlist geschafft hat.

Ein simpler Eingriff ist 2022 im Hanser Verlag erschienen und kostet als gebundene Ausgabe 22 Euro sowie als E-Book 16,99 Euro.


Donnerstag, 13. Oktober 2022

# 367 - Nimm den Raum ein: So lernen Frauen das freie Sprechen

Die Britin Viv Groskop ist Journalistin, Stand-Up-Comedian und mit ihrem Buch How to own the room Bestsellerautorin. Im September 2022 ist der Erfolgstitel nun auch auf Deutsch erschienen und es stellt sich die Frage: Was ist der Grund für die Begeisterung der Leserinnen - und vielleicht auch Leser?

Von Frauen und der Magie brillanter Reden lautet der Untertitel, und tatsächlich haben es Frauen schwerer, vor Publikum gehört zu werden. Das hat verschiedene Gründe, denen Groskop hier auf den Grund geht und Hilfestellungen gibt. Ohnehin sind die meisten Bücher, die sich mit Rhetorik beschäftigen, auf Männer ausgerichtet. Kein Wunder, denn fast alle wurden von Männern geschrieben.

Doch was meint Groskop, wenn sie von "to own the room", also davon, "den Raum zu besitzen", schreibt? Wer vor Publikum spricht, weiß, dass es oft nicht so einfach ist, es für sich zu gewinnen und zum wirklichen Zuhören zu bringen. Auch traditionelles Verhalten führt dazu, dass zum Beispiel sprechende Frauen häufiger von Männern unterbrochen werden oder ihnen ein wenig wertschätzender Ton entgegengebracht wird. Gar nicht so einfach, das nicht nur auszuhalten, sondern trotzdem eine gute Präsentation zu liefern, die bei den Zuhörenden Respekt und Aufmerksamkeit erzeugt.

Viv Goskop empfiehlt jedoch kein festes Muster, an das sich Frauen halten sollen, um erfolgreiche Redenrinnen zu sein. Das wird auch daran deutlich, dass sie unterschiedliche Frauen beschreibt, die ihr Publikum auf ihre individuelle Art und Weise "mitnehmen": Angela Merkel, Michelle Obama und Oprah Winfrey sind nur einige Beispiele. Aber was zeichnet sie aus? Waren sie gewissermaßen "von Natur aus" begnadete Rednerinnen? Sind ihre Reden immer perfekt? Und was hat es mit dem "Happy High Status" auf sich, von dem immer häufiger die Rede ist?

Lesen?

In zwölf Kapiteln schreibt Viv Groskop nicht nur über Rednerinnen, die ihren eigenen Stil entwickelt haben und ihre Zuhörerinnen und Zuhörer fesseln können, sondern gibt auch praktische Tipps, die die eigenen Nerven beruhigen und den Fokus auf das Wesentliche richten sollen. Wo hat man sonst schon mal gelesen, dass es hilft, durch die Füße zu "atmen"? 

Die Pandemie hat den Trend zu Videokonferenzen vorangetrieben. Ihnen widmet die Autorin ein eigenes Kapitel, in dem es nicht nur um das richtige Sprechen, sondern auch um praktische Hinweise geht: Wohin schaut man? Wann spricht man? Wie professionell muss ein Video-Meeting sein?

Frauen, die ihre Angst vor dem freien Sprechen verlieren wollen, sind mit diesem Buch gut beraten.

How to own the room ist 2022 im Haufe Verlag erschienen und kostet als broschierte Ausgabe 19,95 Euro sowie als E-Book 16,99 Euro.



Freitag, 7. Oktober 2022

# 366 - Skurrilität gepaart mit autobiographischen Inhalten

Jan Faktor wurde in Prag geboren und siedelte 1978
wegen der Liebe nach Ost-Berlin über. Zehn Jahre zuvor hatte er in Prag Annette Simon, die Tochter der Schriftstellerin Christa Wolf, kennengelernt. Sein Sohn Benjamin nahm sich vor zehn Jahren im Alter von 33 Jahren das Leben.

Die Biographie eines Autors vorzustellen gehört normalerweise nicht an den Anfang einer Rezension. Ich mache hier eine Ausnahme, weil es genau das ist, worum es in Jan Faktors aktuellem Roman Trottel geht.

Der Suizid seines psychisch kranken Sohnes ist das größte Trauma in Faktors Leben. Immer wenn es in seinem Buch um ihn geht, verändert sich die Sprache: Beschreibt Faktor sein eigenes Leben oder vergleicht er Prag mit Ost-Berlin, driftet er ab, erfindet neue Wortschöpfungen oder lässt Personen auftauchen, die schon kurz nach ihrer Benennung wieder so gründlich verschwinden, als hätte es sie gar nicht gegeben. 

Wendet er sich hingegen seinem Sohn zu, sind seine Formulierungen klar und beinahe sachlich, die Liebe ist jedoch immer spürbar. Das gilt auch dann, wenn Faktor über Zeiten schreibt, in denen er und seine Frau vom Leben ihres Sohnes nicht viel mitbekommen haben und manches erst nach seinem Tod erfuhren.

Ich habe Trottel dennoch nach dem ersten Drittel abgebrochen. Die Abschnitte, in denen Jan Faktor inhaltlich hin und her gesprungen ist wie ein Känguru auf der Flucht, wurden mir zu viel. Seitenlang ging es um zum Teil aus meiner Sicht redundante Inhalte, die von mindestens ebenso redundanten Fußnoten gespickt waren, die weder die Handlung weiterbrachten noch eine Erkenntnis lieferten.

Lesen?

Im Kapitel "Siebzehnmal darfst du raten" findet sich ein Satz, zu dem ich zustimmend genickt habe:

"Erzähle ich zu viel Überflüssiges - oder sogar den reinen, unsauber randomisierten Unsinn?"

Trottel ist 2022 bei Kiepenheuer & Witsch erschienen und kostet als gebundenes Buch 24 Euro sowie als E-Book 19,99 Euro.

Jan Faktor wurde für diesen Roman mit dem Wilhelm-Raabe-Literaturpreis ausgezeichnet. Trottel steht außerdem auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises 2022.

Nachtrag: Auf ihrem Blog Mikka liest das Leben hat Mikka, eine der offiziellen Buchpreisblogger*innen für den Deutschen Buchpreis, ebenfalls den Roman rezensiert. Lest hier, wie er ihr gefallen hat.

Montag, 3. Oktober 2022

# 365 - Ein Buch über das Trinken und das Aufhören

Dry ist ein Buch über das Trinken, über ein Leben mit dem Alkohol und schließlich auch über das Aufhören. Die Literaturagentin und Autorin Christine Koschmieder hat ihr neuestes Buch zwar als Roman bezeichnet, aber es enthält keine fiktionalen Elemente. Vielmehr wurden Dinge ausgelassen, um andere Personen zu schützen. Mit sich selbst als Hauptperson geht sie dabei weniger zurückhaltend um.

Wer geschützt werden soll, wird schon auf den ersten Seiten deutlich. Koschmieder schreibt nicht chronologisch, sondern beginnt ihr Buch mit ihrem neunten Tag als Patientin in einer Suchtklinik in Brandenburg, in einem kleinen Ort mit viel Grün und etlichen Seen in der Nachbarschaft. Sie teilt sich das Zimmer mit einer anderen Patientin und soll auf Bitten eines Therapeuten nun graphisch darstellen, wie groß ihr Alkoholkonsum bei Ereignissen war, die für ihr Leben eine Bedeutung hatten.

Beim Lesen stellt sich sofort die Frage: Kann man das überhaupt? Ist es möglich, sich viele Jahre nach einem dieser Ereignisse daran zu erinnern, ob man viel oder wenig Alkohol getrunken hat? Koschmieder kann es und zeichnet ein Diagramm mit vielen Ausbuchtungen. Sie, die heute keinen Alkohol mehr trinkt, sich als sturzbesoffene Frau vorzustellen, die ihr Leben nicht mehr auf die Reihe bekommt, ist falsch. Richtig ist, dass der Alkohol für sie Mittel war, um das Unangenehme im Leben zu überdecken und weiter zu funktionieren. Der Alkohol an sich ist also zunächst nicht die eigentliche Schwierigkeit, sondern der Ausdruck eines anderen Problems. 

Christine Koschmieder geht schonungslos offen mit ihrer Geschichte um. Sie erzählt von ihren Eltern, die als Lehrkräfte an Gymnasien arbeiteten, und für die der Alkohol ein täglicher Alltagsbegleiter war. Er wurde ganz selbstverständlich konsumiert. Ein bisschen hat mich das an die US-Fernsehserien "Dallas" und "Denver-Clan" erinnert, die in den 1980-er Jahren sehr erfolgreich waren: "Ich genehmige mir erstmal einen Drink" oder "Willst du auch einen Drink?" waren Sätze, die in jeder Folge alle paar Minuten gesagt wurden. Das Trinken, so macht es nach Koschmieders Beschreibung den Eindruck, geschah bei ihren Eltern ebenso nebenbei wie an der Hausbar der Carringtons. Allerdings mit dem Unterschied, dass im Hause Koschmieder eher keine hochprozentigen Spirituosen getrunken wurden. Das bevorzugte Getränk war Wein, was sich auch bei Christine Koschmieder fortsetzte.

Sie erzählt von ihrer Mutter, der es an allem Mütterlichen fehlte, und die ihrer Tochter das Gefühl gab, alles an ihr sei falsch. Die Eltern trennen sich, und Koschmieder und ihre Schwester leben beim Vater in der Nähe von Heidelberg, der nun schon so früh am Tag trinkt, dass er angetrunken im Unterricht erscheint.

In den frühen 1990-ern zieht Koschmieder nach Leipzig. Das Leben dort ist etwas völlig anderes, als das, was sie bislang gewohnt ist: Sie wohnt "im Land der Kohleöfen", wie sie das Kapitel überschrieben hat. Doch obwohl so vieles anders ist, fühlt sie sich dort wohl. Das Leben nimmt seinen Lauf: Studium, Partnerschaften, eine Hochzeit, die Kinder... 

Doch dann erkrankt Christine Koschmieders Mann an Krebs. Wo erst noch Hoffnung war, gibt es einige Zeit später Ernüchterung: Die Krankheit ist unheilbar, der Tod nur eine Frage der Zeit. Koschmieder funktioniert: Sie kümmert sich um die Kinder, begleitet ihren Mann bis zum Schluss und arbeitet. Ihre "Helfer" sind zahllose Weinflaschen. Ab wann man bei ihr von Alkoholismus sprechen konnte, bleibt unklar. Aber es kommt der Zeitpunkt, an dem Koschmieder klar wird, dass es mit dem Trinken so nicht weitergehen kann.

Lesen?

Dry ist bei aller Tragik, die der Roman enthält, kein trauriges Buch. Viele Szenen oder Ereignisse machen sprachlos, andere lassen mitleiden. Was beeindruckt, ist Koschmieders Stärke: Sie gesteht sich ihre Alkoholsucht ein und entschließt sich zu einer Suchttherapie. In der Klinik begreift sie, dass sie in der Lage ist, sich selbst zu helfen - und sei es, dass sie sich Unterstützung sucht. So wird der Roman zu einem Buch, das vor allem Hoffnung und Zuversicht vermittelt.

Dry ist 2022 im Kanon Verlag erschienen und kostet als gebundene Ausgabe 24 Euro, als E-Book 19,99 Euro sowie als von der Autorin gelesenes Hörbuch 15,99 Euro.