Freitag, 5. April 2024

# 431 - Ein Film

Der Roman Ein Film (3000 Meter) ist aus verschiedenen Gründen etwas Besonderes. Er erschien 1926 in Barcelona in der katalanischen Originalausgabe und auf seinem Cover stand der Name des Autors Víctor Català. Doch hierbei handelte es sich um ein Pseudonym der Schriftstellerin Caterina Albert i Paradís. Man kennt das auch von anderen Autorinnen, denen es nicht möglich war, ihre Werke unter ihrem eigenen Namen zu veröffentlichen, weil sie Frauen waren, und die deshalb den Umweg über ein männliches Pseudonym gehen mussten: George Sand beispielsweise wäre unter ihrem Namen Amandine Aurore Lucile Dupin de Francueil wohl für immer unbekannt geblieben. Das gilt auch für die englische Schriftstellerin Mary Ann Evans, deren Roman Middlemarch 2015 von mehr als 80 Kritikern zum bedeutendsten Roman aller Zeiten gekürt wurde. Sie hat das Buch 1872 unter dem Pseudonym George Eliot veröffentlicht.

Die Handlung des Romans spielt um 1910 herum. In Europa werden Kinos gerade populär, ihre Wirkung wird in literarischen Kreisen diskutiert. 
Auch politisch durchlebte Spanien unruhige Zeiten. Es kam vermehrt zu sozialen Spannungen, und das Land stürzte sich in Nordafrika in den verlustreichen Rif-Krieg, um seinen Status als Kolonialmacht auszubauen. Als das zunächst misslang, kam es in Spanien zu innenpolitischen Problemen, die mit Billigung von König Alfonso XIII. 1923 zur Errichtung einer rechtsgerichteten Diktatur unter General Miguel Primo de Rivera führten.
Im Sommer 1909 gab es in Barcelona einen Arbeiteraufstand, der in mehreren Tausend Verhaftungen und einigen Todesurteilen mündete. In der Folge wurden mehrere Bürgerrechte ausgesetzt.

In dieser Atmosphäre der politischen, sozialen und wirtschaftlichen Unsicherheit ist Ein Film (3000 Meter) angesiedelt. Im Mittelpunkt steht der 22-jährige Nonat Ventura, der als Säugling in einem Waisenhaus in einer ländlichen Gegend Kataloniens abgegeben wird. Er ist intelligent und entwickelt sich zu einem gutaussehenden jungen Mann. Ein Waisenkind zu sein, empfindet er jedoch als Makel und fühlt sich vom Leben benachteiligt. Er ist sich sicher, wohlhabende Eltern zu haben und fühlt sich um ein schönes Leben betrogen. 

Ein kinderloser Schlossermeister aus Girona nimmt den Jungen bei sich auf und behandelt ihn wie einen eigenen Sohn. Doch Nonat strebt nach Höherem: Er liebt schöne Kleidung und den Lebensstil der wohlhabenden Bürger und weiß, dass er niemals deren Status erreichen kann, wenn er ein Leben als Schlosser lebt. Deshalb verlässt er seinen Ziehvater, der ihm zum Abschied eine Goldunze schenkt, die diesem immer Glück gebracht hat. Die Münze soll nun Nonats Talisman sein.

Nonat findet den Namen seiner Taufpatin heraus. Diese lebt mit ihrem Mann in einem Dorf und spürt schnell, dass der Schönling, der an ihre Tür geklopft hat, Ärger mit sich bringen könnte. Da sie vor 22 Jahren geschworen hat, das Geheimnis von Nonats Herkunft für sich zu behalten, tischt sie diesem eine offensichtliche Lüge auf, um ihn rasch loszuwerden. Der sieht sein Heil nun in Barcelona. Sein Gefühl sagt ihm, dass er dort die Antwort auf seine Herkunft finden wird und die Chance hat, mehr aus sich zu machen. Viel mehr.

Nonat schafft es schnell, dank seiner Cleverness und seines guten Aussehens in Barcelona Fuß zu fassen. Er übernimmt eine Werkstatt, die bald gute Kunden hat, und wird in seinem Umfeld geachtet. Aber das ungelöste Rätsel um seine Herkunft treibt ihn um. Außerdem hat die katalonische Hauptstadt Verlockungen, die Nonat von Girona nicht kannte. Wer es sich leisten kann, fährt mit der Straßenbahn oder sogar Droschke, es gibt viele gute Restaurants und auch kulturell ist Barcelona Girona weit überlegen. Doch diese Möglichkeiten, die Nonat gerne wahrnimmt, übersteigen seine Finanzen. Hat er bislang nur gelegentlich etwas in großen Menschenmengen mitgehen lassen, schart er schon bald einige Kleinkriminelle um sich, die das schnelle und leicht verdiente Geld wittern. Was sie nicht wissen: Alle Menschen, die den jungen Mann für ihren Freund hielten, wurden von ihm massiv enttäuscht. Einige, die ihn früher liebten und bewunderten, hassen ihn nun. Nonat ist das gleichgültig, er sieht nur seinen eigenen Vorteil. Aber wie lange kann er sein Glück, das ihm bisher treu war, strapazieren? 

Dann kommt der Tag, an dem Nonat die Goldunze seines Ziehvaters gestohlen wird...

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Ein Film (3000 Meter) wirft ein Licht auf das Leben der Menschen in Katalonien, die vor etwa einhundert Jahren knapp ihr Auskommen hatten oder am Rand der Gesellschaft standen. Nonats brennender Wunsch, ein Mitglied der wohlhabenden Klasse zu sein, zeigt immer wieder, wie groß die Kluft zwischen Arm und Reich war. Doch es war nicht nur das Geld, das ihn von denen "da oben" trennte, sondern auch seine Herkunft, die sich unter anderem in seinem schlechten Spanisch widerspiegelte. 

Catarina Albert i Paradís bettet ihren Roman in ein zeithistorisches Umfeld ein, in dem es in Katalonien und Spanien etliche Erschütterungen gab und man sich neu orientieren musste. Sie gehörte zu den Anhängern des Noucentisme, einer kulturellen und ideologischen Strömung, die mit dem Beginn der Diktatur von Miguel Primo de Rivera ihr abruptes Ende fand. In diese Zeit fiel ihre kreative Krise. Die wenigen Male, in denen sie in ihrem Roman direkt Bezug auf das Kino nimmt, das immer mehr Menschen begeisterte, sind wohl als Annäherung an das neue Medium zu sehen. Catarina Albert i Paradís wird beobachtet haben, welchen Einfluss das Kino auf das Leben und die Gewohnheiten der Menschen nahm. Davon blieb auch die Literatur nicht unberührt.

Einziger Kritikpunkt ist das Fehlen eines Nachworts, das den Kontext für die Romanhandlung liefert. 

Ein Film (3000 Meter) ist 2024 im Kupido Literaturverlag erschienen und wurde sehr lebendig von Petra Zickmann übersetzt.
Der Roman kostet gebunden 29,80 Euro.

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