Wie es zu dem Buchtitel von Marie Gamillschegs Roman Aufruhr der Meerestiere kam, bleibt ungeklärt, denn um einen Aufruhr geht es in diesem Buch nicht.
Um Meerestiere allerdings schon. Genauer: um die Meerwalnuss, die nicht etwa eine Nuss, sondern eine Rippenqualle ist. Obwohl sie zu 99 Prozent aus Wasser besteht, bereitet sie nicht nur Meeresbiologen, sondern auch Fischern und Tourismusmanagern Sorgen: Als sog. "invasive Art" hält sie sich nicht nur im heimischen subtropischen Atlantik, sondern auch verstärkt in der immer wärmer werdenden Ostsee auf. Vermutlich ist sie vor einiger Zeit an der Spundwand eines Containerschiffs in unsere Breiten gereist. Die Meerwalnuss vereint einige Extreme auf sich: Sie vermehrt sich rasant, wenn sie sich wohl fühlt. Einige Tausend Eier pro Tag zu produzieren fällt dieser Quallenart leicht. Und wenn so viel Nachwuchs da ist, wird auch der Futterbedarf groß: Meerwalnüsse fressen kleine Krebschen, die die Grundnahrung für Heringe, Sprotten und Fischlarven sind. Das Problem für den Fischfang liegt auf der Hand.
Aber damit ist die Meerwalnuss noch nicht fertig, den Menschen auf die Nerven zu gehen: Wo sehr viele von ihnen sind, fühlt sich das Ostseewasser an wie Gelee. Das ist zwar nicht gesundheitsschädlich, wird von badenden Touristen aber als ekelhaft empfunden. Der Klimawandel lässt grüßen.
Das und noch ein bisschen mehr erfährt man über das hirnlose Glibberwesen, wenn man sich durch diesen Roman liest. Aber die Meerwalnuss bildet nur den Rahmen für die eigentliche Handlung, in deren Mittelpunkt die Meeresbiologin Luise steht. Luise forscht schon lange an der Meerwalnuss und sieht in ihr nicht ein Wesen, gegen das man angehen muss, sondern einen sensiblen Organismus, der eine faszinierende Eigenschaft hat: Durch Biolumineszenz können Meerwalnüsse leuchten.
Die 32-jährige Luise arbeitet am Helmholtz-Zentrum in Kiel und ist eine gefragte Expertin. Sie ist beruflich viel unterwegs, ein geregelter Tagesablauf ist ihr fremd. Trotz der fachlichen Anerkennung ist sie nicht glücklich und weit davon entfernt, mit sich im Reinen zu sein. Ihr Verhältnis zu ihrem Vater ist von Sprachlosigkeit geprägt, das zu ihrem Bruder eher angespannt. Die Gründe dafür lassen sich nur erahnen.
Als ein renommierter Tierpark in Graz ein neues Forschungsprojekt beginnen will, fährt Luise in ihre Heimatstadt. Es wird eine Reise in die eigene Vergangenheit. Man erfährt von Luises Essstörungen in ihrer Jugendzeit und dass sie diese immer noch nicht überwunden hat. Man liest auch über ihre Unfähigkeit, Liebesbeziehungen aufzubauen: Bevor es zu einer gewissen Tiefe kommt, entfernt sich Luise von dem jeweiligen Mann. Sie ist so schlecht zu fassen wie die Meerwalnuss, über die die Wissenschaftlerin fast alles weiß. So sehr sie eine exzellente Forscherin ist, so wenig versteht sie es, mit ihrem eigenen Leben zurechtzukommen.
Luise lebt während ihrer Zeit in Graz in der Wohnung ihres Vaters, der sich bei ihrem Bruder von einem Herzinfarkt erholt. Dort versucht sie, dem Vater näherzukommen und die Erinnerungen an ihre Kindheit wieder aufleben zu lassen - sowohl die an die Zeit mit beiden Eltern als auch nach deren Scheidung. Ihr Vorhaben mit dem Tierpark gerät darüber oft in Vergessenheit, Luise lebt in den Tag hinein. Umso überraschender ist, wie der Aufenthalt dort für sie endet.
Lesen?
Aufruhr der Meerestiere ist kein Roman, der chronologisch und geordnet eine Geschichte erzählt. Hier ist vieles im Fluss, einige Dinge bleiben unklar oder undeutlich und oft hat man beim Lesen den Eindruck, dass sich Marie Gamillscheg atmosphärisch von der Meerwalnuss hat inspirieren lassen, die sich schon mal in nichts auflösen kann. Der Versuch, Luises Persönlichkeit zu beschreiben, den Leserinnen und Lesern die Besonderheiten der Meerwalnuss nahezubringen und beides mit dem großen Problem unserer Zeit, dem Klimawandel, zu verknüpfen, ist der Autorin gelungen. Dieser Roman hebt sich vor allem durch seine besondere Sprache von der Masse ab und sorgt so für ein ungewöhnliches Literaturerlebnis.
Aufruhr der Meerestiere ist 2022 im Luchterhand Verlag und kostet als gebundenes Buch 22 Euro sowie als E-Book 14,99 Euro. Der Roman stand auf der Longlist des Deutschen Buchpreises 2022.
Nachtrag: Die leuchtende Meerwalnuss ist sehr faszinierend. Hier kann man einen Blick auf sie werfen.
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