Dry ist ein Buch über das Trinken, über ein Leben mit dem Alkohol und schließlich auch über das Aufhören. Die Literaturagentin und Autorin Christine Koschmieder hat ihr neuestes Buch zwar als Roman bezeichnet, aber es enthält keine fiktionalen Elemente. Vielmehr wurden Dinge ausgelassen, um andere Personen zu schützen. Mit sich selbst als Hauptperson geht sie dabei weniger zurückhaltend um.
Wer geschützt werden soll, wird schon auf den ersten Seiten deutlich. Koschmieder schreibt nicht chronologisch, sondern beginnt ihr Buch mit ihrem neunten Tag als Patientin in einer Suchtklinik in Brandenburg, in einem kleinen Ort mit viel Grün und etlichen Seen in der Nachbarschaft. Sie teilt sich das Zimmer mit einer anderen Patientin und soll auf Bitten eines Therapeuten nun graphisch darstellen, wie groß ihr Alkoholkonsum bei Ereignissen war, die für ihr Leben eine Bedeutung hatten.
Beim Lesen stellt sich sofort die Frage: Kann man das überhaupt? Ist es möglich, sich viele Jahre nach einem dieser Ereignisse daran zu erinnern, ob man viel oder wenig Alkohol getrunken hat? Koschmieder kann es und zeichnet ein Diagramm mit vielen Ausbuchtungen. Sie, die heute keinen Alkohol mehr trinkt, sich als sturzbesoffene Frau vorzustellen, die ihr Leben nicht mehr auf die Reihe bekommt, ist falsch. Richtig ist, dass der Alkohol für sie Mittel war, um das Unangenehme im Leben zu überdecken und weiter zu funktionieren. Der Alkohol an sich ist also zunächst nicht die eigentliche Schwierigkeit, sondern der Ausdruck eines anderen Problems.
Christine Koschmieder geht schonungslos offen mit ihrer Geschichte um. Sie erzählt von ihren Eltern, die als Lehrkräfte an Gymnasien arbeiteten, und für die der Alkohol ein täglicher Alltagsbegleiter war. Er wurde ganz selbstverständlich konsumiert. Ein bisschen hat mich das an die US-Fernsehserien "Dallas" und "Denver-Clan" erinnert, die in den 1980-er Jahren sehr erfolgreich waren: "Ich genehmige mir erstmal einen Drink" oder "Willst du auch einen Drink?" waren Sätze, die in jeder Folge alle paar Minuten gesagt wurden. Das Trinken, so macht es nach Koschmieders Beschreibung den Eindruck, geschah bei ihren Eltern ebenso nebenbei wie an der Hausbar der Carringtons. Allerdings mit dem Unterschied, dass im Hause Koschmieder eher keine hochprozentigen Spirituosen getrunken wurden. Das bevorzugte Getränk war Wein, was sich auch bei Christine Koschmieder fortsetzte.
Sie erzählt von ihrer Mutter, der es an allem Mütterlichen fehlte, und die ihrer Tochter das Gefühl gab, alles an ihr sei falsch. Die Eltern trennen sich, und Koschmieder und ihre Schwester leben beim Vater in der Nähe von Heidelberg, der nun schon so früh am Tag trinkt, dass er angetrunken im Unterricht erscheint.
In den frühen 1990-ern zieht Koschmieder nach Leipzig. Das Leben dort ist etwas völlig anderes, als das, was sie bislang gewohnt ist: Sie wohnt "im Land der Kohleöfen", wie sie das Kapitel überschrieben hat. Doch obwohl so vieles anders ist, fühlt sie sich dort wohl. Das Leben nimmt seinen Lauf: Studium, Partnerschaften, eine Hochzeit, die Kinder...
Doch dann erkrankt Christine Koschmieders Mann an Krebs. Wo erst noch Hoffnung war, gibt es einige Zeit später Ernüchterung: Die Krankheit ist unheilbar, der Tod nur eine Frage der Zeit. Koschmieder funktioniert: Sie kümmert sich um die Kinder, begleitet ihren Mann bis zum Schluss und arbeitet. Ihre "Helfer" sind zahllose Weinflaschen. Ab wann man bei ihr von Alkoholismus sprechen konnte, bleibt unklar. Aber es kommt der Zeitpunkt, an dem Koschmieder klar wird, dass es mit dem Trinken so nicht weitergehen kann.
Lesen?
Dry ist bei aller Tragik, die der Roman enthält, kein trauriges Buch. Viele Szenen oder Ereignisse machen sprachlos, andere lassen mitleiden. Was beeindruckt, ist Koschmieders Stärke: Sie gesteht sich ihre Alkoholsucht ein und entschließt sich zu einer Suchttherapie. In der Klinik begreift sie, dass sie in der Lage ist, sich selbst zu helfen - und sei es, dass sie sich Unterstützung sucht. So wird der Roman zu einem Buch, das vor allem Hoffnung und Zuversicht vermittelt.
Dry ist 2022 im Kanon Verlag erschienen und kostet als gebundene Ausgabe 24 Euro, als E-Book 19,99 Euro sowie als von der Autorin gelesenes Hörbuch 15,99 Euro.
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