Georg Roth ist 51, geschieden und hat eine erwachsene
Tochter, die ständig pleite ist und ihn anpumpt. Er ist promovierter Wirtschaftsanwalt, verdient gut und lebt allein in einem Haus mit Garten. Doch dann schlittert er in eine Midlife Crisis, aus der er mit etwas ganz Neuem in seinem Leben entkommen will. Heinz Strunk beschreibt in seinem neuesten Roman Ein Sommer in Niendorf wie sich ein Leben in wenigen Wochen von Grund auf ändern kann.
Roth fasst den Plan, seine Familiengeschichte in Form eines Romans aufzuarbeiten. Da das aus zeitlichen Gründen nicht funktionieren kann, während er in der Kanzlei arbeitet, kündigt er seine Stelle und nimmt sich vor, ein erfolgreicher Schriftsteller zu werden. Kein Problem: Es ist genug Material vorhanden, aus dem ein begabter Autor eine spannende Erzählung weben kann. Viele Stunden hat er damit verbracht, seine Verwandten nach der Vergangenheit zu befragen. Jetzt hat er genug Informationen zusammen und nimmt sich vor, eine Auszeit einzulegen. Roth mietet spontan für neunzig Tage eine kleine Ferienwohnung in Niendorf an der Ostsee. Die Tatsache, dass sich im verschlafenen Niendorf 1952 das Schriftsteller-Forum "Gruppe 47" traf, betrachtet Roth als gutes Omen.
Bislang ist der Nachwuchs-Schriftsteller fest davon überzeugt, dass man mit Disziplin und planvollem Vorgehen alles schaffen kann. Ein Buch zu schreiben sollte in der langen Zeit kein Problem sein. Im Geiste sieht sich Roth bei Lesungen, in denen das Publikum an seinen Lippen hängt.
Doch dann lernt er Markus Breda kennen. Der übergewichtige Alkoholiker ist ein Multi-Jobber: Er verwaltet mehrere Ferienwohnungen in Niendorf (auch die, die Roth gemietet hat), betreibt einen schlecht gehenden Spirituosenladen, dessen bester Kunde er ist, und dreht abends, wenn die Touristen zum Abendessen gegangen sind, die leeren Strandkörbe in die Richtung des Sonnenaufgangs.
Breda ist wie eine Spinne, die ihre langen Beine in Roths Richtung schiebt und ihn in ihrem Netz gefangen hält. Der vulgäre, vom Alkohol gezeichnete Mann drängt dem Anwalt seine Gesellschaft auf und zieht ihn im Laufe der Wochen in die Niendorfer Säuferszene. Roths literarische Motivation beginnt zu bröckeln, immer öfter siegt Prokrastination über Motivation. Roths neuer Alltag führt zu seiner Verwahrlosung.
Und dann ist da noch Simone, Bredas stark übergewichtige Freundin, die vor Jahren mit Hoffnungen auf ein gutes Leben mit ihrem Freund aus Ostdeutschland an die Ostsee gezogen ist. Roth findet sie vor allem wegen ihrer Figur abstoßend, er neigt ohnehin häufig dazu, Menschen nach dem ersten Eindruck zu beurteilen. Weiter als die beiden kann jemand nicht von Roths bisherigem Umgang entfernt sein.
Das Schreiben gerät immer mehr in den Hintergrund, während Roth in einem Alkoholsumpf zu versinken droht. Doch dann geschieht etwas, das der Situation eine neue Wendung gibt.
Lesen?
Unbedingt. Heinz Strunk schafft es, in völlig trostlose Situationen einen guten Schuss Absurdität und Humor hineinzubringen. Skurrile Situationen, die direkte Sprache und die schnörkellose Darstellung von Roths Lebenseinstellung, die besonders zu Beginn des Aufenthalts in Niendorf von reichlich Überheblichkeit geprägt ist, tragen dazu bei, dass man den Roman bis zum - überraschenden - Ende nicht mehr aus der Hand legen möchte.
Ein Sommer in Niendorf ist 2022 im Rowohlt Verlag erschienen und kostet 22 Euro. Der Roman steht auf der Longlist des Deutschen Buchpreises 2022.
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