Freitag, 16. Dezember 2022

# 375 - Eine Frau - ein besonderer Blick auf die verstorbene Mutter

Im April 1986 stirbt Annie Ernaux' Mutter im Alter von 80 Jahren in einem Altenheim in der Nähe von Paris. Zwei Jahre hat sie dort gelebt - dement und hilfsbedürftig.

Knapp zwei Wochen später schreibt Ernaux in Eine Frau auf, was das besondere Verhältnis zwischen ihr und ihrer Mutter geprägt hat. Zehn Monate benötigt sie, um ihre Erinnerungen an ihre Kindheit und Jugend zu Papier zu bringen, aber auch, um über das oft angespannte Mutter-Tochter-Verhältnis zu schreiben, das die beiden Frauen verband.

Die Eltern stammten aus sozial einfachen Verhältnissen und wollten, dass es ihr Kind einmal besser hat als sie. Dass Bildung der Schlüssel zum sozialen Aufstieg ist, war insbesondere der Mutter klar. Damit das gelingt, sollte es bei einem Kind bleiben. Das erste Kind der Eltern stirbt 1938 an Diphtherie, 1940 wird Annie geboren. Obwohl das Geld knapp ist, ermöglichen die Eltern ihrer Tochter den Besuch guter Schulen. Das Kind Annie weiß genau, mit welchem Anliegen sie sich an den Vater oder die Mutter wenden muss: "Er ging mit mir auf den Jahrmarkt, in den Zirkus, in Filme mit Fernandel, er brachte mir Radfahren bei und welches Gemüse im Garten wuchs. Mit ihm hatte ich Spaß, mit ihr 'unterhielt ich mich'. Sie war die dominante Figur, das Gesetz."

Annie Ernaux beschreibt sehr genau und prägnant, wie sich das Verhältnis zwischen ihr und ihrer Mutter verändert, als die Tochter vom Kind zur Jugendlichen wird. Durch deren Unterstellung, die Tochter würde mit dem Erstbesten ins Bett gehen und sich schwängern lassen, erzeugt die Mutter ungewollt eine Distanz. Ernaux empfindet bei dem Gedanken an ihre Mutter in dieser Zeit eine so deutliche Mutlosigkeit, dass sie eine Parallele zieht zu "afrikanischen Müttern, die ihren Töchtern die Arme auf dem Rücken festhalten, während eine Beschneiderin ihnen die Klitoris entfernt".

Spätestens mit dem Beginn des Studiums wird spürbar, dass sich Ernaux und ihre Eltern in verschiedenen Welten bewegen und einander kaum noch etwas zu sagen haben. An der Uni lernt die junge Frau ihren späteren Ehemann kennen, der aus einem Elternhaus stammt, in dem Bildung etwas Selbstverständliches ist. Ihr wird der soziale Unterschied zwischen ihren Eltern und Schwiegereltern sowie insbesondere den beiden Müttern immer deutlicher.
Einige Zeit nach dem Tod des Vaters zieht die Mutter in das Haus ihrer Tochter ein, in dem diese mit ihrem Mann und den zwei Söhnen lebt. Es ist keine Überraschung, dass sich dabei Konflikte ergeben: Die Erwartungen von Mutter und Tochter an das gemeinsame Zusammenleben sind nur schwer in Einklang zu bringen. Nach wenigen Jahren zieht die Mutter zurück in ihre Heimatstadt Yvetot.

Dann stellt Ernaux fest, dass sich ihre Mutter verändert. Sie wird immer verwirrter, und nach einiger Zeit wird bei ihr die Alzheimer-Krankheit diagnostiziert. Ernaux holt die alte Frau zu sich, muss aber feststellen, dass sie mit deren Pflege auf Dauer überfordert ist. Es bleibt nur die Unterbringung in einem Pflegeheim.

Lesen?

Wer schon ein Elternteil verloren hat, kann sehr viel von dem nachempfinden, worüber Ernaux geschrieben hat. Das Verhältnis zu den Eltern - nicht nur zur Mutter - ändert sich im Laufe des Lebens. Dazu gehört auch, dass sich die Beziehungen oft umkehren, wenn die alten Eltern mit ihren Kräften am Ende sind oder eine Demenz beginnt, das Leben zu beherrschen: Während früher die Eltern (meistens) als Menschen erlebt wurden, die so schnell nichts umhaut, nehmen sie im Alter oft de facto die Rolle von Kindern ein, die von ihren eigenen Kindern Unterstützung erhoffen.

Annie Ernaux hat nicht nur diesen Rollenwechsel sehr genau beschrieben, sondern auch das wechselhafte Verhältnis zu ihrer Mutter, die durch von unterschiedlichen sozialen Status geprägten Leben und Konflikte der beiden Frauen sowie ihren eigenen  Trauerprozess, der mit der letzten Zeile des Buches nicht zu Ende war. Das alles in einer schnörkellosen Sprache, die die Leserschaft direkt anspricht.

Eine Frau wurde in der Originalfassung Une femme 1987 veröffentlicht. 1993 und 2007 wurden die deutschen Titel Das Leben einer Frau bzw. Gesichter einer Frau herausgebracht. 
Die aktuelle Übersetzung aus dem Jahr 2019 erschien im Suhrkamp Verlag. Die gebundene Ausgabe kostet 20 Euro, das E-Book 11,99 Euro und das Taschenbuch 12 Euro.

Annie Ernaux erhielt 2022 den Nobelpreis für Literatur.


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