Freitag, 20. September 2024

# 453 - Alte Eltern: Wenn die Demenz alles ändert

Mit seinem Buch Alte Eltern hat sich Volker Kitz mit
dem Abschiednehmen von einem alten Elternteil beschäftigt. In seinem Fall ist das der Vater.

Kitz ist Jurist und Schriftsteller und hat bereits mehrere Sachbücher veröffentlicht, einige davon mit juristischen Themen. Alte Eltern, als literarisches Essay angelegt, dürfte sein persönlichstes sein.

Anlass, sich dem Thema anzunehmen, waren die Erfahrungen, die Kitz mit seinem betagten Vater gemacht hat. Es ist das passiert, was viele Menschen mit ihren Eltern so oder so ähnlich bereits erlebt haben oder noch erleben werden: Der Vater wohnte nach dem Unfalltod der Mutter lange allein im Familienhaus, die beiden Söhne lebten einige Autostunden entfernt und besuchten ihn regelmäßig. 

Doch dann nähert sich der Zeitpunkt, der zu tiefgreifenden Veränderungen führt. In der Anfangsphase der Pandemie wird 2020 ein demenzielles Syndrom diagnostiziert, der Vater bekommt Medikamente, die den Verlauf der Erkrankung für einen begrenzten Zeitraum abbremsen. Die Isolation während dieser Zeit verstärkt seine Demenz. Doch der Vater will und soll weiterhin in seinem Haus leben. Die Dosierung und Sortierung der Medikamente wird nun zweimal pro Tag von einem ambulanten Pflegedienst übernommen.

Im Sommer 2021 lassen sich Vater und Sohn gegen Covid-19 impfen, danach scheint sich die Situation für den Vater durch die neu gewonnene Freiheit zu normalisieren. Doch nicht viel später kommt Volker Kitz zu der Erkenntnis, sich etwas vorgemacht und Tatsachen verdrängt zu haben. Diese Erkenntnis entwickelt sich nach und nach und löst die vorangegangene Vorstellung ab, der Vater könnte bis zu seinem Tod allein in seinem Haus bleiben.

In der folgenden Zeit versucht Volker Kitz mit verschiedenen Mitteln, seinen Vater zu unterstützen. Doch seine Bemühungen wirken wie das Rennen im Märchen von "Der Hase und der Igel": Kaum scheint eine Strategie erfolgreich zu sein, führt ein neuer Demenzschub dazu, dass sie es nicht mehr ist. Ende 2021 zieht der Vater in ein Berliner Pflegeheim, ganz in der Nähe seines Sohnes, aber 700 Kilometer entfernt von dem Ort, an dem sein bisheriges Leben stattgefunden hat.

Volker Kitz geht sehr genau auf seine Gedanken, Zweifel und Selbstvorwürfe als sich kümmernder Angehöriger ein, die diesem Schritt vorausgehen - und auch nicht weniger werden, als sein Vater schon eine Weile in der Einrichtung wohnt. Wie ein roter Faden werden die Überlegungen von wiederkehrenden Fragen durchzogen: Wann hat die Demenz des Vaters begonnen? Kümmere ich mich genug um den Vater? Kann man sich auch zu viel kümmern? Und: Sind die gelegentlichen eigenen geistigen Aussetzer schon Hinweise auf eine beginnende Demenz oder harmlos? Ein starker Antrieb, möglichst viel über Demenz wissen zu wollen, ist der (vergebliche) Wunsch, die Erkrankung des Vaters aufzuhalten.

Klar ist, dass den ersten Anzeichen der Demenz des Vaters mehr Aufmerksamkeit hätte gewidmet werden müssen. Verharmlosung und Verdrängung waren nicht hilfreich. Dazu kommt die Erkenntnis, dass Demenz mehr ist als nur zu vergessen; Demenz bedeutet auch, Fähigkeiten zu verlieren, die für die Bewältigung des Alltags unerlässlich sind: Wer zum Beispiel wie Kitz' Vater nicht mehr weiß, wie man die Haustür bedient, lebt im eigenen Zuhause als Gefangener. 

Volker Kitz beschäftigt sich jedoch nicht nur mit der fortschreitenden Demenz des Vaters, sondern hinterfragt auch seine eigene Beziehung zu ihm. Da sein Vater durch seine zugewandte Art dazu beigetragen hat, dass sein Sohn eine schöne Kindheit hatte, fühlt sich der Sohn umso mehr verpflichtet, dem Vater in dessen letzter Lebensphase beizustehen. Die Verantwortung für den alten Mann zu übernehmen, war für Kitz kein Problem. Aber er nimmt wahr, dass sich die Vater-Sohn-Beziehung verändert, was auch daran liegt, dass der Vater den Sohn immer öfter nicht als solchen erkennt, sondern der ihm nur vertraut vorkommt. 

Kitz wird klar: Man erinnert sich daran, wann Ereignisse zum ersten Mal stattfanden, aber nicht mehr, wann es sie zum letzten Mal gegeben hat: miteinander telefonieren, die Nächsten erkennen, die Umarmung - erst im Nachhinein fällt auf, dass da wieder etwas weggefallen ist. Hinzu kommt die Belastung, die durch die fortschreitende Verschlechterung entsteht: Die Angehörigen stehen der Situation hilflos gegenüber, oft erschweren Wesensveränderungen der Patienten das Miteinander. Je mehr die Zeit voranschreitet, desto geringer werden die Möglichkeiten, etwas gemeinsam mit den Erkrankten zu unternehmen - und sei es nur ein Spaziergang durch den Park in der Nachbarschaft. "Die Pläne wurden kleiner und kleiner", schreibt Kitz treffend. 

Lesen?

Volker Kitz wurde 1975 geboren, sein Vater starb im Januar 2023 kurz vor seinem 80. Geburtstag. "Ich bin nicht allein", schreibt der Autor auf den ersten Seiten seines Buches. "Die Sorge um die Eltern erfasst meine Generation. Wir sind die Generation X, zurzeit die größte in Deutschland, wir sind fast siebzehn Millionen." Aus eigener Anschauung kann ich sagen, dass sich bereits die Vorgänger-Generation der Boomer stark mit der Frage beschäftigen muss (oder musste) und das Thema von der nachfolgenden Generation Y (Geburtsjahrgänge 1981 bis 1996) nicht mehr so weit weg ist. Zu den oben genannten siebzehn Millionen kommen so 12,5 Millionen bzw. rd. 16,45 Millionen Menschen hinzu. Das sind etwa 46 Millionen Menschen, und die Mehrheit von ihnen muss sich mit genau denselben Fragen wie Volker Kitz befassen.

Schon das ist ein starker Grund, dieses Buch zu lesen: zu erfahren, womit man rechnen sollte, wenn die eigenen Eltern alt werden. Kitz schreibt das Erlebte in klaren und ungeschönten Worten, aber mit jeder Menge Empathie. Wer schon mit einer Form von Demenz konfrontiert wurde, hat den Eindruck, in Alte Eltern von den eigenen Erfahrungen zu lesen.

Ich lese, dass Kitz' Vater vom Heimpersonal nicht zu einer heiminternen Veranstaltung abgeholt worden ist, weil es so lange dauert, ihn vorzubereiten. "Mein Vater soll dabei sein, dazugehören. [...] Es macht mich wütend, wenn andere zu schnell aufgeben. Es schmerzt mich, wenn er ausgeschlossen ist, aus der Welt gefallen, weil seine Fähigkeiten schwinden." Kitz schreibt das in dem Wissen, dass Anregungen für Demenzkranke wichtig sind. Ich weiß, dass solche Situationen häufig vorkommen; sie sind schlimm für die Heimbewohnerinnen und -bewohner, ihre Ursache liegt aber in der Regel an der Personalknappheit durch den Fachkräftemangel, das Personal ist in der Regel nicht daran schuld.

Auch, wenn man als Sohn oder Tochter seine Eltern nicht zu sich nimmt, um sich um sie zu kümmern, nimmt die Sorge um ihr Wohlergehen viel Raum ein. Ein Besuch im Pflegeheim dient nicht nur dazu, mit den Eltern Zeit zu verbringen, sondern auch zur Überprüfung, ob es ihnen dort gut geht und man sich angemessen um sie kümmert. Zu Hause werden für die Eltern Telefonate geführt, E-Mails oder Briefe geschrieben, Antragsformulare ausgefüllt, Rechnungen bezahlt - und man macht sich weiter Gedanken darüber, wie ihre Situation verbessert werden könnte. Ich finde mich in einem Satz von Volker Kitz wieder: "Überall sprach ich vom Vater. Traf ich Freunde, redete ich so viel von ihm, dass es mir unangenehm war." Rückblickend frage ich mich, ob mein Freundeskreis womöglich innerlich gestöhnt und gedacht hat: 'nicht schon wieder...'.

Und dann ist da noch ein weiterer Satz, der sehr gut das Ausmaß der Hilflosigkeit beschreibt, die Kitz empfunden hat und die sicher zahllose erwachsene 'Kinder' nachempfinden können: "Es ist der Vergleich zum Vorher, der Dinge unerträglich macht."
Den Kopf in den Sand zu stecken ist hier allerdings keine Option.

Alte Eltern ist 2024 im Verlag Kiepenheuer & Witsch erschienen und kostet als gebundene Ausgabe 23 Euro sowie als E-Book 19,99 Euro.

Hinweis: Ich habe hier bereits 2015 das Buch Demenz von Tilman Jens vorgestellt. Es handelt von der Demenzerkrankung des bekannten Schriftstellers und Altphilologen Tilman Jens, der 2013 verstorben ist, und bietet ebenfalls viele Denkanstöße.





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