Meret ist Mitte 20, arbeitet seit acht Jahren als Krankenschwester in einer namenlosen Klinik und wohnt in einem Schwesternwohnheim, in dem Privatsphäre ein Fremdwort ist. Man teilt sich das Zimmer mit einer anderen Krankenschwester, es gibt einen Gemeinschaftswaschraum, die Mahlzeiten außerhalb des Dienstes werden zusammen im Speisesaal eingenommen. Yael Inokai zeichnet in ihrem Roman Ein simpler Eingriff das Bild eines durchstrukturierten und gleichförmigen Lebens, dessen Erschwernisse zwar erkannt, aber kritiklos hingenommen werden.
Auch Meret nimmt sie hin. Was sie motiviert, ist die besondere Aufgabe, für die sie eingeteilt wird: In der Klinik werden experimentelle Gehirnoperationen an Menschen durchgeführt, die psychisch auffällig geworden sind. Während des Eingriffs bleiben die Patientinnen und Patienten wach. Merets Auftrag ist, ihnen die Angst zu nehmen und sie während der OP zu beschäftigen. Sie glaubt den Aussagen des Chefarztes, dass es sich hierbei um einen simplen Eingriff handele, der anschließend vorübergehende Schmerzen auslösen könne. Danach sei alles wieder gut und der Mensch von seinem auffälligen Verhalten geheilt.
Dann jedoch passieren zwei Dinge, die das Leben der jungen Krankenschwester und ihre bisherigen Einstellungen grundlegend verändern: Meret bekommt mit Sarah eine neue Zimmernachbarin. Die beiden Frauen verlieben sich ineinander und versuchen, ihre Gefühle vor allen anderen geheim zu halten. Es ist völlig klar, dass weder ihr Arbeitgeber noch ihre Familien oder gar die Gesellschaft ein lesbisches Paar akzeptieren würden.
Die Aufnahme einer jungen Frau aus einer wohlhabenden und angesehenen Familie in das Krankenhaus verändert Merets bisherige kritiklose Haltung zu den Gehirnoperationen ihres Chefarztes. Marianne Ellerbach hat immer wieder Wutanfälle, die mit dem chirurgischen Eingriff behoben werden sollen. Es drängt sich der Verdacht auf, dass die OP vor allem den auf den guten Ruf der Familie bedachten Eltern wichtig ist, die nicht mehr erleben wollen, dass ihre erwachsene Tochter in der Öffentlichkeit aus der Rolle fällt. Doch die Operation misslingt. Marianne fällt ins Koma und wird als Pflegefall in eine spezielle Einrichtung abgeschoben.
Lesen?
Ein simpler Eingriff hat mir aus mehreren Gründen gut gefallen. Yael Inokai gelingt es, ihre Kritik an patriarchalischen Strukturen und Denkmustern, Homophobie sowie den Trend zur Optimierung in ihrem Roman miteinander zu verweben. Obwohl Ort und Zeit der Handlung nicht benannt werden, liegt die Vermutung nah, dass Inokais Roman in der Vergangenheit spielt. Das, was die Autorin beschreibt, erinnert stark an die Lobotomie, die von dem portugiesischen Neurologen António Caetano de Abreu Freire Egas Moniz in den 1930-er Jahren entwickelt und vom US-Psychiater Walter Freeman fast schon exzessiv betrieben wurde. Die Idee dahinter war, dass man Menschen von psychischen Leiden heilen kann, wenn man einige Nervenbahnen in ihren Gehirnen durchtrennt. Die Methode, die zahllose Menschen in tiefes Leid gestürzt hat und für die Moniz 1949 sogar den Nobelpreis erhielt, ist längst verboten.
Bei der Schilderung des Leids von Marianne hatte Yael Inokai möglicherweise das tragische Schicksal von Rosemary Kennedy, einer Schwester von John F. Kennedy, vor Augen. 1941 wurde an ihr eine Lobotomie vollzogen, vermutlich, weil sie Legasthenikerin und leicht geistig zurückgeblieben war. Die Familie fürchtete, dass das Verhalten ihrer "ungebärdigen" Tochter dem Ruf der Familie schaden würde. Der von Freeman vollzogene Eingriff schlug fehl, Rosemary Kennedy verbrachte den Rest ihres 86-jährigen Lebens in einer Heilanstalt, wo sie 2005 starb. Ihr Vater Joseph Kennedy, auf dessen Betreiben die Lobotomie an seiner Tochter durchgeführt worden war, besuchte sie nie.
Ein simpler Eingriff hat mich sehr berührt und stand auf der Longlist des diesjährigen Deutschen Buchpreises. Schade, dass es der Roman nicht in die Shortlist geschafft hat.
Ein simpler Eingriff ist 2022 im Hanser Verlag erschienen und kostet als gebundene Ausgabe 22 Euro sowie als E-Book 16,99 Euro.
Berührende Geschichten mag ich persönlich sehr gerne;)
AntwortenLöschenIch auch. Und diese gleitet nie ins Kitschige ab.
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