ihrem Buch Der Platz über ihr Verhältnis zu ihrem Vater geschrieben, der 1967 gestorben ist - genau zwei Monate nach ihrer Prüfung für den höheren Schuldienst an Gymnasien. Sein Tod war der Anstoß, sich über sein Leben und das, was zwischen Vater und Tochter stand, Gedanken zu machen.
Ernaux hat sich einmal als "Ethnologin meiner selbst" bezeichnet. Doch das ist nur die halbe Wahrheit. Wie in Eine Frau geht es auch hier um den sozialen Aufstieg der Eltern, insbesondere aber um den Aufstieg der Tochter Annie, den die Eltern immer gewollt hatten.
Der Vater hat nur eine geringe Schulbildung und wächst unter einfachsten Verhältnissen auf dem Land auf. Nach der Schule wird er zunächst Knecht. Nach dem Ersten Weltkrieg findet er eine Stelle in einer Seilerei. Dort lernt er Ernaux' Mutter kennen. Sein Leben wird von dem Wunsch bestimmt, es einmal besser zu haben und sich einen bescheidenen Wohlstand zu erarbeiten. Er ist sich mit seiner Frau einig, dass sie nur ein Kind haben würden. Das konnten sie sich finanziell erlauben, mehr nicht.
Nach einigen Rückschlägen schafft es das Paar, in Yvetot einen renovierungsbedürftigen Hof mit einem Lebensmittelladen und einer Kneipe zu übernehmen. Das Leben von Ernaux' Eltern ist um die Selbstständigkeit herum aufgebaut, Laden und Kneipe werden auch sonntags geöffnet. Um den Erhalt des erreichten sozialen Status' kämpft der Vater bis zum Schluss; es geht ihm darum, seinen Platz im Leben zu verteidigen. Emotionale Zuwendung und Kommunikation sind beiden Eltern jedoch fremd. Die Fürsorge für ihre Tochter drückt sich darin aus, dass sie ihr eine gute Schulbildung ermöglichen, mit der es Annie Ernaux auf die Hochschule schafft.
Je älter Ernaux wird, desto fremder werden ihr die Eltern; das gilt sicher auch in die andere Richtung. Dieses auf dem Bildungsaufstieg des Kindes beruhende Phänomen gibt es heute ebenso wie damals und kann zu einem Kontaktabbruch zwischen den Eltern und ihren Kindern führen. Auch zwischen Annie Ernaux und ihren Eltern gab es Phasen, in denen sie sich kaum sahen, weil sie sich nichts zu sagen hatten oder sich nur stritten. Die Eltern sind stolz auf ihre gescheite Tochter, während diese sich ihrer oft schämt - um sich dann für ihre Scham zu schämen. Diese Scham fühlt sich an wie ein Verrat an den Eltern. Gerade dem Vater ist seine unterprivilegierte Herkunft in seiner Sprache und seinem Habitus anzumerken.
Wie ein dunkler Schatten liegt der Tod von Ernaux' Schwester über der kleinen Familie, die zwei Jahre vor Ernaux' Geburt gestorben ist. Annie ist das Ersatzkind. Auch darüber wird nur einmal gesprochen und danach nie wieder.
Lesen?
Annie Ernaux blickt auf ihr Leben und das ihrer Kernfamilie zurück, indem sie es fragmentiert. Jedem Fragment oder jeder Person wird eines ihrer Bücher gewidmet. So bleibt es nicht aus, dass sich deren Inhalte oft überschneiden. Wer also Eine Frau gelesen hat, dem kommt auch vieles in Der Platz bekannt vor.
Ernaux schreibt auch hier sachlich und schnörkellos. Diese Direktheit ermöglicht es, sich in die Familie einzufühlen und ihre Emotionen nachzuvollziehen. Diese strikte Sachlichkeit führt jedoch dazu, dass auch in schicksalhaften Momenten wie dem Tod des Vaters man als Leser oder Leserin mit Befremden auf das Abspulen des üblichen Alltags blickt, der doch gerade erst erschüttert wurde. Nur der Besuch des Pfarrers und die Beisetzung unterbrechen den gewohnten Tagesablauf.
Einen Hinweis auf den Grund, der Ernaux dazu bewogen hat, über ihren Vater zu schreiben, gibt ein Zitat des französischen Schriftstellers Jean Genet, das der Handlung vorangestellt ist:
"Ich wage eine Erklärung: Schreiben ist der letzte Ausweg, wenn man einen Verrat begangen hat."
Die Originalausgabe erschien 1983 unter dem Titel La Place. Das mir vorliegende E-Book folgt der 3. Auflage der Ausgabe des Suhrkamp Taschenbuchs 5108 und wurde von Sonja Finck übersetzt.
Der Platz kostet als gebundenes Buch 20 Euro, als Broschur 11 Euro sowie als E-Book 10,99 Euro.
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