Donnerstag, 15. September 2022

# 364 - Ein rätselhaftes Verbrechen in den Wirren des ukrainischen Umbruchs

Beim Titel von Andrej Kurkows Roman Samson und
Nadjeschda
 könnte man auf die Idee kommen, es handele sich hier um einen Liebesroman. Doch die Liebe spielt in diesem Buch nur eine Rolle unter mehreren.

Der 11. Mai 1919 wird für Samson zu einem Schicksalstag: Als er mit seinem Vater zu Fuß in Kiew unterwegs ist, werden die beiden von einer Gruppe berittener Kosaken überfallen. Mit einem Säbelhieb spaltet einer von ihnen Samsons Vater den Schädel, mit einem weiteren schlägt er Samson ein Ohr ab. Die Brutalität und Sinnlosigkeit der Tat passen zu dieser Zeit: Nach der russischen Revolution setzte sich die Krise in einem Bürgerkrieg fort. Auf dem Gebiet der Ukraine entbrannte der sowjetisch-ukrainische Krieg, in den sich in dessen letzten Jahren weitere europäische Staaten - auch Deutschland - einschalteten. Die Bolschewiken versuchten 1919, die Macht in der Ukraine zu übernehmen und ihre Gesellschaftsordnung zu implementieren. Die Bevölkerung lebte in einer anarchischen Umgebung von Gewalt, Willkür, Gesetzlosigkeit und ständiger Warenknappheit.

Samson ist nach dem Tod seines Vaters allein. Er hofft, dass ein ihm bekannter Augenarzt die Ohrmuschel wieder annähen kann, aber der verpackt das Körperteil in einer Puderdose, die er Samson überreicht. All das geschieht in einer fast schon sachlichen Atmosphäre ohne Pathos. Der junge Mann wird zunächst von den Ereignissen mitgetragen: Die Hausmeisterwitwe in seinem Mietshaus, die dort so etwas wie eine graue Eminenz ist, möchte, dass Samson nicht mehr allein ist und fädelt die Bekanntschaft mit Nadjeschda (dt.: Hoffnung), einer glühenden Bolschewikin, ein, die dann tatsächlich nach und nach zu einer Liebesbeziehung wird.

Als sich zwei Rotarmisten in Samsons Wohnung einquartieren, ändert sich sein Leben ein weiteres Mal. Nicht nur, dass sie das Arbeitszimmer des verstorbenen Vaters besetzen, sie tragen auch Kisten mit Gegenständen herein, die sie angeblich requiriert haben. Als Samson beim Nachhausekommen sieht, dass auch der Schreibtisch des Vaters samt Inhalt beschlagnahmt wird, um in einem Milizrevier aufgestellt zu werden, ist das Maß voll. Er beschwert sich vor Ort, wird aufgefordert, einen Rapport zu schreiben, und am nächsten Tag als Milizionär eingestellt, weil er so gut schreiben kann. Samson ist ab sofort dafür zuständig, Diebstähle zu bekämpfen und für Ordnung zu sorgen. Dass sein Ohr in der Puderdose ihm das Leben retten würde, ahnt er noch nicht. Und dass die beiden Rotarmisten in seiner Wohnung in einen rätselhaften Fall, in dem wertvoller Stoff und ein Oberschenkelknochen aus Silber eine Rolle spielen, verwickelt sein würden, ebenfalls nicht. Aber Samson geht der Sache mit sehr speziellen Ermittlungsmethoden auf den Grund, die seinem Vorgesetzten nicht immer gefallen.

Lesen?

Andrej Kurkows Samson und Nadjeschda ist der Auftakt einer Reihe, wenn man dem letzten Satz glauben darf: "Ende. Aber Fortsetzung folgt." Im Epilog belauscht Samson nachts, wie Männer in seinem Schreibtisch in der Milizwache herumwühlen und allem, was sie finden, eine falsche Bedeutung zumessen. Sie entscheiden sich, nicht gegen Samson zu ermitteln, sondern ihn nur zu beobachten. Das sieht doch sehr nach einem zweiten Teil aus, oder?

In der mir vorliegenden E-Book-Ausgabe lautet der Untertitel "Kriminalroman", aber das ist irreführend. Wer hier ein spannungsgeladenes Whodunit erwartet, ist auf der falschen Fährte. Die kriminalistische Arbeit des völlig unerfahrenen Nachwuchsmilizionärs Samson ist lediglich ein Gerüst, um den sich Kurkows Schilderung der desolaten Zustände in der Ukraine in dieser Zeit rankt. Trotz der unwürdigen Bedingungen, unter denen die Menschen leben, verlieren sie jedoch nie die Hoffnung, sondern versuchen, aus ihrer Situation das Beste zu machen - mit oder ohne Gewalt.

Samson und Nadjeschda ist 2022 im Diogenes Verlag erschienen und kostet 24 Euro. Die Originalfassung wurde bereits 2020 in Kiew veröffentlicht.


2 Kommentare:

  1. Cool, dass Du Kurkow gelesen hast, Ina. Ich habe Deine BB nur überflogen, lese nochmal, wenn ich das Buch selbst auch durchgenommen habe. LG Mira

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    1. Ich habe hier auch über "Graue Bienen" von ihm geschrieben. Wenn du auf die Reiter "Cover-Parade" oder "Alle Bücher..." klickst, findest du die Rezension schnell. LG Ina

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