Montag, 22. April 2024

# 433 - Mit diesem Roman ging's zum Nobelpreis

Der norwegische Autor Jon Fosse hat 2023 den Nobelpreis für Literatur bekommen. Bis zu diesem Zeitpunkt - das muss ich zu meiner Schande gestehen - hatte ich noch nichts von ihm gehört. Mit welchem Buch fängt man an, wenn man sich einem Schriftsteller nähern will? Denis Scheck empfahl in einem Interview mit SWR Kultur die kurze Novelle Das ist Alise. Diesen Rat habe ich beherzigt.

Normalerweise stelle ich hier in der Bücherkiste nur "richtige" Bücher vor. Mit Hörbüchern habe ich so meine Probleme. Aber wenn das gebundene Buch nur 120 Seiten hat, wie lange wird dann das Hörbuch dauern? Zweieinhalb Stunden, das weiß ich jetzt, denn ich habe beides gemacht: zuerst das Hörbuch begonnen (sehr gut gelesen von Max von Pufendorf) und etwa ab der Hälfte mit dem E-Book weitergemacht. Hätte ich mit dem E-Book begonnen, hätte ich es nicht bis zur letzten Seite geschafft. Aber der Reihe nach.

Das Haus von Asle und Signe steht einsam an einem Fjord. Zwanzig Jahre hat das Paar darin gemeinsam gelebt, doch dann, an einem sehr kalten und dunklen Tag Ende November 1979, verschwand Asle. Wie fast jeden Tag war er nach draußen gegangen, um mit seinem kleinen Ruderboot in den Fjord zu fahren. Doch diesmal kehrte er nicht zurück. Sein beschädigtes Boot wurde angespült.
Dreiundzwanzig Jahre ist das her. Dreiundzwanzig Jahre, in denen sich Signe nicht mit Asles Tod abfinden konnte und noch immer auf seine Rückkehr hofft.

Das Haus hat Asles Eltern, Großeltern und sogar schon den Urgroßeltern gehört. Hundert Jahre ist es alt und atmet förmlich die Familiengeschichte. 
An dem unwirtlichen Tag seines Verschwindens sieht Asle auf dem Weg zu seinem Boot seine längst verstorbene Ururgroßmutter Alise mit ihrem einjährigen Sohn Kristoffer. Die beiden wirken für Asle so real, als würden sie noch leben und wären wirklich da vor ihm. Er denkt an seine anderen Verwandten, die nicht mehr am Leben sind: Kristoffers Söhne Asle und Olav. Asle ertrank an seinem siebten Geburtstag.

Signa, die ewig Wartende, sieht ebenfalls in ihrer Vorstellung Asles Angehörige. Sie erlebt als passive Zuschauerin den Tod des kleinen Asle, der von seiner Mutter Brita aus dem Wasser gezogen und nach Hause getragen wird. Es ist der 17. November 1897. Alise, die gerade ihren Enkel verloren hat, gibt sich pragmatisch und beherrscht. Seid nicht traurig, sagt sie, Gott ist barmherzig.

Lesen?

Das Lesen von Das ist Alise habe ich als Herausforderung empfunden. Jon Fosse verzichtet konsequent auf Gänsefüßchen für die wörtliche Rede und den Punkt am Satzende. Wortwiederholungen, sonst eher verpönt, sind eines seiner Stilmerkmale. Sätze ziehen sich über viele Zeilen hin. Absätze oder Kapitel, die den Text übersichtlicher gestalten würden, fehlen. Zusammen mit der reduzierten Sprache wird eine dichte und gleichzeitig beklemmende Atmosphäre erzeugt. Diese Atmosphäre ist es, die mich beim Lesen bei der Stange gehalten hat.

Um noch einmal auf meine oben gemachte Aussage über das Hörbuch zurückzukommen: Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich das Buch zur Seite gelegt hätte, wenn ich mit ihm begonnen hätte.
Ansicht Hörbuch

Kann ich Das ist Alise nun empfehlen? Ich will ehrlich sein: Ich weiß es nicht. Ich weiß allerdings, dass es mir insgesamt zu viel Reduktion war.

Das ist Alise ist vor mehr als zwanzig Jahren zum ersten Mal im mare Verlag erschienen. Anlässlich der Auszeichnung Fosses mit dem Nobelpreis für Literatur hat der Verlag 2023 eine Neuauflage auf den Markt gebracht, die als gebundenes Buch (übersetzt von Hinrich Schmidt-Henkel) 20 Euro kostet. Das Hörbuch ist für 14,99 Euro,  das E-Book 11,99 Euro erhältlich.


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