Montag, 24. Juni 2024

# 441 - Eine wahre Geschichte über den Jazz als Propagandamittel des Dritten Reichs

Jazz galt für die Nationalsozialisten als entartete Kunst. Das hielt sie jedoch nicht davon ab, ihn im 2. Weltkrieg für ihre Propaganda zu benutzen. Genauer: eine Propaganda gegen Großbritannien, in der vor allem Premierminister Winston Churchill und dessen Kriegspolitik aufs Korn genommen wurden. Der Radiointendant Adolf Raskin schlug dem Propagandaministerium deshalb 1940 ein Paket von drei Maßnahmen vor, die einander jeweils unterstützen sollten: eine Radiosendung mit dem Namen Germany Calling, eine in dieser Sendung auftretende Jazzband und eine wohlwollende Publikation, für die ein bislang unbekannter Schweizer Schriftsteller ausgewählt wurde. Dieser propagandistische Dreiklang war an dem ausgerichtet, was man im Ministerium für angelsächsischen Geschmack hielt.

Was seltsam klingt, hat so tatsächlich stattgefunden. Der Schweizer Autor und Archäologe Demian Lienhard hat die Begebenheit in seinem Roman Mr. Goebbels Jazzband aufgegriffen und sich dabei eng an die historischen Fakten gehalten. Zu diesen Fakten gehört auch, dass man es bei der Auswahl der Bandmitglieder mit deren Herkunft nicht so genau nahm und auch jüdische oder homosexuelle Musiker einstellte. Die Motive, bei Charlie and His Orchestra - wie die Band damals hieß - dabei zu sein, reichten von der Verbesserung des Einkommens bis zur Hoffnung, möglichst lange vom Kriegsdienst verschont zu bleiben.

Für die Moderation der Radiosendung setzte man auf größtmögliche Authentizität und wählte den faschistischen irisch-britischen Kommentator William Joyce aus. Er ging seinem Auftrag mit einem so großen Eifer nach, dass es in Großbritannien eine Fangemeinde gab.
Das kann über den Schriftsteller Fritz Mahler nicht gesagt werden. Er verstand seine Abreise aus der Schweiz nach Berlin und seinen ungewöhnlichen Auftrag sowohl als eine Flucht vor seinem Vater, von dem er sich bevormundet fühlte, als auch die Chance auf den schriftstellerischen Erfolg, den er sich so sehr wünschte.

Die dem Buch seinen Titel gebende Jazzband spielt hier jedoch nicht die Hauptrolle. Lienhard legt den Schwerpunkt auf den Kollaborateur Joyce sowie den Möchtegern-Autor Mahler. Ersterer ist mit seinem unsteten Lebenswandel und einem auf ihn wartenden Henker, noch bevor er 40 Jahre alt wird, eine historisch ziemlich traurige Figur
Mahler wird als Person beschrieben, die sich einredet, sich über den Inhalt des beauftragten Buches ständig Gedanken zu machen, aber in Wahrheit die personifizierte Unstrukturiertheit und der wandelnde Selbstzweifel ist. Es vergehen drei Jahre, in denen Mahler komplett unproduktiv ist und sich auf Kosten des Propagandaministeriums in Bars, Kneipen und Restaurants aufhält - zu Recherchezwecken, versteht sich.

Lesen?

Demian Lienhard hat sich einem Thema gewidmet, das mir bislang unbekannt war. Dass man es mit den selbst aufgestellten Kriterien, wie ein für die "deutsche Rasse" wertvoller Mensch auszusehen habe, in der eigenen Führungsriege nicht so genau nahm, ist bekannt: Joseph Goebbels haftete wegen seiner geringen Körpergröße und seines Klumpfußes der Spitzname "Schrumpfgermane" an, der 1934 auf Befehl von Adolf Hitler ermordete SA-Führer Ernst Röhm war homosexuell.
Wenn es der eigenen Sache diente, waren auch Menschen gut genug, die man unter anderen Umständen als "unwert" eingestuft hätte.

Das hätte jedoch in Mr. Goebbels Jazzband jedoch auch etwas gestraffter dargestellt werden können. Auch der Schreibstil ist mit seinen oft sehr langen Sätzen und geschraubten Formulierungen gewöhnungsbedürftig. Erst zum Schluss, im Nachwort des Berner Staatsarchivars Dr. phil. Samuel Tribolet, in dem dieser süffisant über Lienhards dortige Nachforschungen berichtet, heißt es zu meiner Überraschung: "Unter diesen Materialien befand sich auch das uns damals nicht näher bekannte, unvollendete Typoskript eines Romans mit dem Titel 'Mr. Goebbels Jazzband', den Lienhard nun auf den vorangehenden Seiten erstmals der Öffentlichkeit zugänglich macht." Damit soll vermutlich der teilweise antiquiert wirkende Stil erklärt und die Handlung zu einem Ende gebracht werden.
Aber stammt dieses Nachwort tatsächlich von Staatsarchivar Tribolet oder hat sich Lienhard die Freiheit genommen, ihn als fiktive Person und Stilmittel einzusetzen? Das bleibt unklar; auf der Website des Berner Staatsarchivs findet sich zumindest kein Mitarbeiter mit diesem Namen.

Mr. Goebbels Jazzband ist 2023 bei der Frankfurter Verlagsanstalt (FVA) erschienen und kostet als gebundene Ausgabe 24 Euro, als E-Book 18,99 Euro sowie als Hörbuch 9,95 Euro.

Der Roman wurde 2023 für den Schweizer Buchpreis nominiert.

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