Samstag, 24. September 2022

Corona-Pause in der Bücherkiste

Das war so nicht geplant, aber man kann nicht alles
vorhersehen. Seit Kurzem hat sich hier ein Gast breit gemacht, den niemand eingeladen hat: das 
SARS-CoV-2-Virus, umgangssprachlich "Corona". Das Ding braucht kein Mensch. Der Gast löst einiges aus, unter anderem, dass ich mich im Augenblick nicht lange auf einen Text konzentrieren kann - egal, ob ich ihn lese oder schreibe.

Darum kann ich Euch an diesem Wochenende leider kein neues Buch empfehlen. Wahrscheinlich lest ihr von mir wieder in einer Woche.

Passt bis dahin auf Euch auf.

Donnerstag, 15. September 2022

# 364 - Ein rätselhaftes Verbrechen in den Wirren des ukrainischen Umbruchs

Beim Titel von Andrej Kurkows Roman Samson und
Nadjeschda
 könnte man auf die Idee kommen, es handele sich hier um einen Liebesroman. Doch die Liebe spielt in diesem Buch nur eine Rolle unter mehreren.

Der 11. Mai 1919 wird für Samson zu einem Schicksalstag: Als er mit seinem Vater zu Fuß in Kiew unterwegs ist, werden die beiden von einer Gruppe berittener Kosaken überfallen. Mit einem Säbelhieb spaltet einer von ihnen Samsons Vater den Schädel, mit einem weiteren schlägt er Samson ein Ohr ab. Die Brutalität und Sinnlosigkeit der Tat passen zu dieser Zeit: Nach der russischen Revolution setzte sich die Krise in einem Bürgerkrieg fort. Auf dem Gebiet der Ukraine entbrannte der sowjetisch-ukrainische Krieg, in den sich in dessen letzten Jahren weitere europäische Staaten - auch Deutschland - einschalteten. Die Bolschewiken versuchten 1919, die Macht in der Ukraine zu übernehmen und ihre Gesellschaftsordnung zu implementieren. Die Bevölkerung lebte in einer anarchischen Umgebung von Gewalt, Willkür, Gesetzlosigkeit und ständiger Warenknappheit.

Samson ist nach dem Tod seines Vaters allein. Er hofft, dass ein ihm bekannter Augenarzt die Ohrmuschel wieder annähen kann, aber der verpackt das Körperteil in einer Puderdose, die er Samson überreicht. All das geschieht in einer fast schon sachlichen Atmosphäre ohne Pathos. Der junge Mann wird zunächst von den Ereignissen mitgetragen: Die Hausmeisterwitwe in seinem Mietshaus, die dort so etwas wie eine graue Eminenz ist, möchte, dass Samson nicht mehr allein ist und fädelt die Bekanntschaft mit Nadjeschda (dt.: Hoffnung), einer glühenden Bolschewikin, ein, die dann tatsächlich nach und nach zu einer Liebesbeziehung wird.

Als sich zwei Rotarmisten in Samsons Wohnung einquartieren, ändert sich sein Leben ein weiteres Mal. Nicht nur, dass sie das Arbeitszimmer des verstorbenen Vaters besetzen, sie tragen auch Kisten mit Gegenständen herein, die sie angeblich requiriert haben. Als Samson beim Nachhausekommen sieht, dass auch der Schreibtisch des Vaters samt Inhalt beschlagnahmt wird, um in einem Milizrevier aufgestellt zu werden, ist das Maß voll. Er beschwert sich vor Ort, wird aufgefordert, einen Rapport zu schreiben, und am nächsten Tag als Milizionär eingestellt, weil er so gut schreiben kann. Samson ist ab sofort dafür zuständig, Diebstähle zu bekämpfen und für Ordnung zu sorgen. Dass sein Ohr in der Puderdose ihm das Leben retten würde, ahnt er noch nicht. Und dass die beiden Rotarmisten in seiner Wohnung in einen rätselhaften Fall, in dem wertvoller Stoff und ein Oberschenkelknochen aus Silber eine Rolle spielen, verwickelt sein würden, ebenfalls nicht. Aber Samson geht der Sache mit sehr speziellen Ermittlungsmethoden auf den Grund, die seinem Vorgesetzten nicht immer gefallen.

Lesen?

Andrej Kurkows Samson und Nadjeschda ist der Auftakt einer Reihe, wenn man dem letzten Satz glauben darf: "Ende. Aber Fortsetzung folgt." Im Epilog belauscht Samson nachts, wie Männer in seinem Schreibtisch in der Milizwache herumwühlen und allem, was sie finden, eine falsche Bedeutung zumessen. Sie entscheiden sich, nicht gegen Samson zu ermitteln, sondern ihn nur zu beobachten. Das sieht doch sehr nach einem zweiten Teil aus, oder?

In der mir vorliegenden E-Book-Ausgabe lautet der Untertitel "Kriminalroman", aber das ist irreführend. Wer hier ein spannungsgeladenes Whodunit erwartet, ist auf der falschen Fährte. Die kriminalistische Arbeit des völlig unerfahrenen Nachwuchsmilizionärs Samson ist lediglich ein Gerüst, um den sich Kurkows Schilderung der desolaten Zustände in der Ukraine in dieser Zeit rankt. Trotz der unwürdigen Bedingungen, unter denen die Menschen leben, verlieren sie jedoch nie die Hoffnung, sondern versuchen, aus ihrer Situation das Beste zu machen - mit oder ohne Gewalt.

Samson und Nadjeschda ist 2022 im Diogenes Verlag erschienen und kostet 24 Euro. Die Originalfassung wurde bereits 2020 in Kiew veröffentlicht.


Samstag, 10. September 2022

# 363 - Eine Liebe zwischen einer Deutschen und einer Koreanerin: Kann das funktionieren?

Andreas Stichmann begibt sich mit seinem Roman Eine Liebe in Pjöngjang auf eine Reise nach Nordkorea, dem Land, das wohl zu Recht als der restriktivste Überwachungsstaat der Welt angesehen werden kann. Auch wenn ein kulturelles Ereignis der Auslöser für die weitere Handlung ist und Stichmann das Ausmaß der staatlichen Kontrolle sowie der überhöhten Verehrung der Kim-Familie beschreibt, steht die Liebesgeschichte zweier Frauen im Mittelpunkt der Handlung. 

Die 50-jährige Claudia Aebischler ist Präsidentin des
Verbands europäischer Bibliotheken. Sie wird diese Aufgabe demnächst abgeben und befindet sich auf ihrer letzten Delegationsreise nach Pjöngjang. Gemeinsam mit Kulturschaffenden aus Berlin fährt sie von der chinesischen Grenzstadt Dandong mit dem Zug in die nordkoreanische Hauptstadt, um dort eine deutsche Bibliothek zu eröffnen. Aebischler kennt sich sehr gut in Südostasien aus und weiß, dass die Gruppe ständig überwacht wird. Ihre Erfahrungen als ehemalige DDR-Bürgerin helfen ihr und den Mitreisenden, sich in Nordkorea aufzuhalten.

Plötzlich, als Aebischler aus dem Zugfenster blickt, sieht sie in das Gesicht einer Koreanerin, von der sie sofort fasziniert ist. Die Frau schaut aus dem Fenster eines exakt parallel fahrenden Zuges und blickt die Deutsche direkt an. Nach dreißig Sekunden ist die irritierende Begegnung vorbei. Im Hotel sieht sie die junge Koreanerin ein weiteres Mal für einen kurzen Augenblick. Doch dann kommt die Überraschung: Die Frau wird der Delegation als ihre Dolmetscherin und Begleiterin Sunmi vorgestellt. 

Während ihres Aufenthalts kommt Claudia Aebischler der zwanzig Jahre jüngeren Sunmi näher. Die Dolmetscherin ist promovierte Literaturwissenschaftlerin und Expertin auf dem Gebiet der deutschen Romantik. Sie ist mit einem greisen Veteranen verheiratet, aber es ist nicht Liebe, sondern Parteiräson, die dieses Paar zusammenhält.

So unterschiedlich die beiden Frauen sind, haben sie doch etwas gemeinsam: Beide wollen den Lebenssituationen entfliehen, in denen sie sich befinden. Claudia Aebischler plant, sich einem seit Jahrzehnten aufgegebenen Schreibprojekt zu widmen, Sunmi will raus aus diesem engen, überwachten Leben, in dem man sich ständig unterzuordnen hat und jeder Schritt und jedes Wort überwacht werden. Und sie will weg von ihrem alten Ehemann, für den sie nur Abneigung empfindet.

Das emotionale Band zwischen ihnen wird immer enger, aber sie müssen sich bemühen, sich nichts anmerken zu lassen. Doch dann kommt während einer Exkursion zum Vulkan Paektusan, der sich auf dem Grenzgebiet zwischen China und Nordkorea befindet, der Moment, der ihrer beider Leben verändern soll und in dem sich der Fortgang ihrer Beziehung entscheidet.

Lesen?

Andreas Stichmann versteht es, in seinen Roman nicht nur die bedrückenden Verhältnisse in Nordkorea zu beschreiben und die latente Gefahr, in der sich die Menschen befinden, subtil zu thematisieren; er mischt in seine Schilderung der Gefühle, die die beiden Frauen füreinander entwickeln, auch Poesie und einen hintergründigen Humor, der den Schrecken der Diktatur für einen Moment vergessen lässt und ihn ins Lächerliche verkehrt. Bis zum Schluss bleibt die Frage offen: Was ist echt und real und was nur Fassade und Manipulation? 

Der Roman steht auf der Longlist des Deutschen Buchpreises, wohin er auf jeden Fall gehört.

Eine Liebe in Pjöngjang ist 2022 im Rowohlt Verlag erschienen und kostet als Hardcover-Ausgabe 20 Euro und als E-Book 9,99 Euro.

Freitag, 2. September 2022

# 362 - Die Geschichte eines sozialen Abstiegs oder eines besseren Lebens?

Georg Roth ist 51, geschieden und hat eine erwachsene
Tochter, die ständig pleite ist und ihn anpumpt. Er ist promovierter Wirtschaftsanwalt, verdient gut und lebt allein in einem Haus mit Garten. Doch dann schlittert er in eine Midlife Crisis, aus der er mit etwas ganz Neuem in seinem Leben entkommen will. Heinz Strunk beschreibt in seinem neuesten Roman Ein Sommer in Niendorf wie sich ein Leben in wenigen Wochen von Grund auf ändern kann.

Roth fasst den Plan, seine Familiengeschichte in Form eines Romans aufzuarbeiten. Da das aus zeitlichen Gründen nicht funktionieren kann, während er in der Kanzlei arbeitet, kündigt er seine Stelle und nimmt sich vor, ein erfolgreicher Schriftsteller zu werden. Kein Problem: Es ist genug Material vorhanden, aus dem ein begabter Autor eine spannende Erzählung weben kann. Viele Stunden hat er damit verbracht, seine Verwandten nach der Vergangenheit zu befragen. Jetzt hat er genug Informationen zusammen und nimmt sich vor, eine Auszeit einzulegen. Roth mietet spontan für neunzig Tage eine kleine Ferienwohnung in Niendorf an der Ostsee. Die Tatsache, dass sich im verschlafenen Niendorf 1952 das Schriftsteller-Forum "Gruppe 47" traf, betrachtet Roth als gutes Omen.

Bislang ist der Nachwuchs-Schriftsteller fest davon überzeugt, dass man mit Disziplin und planvollem Vorgehen alles schaffen kann. Ein Buch zu schreiben sollte in der langen Zeit kein Problem sein. Im Geiste sieht sich Roth bei Lesungen, in denen das Publikum an seinen Lippen hängt.

Doch dann lernt er Markus Breda kennen. Der übergewichtige Alkoholiker ist ein Multi-Jobber: Er verwaltet mehrere Ferienwohnungen in Niendorf (auch die, die Roth gemietet hat), betreibt einen schlecht gehenden Spirituosenladen, dessen bester Kunde er ist, und dreht abends, wenn die Touristen zum Abendessen gegangen sind, die leeren Strandkörbe in die Richtung des Sonnenaufgangs.

Breda ist wie eine Spinne, die ihre langen Beine in Roths Richtung schiebt und ihn in ihrem Netz gefangen hält. Der vulgäre, vom Alkohol gezeichnete Mann drängt dem Anwalt seine Gesellschaft auf und zieht ihn im Laufe der Wochen in die Niendorfer Säuferszene. Roths literarische Motivation beginnt zu bröckeln, immer öfter siegt Prokrastination über Motivation. Roths neuer Alltag führt zu seiner Verwahrlosung.  

Und dann ist da noch Simone, Bredas stark übergewichtige Freundin, die vor Jahren mit Hoffnungen auf ein gutes Leben mit ihrem Freund aus Ostdeutschland an die Ostsee gezogen ist. Roth findet sie vor allem wegen ihrer Figur abstoßend, er neigt ohnehin häufig dazu, Menschen nach dem ersten Eindruck zu beurteilen. Weiter als die beiden kann jemand nicht von Roths bisherigem Umgang entfernt sein. 

Das Schreiben gerät immer mehr in den Hintergrund, während Roth in einem Alkoholsumpf zu versinken droht. Doch dann geschieht etwas, das der Situation eine neue Wendung gibt.

Lesen?

Unbedingt. Heinz Strunk schafft es, in völlig trostlose Situationen einen guten Schuss Absurdität und Humor hineinzubringen. Skurrile Situationen, die direkte Sprache und die schnörkellose Darstellung von Roths Lebenseinstellung, die besonders zu Beginn des Aufenthalts in Niendorf von reichlich Überheblichkeit geprägt ist, tragen dazu bei, dass man den Roman bis zum - überraschenden - Ende nicht mehr aus der Hand legen möchte.

Ein Sommer in Niendorf ist 2022 im Rowohlt Verlag erschienen und kostet 22 Euro. Der Roman steht auf der Longlist des Deutschen Buchpreises 2022.