Montag, 22. Dezember 2025

# 494 - Wenn sich Steuergelder in Luft auflösen

Seit einigen Jahren geistern die Begriffe Cum/Ex und
Cum/Cum durch die Finanz- und Wirtschaftsnachrichten. Möglicherweise wissen viele Menschen nicht, was genau damit gemeint ist. Was aber von allen verstanden wird: Die Masche ist illegal, und es mach(t)en sich Leute die Taschen voll, die bereits ein großes Vermögen haben. 

Was nicht ganz so bekannt ist: Die Machenschaften rund um Cum/Ex und Cum/Cum haben einen großen Schaden angerichtet. Es ist die Rede von etwa 40 Milliarden Euro, die mit diesen Methoden hinterzogen wurden und den öffentlichen Haushalten nicht zur Verfügung stehen. Geld, das für Infrastrukturprojekte, Bildungs- und Forschungseinrichtungen oder den Umweltschutz zur Verfügung gestanden hätte - und es nun nicht tut.

Die Frage, die man sich als Bürgerin oder Bürger automatisch stellt: Was tut der Staat dagegen, dass wir alle so massiv betrogen werden? Die Antwort darauf kennt Anne Brorhilker. Die ehemalige Kölner Oberstaatsanwältin schreibt in ihrem Buch Cum/Ex, Milliarden und Moral aus ihrer persönlichen Perspektive, wie sie insbesondere den Beginn der Cum/Ex-Affäre in ihrer damaligen Funktion erlebt hat.

Ihre Erinnerungen beginnen im Jahr 2013. Das Bundeszentralamt für Steuern hatte Akten an die Staatsanwaltschaft Köln abgegeben, weil man bei dem dahinter stehenden Fall eine sehr große Schadensumme vermutete. Der Begriff "Cum/Ex" war damals kaum jemandem bekannt, auch Anne Brorhilker nicht. Es war Zufall, dass sie mit den Ermittlungen beauftragt wurde. Nachdem sie die Unterlagen gesichtet hatte, war ihr Interesse geweckt. Sie las Fachaufsätze, um sich in die Materie einzuarbeiten, fühlte sich nach der Lektüre jedoch nicht klüger als vorher: Die Texte wimmelten von unklaren Begriffen, die mehr verschleierten als erklärten.

Am spannendsten wird es, wenn Brorhilker über die von ihr angeführte erste internationale Razzia im Jahr 2014 erzählt. Die Aktion wurde von der EU-Agentur Eurojust koordiniert und fand zeitgleich in vierzehn Ländern statt. Brorhilker hat die zahlenmäßig überlegenen Anwälte und Anwältinnen in Sicherheit gewiegt, indem sie ihnen die überlastete und überforderte Staatsanwältin vorgegaukelt hat.

Anne Brorhilker schildert sehr anschaulich, welchen Schwierigkeiten sie sich während der Ermittlungen gegenüber sah. Es mangelte grundsätzlich an Personal, das bereit war, sich in das Sachgebiet einzuarbeiten und auch nicht daran verzweifelte, erst nach etwa zwei Jahren sattelfest zu sein. Dazu muss man wissen, dass Wirtschafts- und Steuerrecht in der juristischen Ausbildung praktisch nicht vorkommt.
Es mangelte auch an der Sachausstattung in einem Umfang, den man nicht für möglich halten würde. Nicht zuletzt kämpfte sie mit den etablierten strukturellen Problemen und Abläufen sowie den ungeschriebenen Regeln, die zum Beispiel den Informationsaustausch zwischen anderen Behörden verhinderten.

Finanzstrafverfahren werden oft in einem frühen Stadium eingestellt oder mit einem Deal beendet. Gründe dafür sind die Personalnot bei den Verfolgungsbehörden, mangelndes Vertrauen der Staatsanwältinnen und -anwälte in die eigenen Kenntnisse und Fähigkeiten auf diesem Gebiet sowie die erdrückende Überzahl der hochbezahlten Fachanwälte, die von ihren Mandanten losgeschickt werden, sobald sich Unheil in Form einer möglichen Anklage anbahnt.

Brorhilker erzählt von der erfolgreichen Lobbyarbeit der Finanzbranche: Aus dem Lobbyregister des Bundestags geht hervor, dass für den Finanzsektor über 440 Lobbyorganisationen namentlich registriert sind. Ihnen stehen eine Handvoll Abgeordnete gegenüber, deren Schwerpunkt zwar dieser Bereich ist, die sich jedoch auch mit anderen Themen beschäftigen müssen. Zitat: "Rechnet man diese Zahl [Anm.: der Lobbyisten] auf die Mitglieder des Finanzausschusses des Bundestages um, dann kommen auf jedes Mitglied fast zehn Lobbyist*innen, die sich an jeder Stelle des Gesetzgebungsprozesses aktiv einschalten können."
Einer der erfolgreichsten Coups der Finanzlobbyisten war, die Cum/Ex-Aktivitäten als Gesetzeslücke zu bezeichnen, die man genutzt habe. Gesetzeslücken, das war die Botschaft dahinter, sind nicht illegal, sondern ein Versäumnis des Gesetzgebers. Dieses Märchen haben leider etliche Politiker geglaubt. Auch Wissenschaftler waren an der Fiktion einer juristischen Grauzone beteiligt, die es nie gegeben hat.
Gerichte haben das Offensichtliche allerdings längst klargestellt: Es kann nicht rechtmäßig sein, eine Steuerrückzahlung zu erhalten, wenn man zuvor keine Steuern gezahlt hat.

Ein eigenes Kapital ist dem Patriarchat in der juristischen Welt gewidmet. Es ist sowohl bei der Staatsanwaltschaft als auch in den Kanzleien immer noch ausgeprägt. Dazu trägt auch bei, dass die Luft für Frauen mit jedem beruflichen Aufstieg immer dünner wird. Anne Brorhilker hat auch erlebt, dass Vorgesetzte oder ältere Kollegen sie als Volljuristin mit "Mädchen" oder "Mäuschen" ansprachen.  

Anne Brorhilker schließt ihr Buch mit vier klaren Forderungen: mehr Personal gemeinsam mit weniger Fluktuation, die Einrichtung einer zentralen Bundesbehörde für die Bearbeitung von komplexen international organisierten Steuerhinterziehungsfällen, Transparenz der Finanzlobby sowie die Einstufung von schwerer Steuerhinterziehung als Verbrechen.

Lesen?

Anne Brorhilker bietet einen interessanten Einblick in ihre damalige Arbeit als ermittelnde Oberstaatanwältin. Der Blick zurück ist noch nicht lange her: Im Sommer 2024 beendete sie ihre verbeamtete Tätigkeit, um für eine Finanz-NGO tätig zu sein. Trotzdem hat man bei ihrer Beschreibung der Verhältnisse, unter denen sie bei der Kölner Staatsanwaltschaft gearbeitet hat, den Eindruck, sich im Jahr 1980 zu befinden. Die Juristin vermittelt in ihrem Buch, dass es sich dabei um die üblichen Rahmenbedingungen handelt, unter denen in Behörden gearbeitet wird. Ich kann jedoch aus eigener Anschauung sagen, dass das nicht richtig ist. Ihre Kritik an den juristisch vorgezeichneten Abläufen im Strafprozessrecht ist jedoch gut nachvollziehbar und sicher berechtigt.

Störend ist allerdings, dass sich Brorhilker zu oft in Details verliert und dabei abschweift sowie Sachverhalte wiederholt. Ein aufmerksameres Lektorat hätte dem Buch gut getan.
Für Leserinnen und Leser, die sich bereits vor der Lektüre des Buches mit dem Thema beschäftigt haben, gibt es inhaltlich keine großen Überraschungen. Das ist aber auch dem Umstand geschuldet, dass für die Autorin für alle Sachverhalte, die noch nicht öffentlich geworden sind, nach wie vor das Dienstgeheimnis gilt. So erklären sich auch die sporadischen geschwärzten Passagen.

Anne Brorhilkers frühere Tätigkeit als Oberstaatanwältin und ihre heutige Arbeit im Vorstand einer Finanz-NGO sind wertvolle Schritte auf dem Weg zu mehr Steuergerechtigkeit. Aber man ahnt, nachdem man das Buch zugeklappt hat, dass dies ein langer Weg sein wird.

Cum/Ex, Milliarden und Moral ist 2025 im Heyne Verlag erschienen und kostet 24 Euro.