Samstag, 9. September 2023

# 408 - Ein Freund der Erde - wahrgenommen als Feind der Menschen

Im Jahr 2000 wurde der achte Roman des US-Autors
T. C. Boyle veröffentlicht, A Friend of the Earth. Ein Jahr später erschien die deutsche Fassung mit dem Titel Ein Freund der Erde. Jetzt sind wir im Jahr 2023, und man wird beim Lesen des Buches das Gefühl nicht los, dass auf Boyles Schreibtisch eine Kristallkugel steht, in die der Autor dann und wann einen Blick hineinwirft, um sich Anregungen für seine Bücher zu holen. Aber von vorn.

Ein Freund der Erde spielt sowohl in den 80-er und 90-er Jahren des 20. Jahrhunderts als auch 2025 und 2026. Der Protagonist ist der ehemalige militante Umweltaktivist Tyrone "Ty" O'Shaughnessy Tierwater, der 2025 75 Jahre alt ist und im Auftrag eines gealterten früheren Popstars in Kalifornien die letzten Wildtiere hütet, die außerhalb des privaten Geheges längst ausgestorben sind: Löwen, Hyänen, Ameisenbären. Ratten haben selbstverständlich auch überlebt, für sie ist kein Schutz nötig. Krabben, Thunfische und Forellen sind ebenso Geschichte wie Frösche, Kondore oder Giraffen. Welse gibt es noch als Zuchttiere mit der Konsequenz, dass ein großer Teil der Ernährung durch sie sichergestellt wird - von Wels-Sushi bis Wels-Pizza ist da einiges möglich.
In der Nähe von Oslo werden kalifornische Weinreben angebaut, die nassen Loire- und Rheintäler eignen sich gut für den Ananas-Anbau. Auf der Erde leben 11,5 Milliarden Menschen, allein in Kalifornien 60 Millionen. Zu der Bevölkerungsexplosion haben auch medizinische Fortschritte beigetragen, die durch lebensverlängernde Maßnahmen zu einer Lebenserwartung von 100 Jahren führen.

Die Menschen in Kalifornien kämpfen 2025 ums Überleben in einer unwirtlichen Umgebung. Extreme Hitzeperioden, die die Erde aufbrechen und alles verdorren lassen, wechseln sich mit mächtigen Unwettern ab: Tage- oder wochenlang kommen ununterbrochen große Regenmengen vom Himmel, die alles überfluten und für Schimmel in den Gebäuden sorgen. Die Stürme sind so stark, dass ihnen nur speziell abgesicherte Dächer standhalten. Die klimatischen Veränderungen und die extensive Abholzung der Wälder haben dazu geführt, dass es so gut wie keine Bäume mehr gibt. 

Wenn man sagt, dass Ty sein Leben für den Umweltschutz gegeben hat, ist das nicht übertrieben. Er hat gemeinsam mit seiner damaligen Frau Andrea an legalen Aktionen der Umweltorganisation "Earth Forever!- EF!" teilgenommen und sich radikalisiert, als er den Eindruck hatte, dass diese Aktionen nichts an der verfehlten Klima- und Umweltpolitik der US-Regierung und der Bundesstaaten ändern. Er machte Bau- und Holzfällermaschinen von großen Unternehmen nachts unbrauchbar und steckte eine Holzplantage in Brand, für die ein natürlicher Wald mit alten Baumriesen abgeholzt worden war. Dafür saß er jahrelang im Gefängnis. An seiner Einstellung hat die Haft nichts geändert. Ty war nie ein Redner, sondern wollte mit seinen Taten etwas erreichen: "Ich halte keine Predigten. Es ist zu spät dafür, und abgesehen davon hat das Predigen noch nie irgendwas geholfen. Aber eins will ich sagen, der Ordnung halber - die meiste Zeit meines Lebens war ich Verbrecher. Genau wie ihr", lässt Boyle Ty Tierwater 2025 sagen.

Was ihn sein Leben lang verfolgt, ist der lange zurückliegende Tod seiner Tochter Sierra, die damals wegen einer spektakulären Umweltaktion zu einer Ikone der Umweltbewegung wurde. Alles lange her, kaum jemand kennt heute noch ihren und Tys Namen. Das soll sich plötzlich, vierundzwanzig Jahre nach Sierras Tod, ändern: Andrea taucht unvermittelt bei Ty auf, zwanzig Jahre, nachdem sich die beiden getrennt haben. Sie hat eine Frau mitgebacht, die Ty flüchtig von früher kennt und ihn nun interviewen will, um eine Biographie über seine Tochter zu schreiben. Die Anwesenheit der beiden Frauen führt zu problematischen Situationen, die sich zuspitzen, als das Wetter noch schlechter wird. Die normalerweise in ihren Gehegen lebenden Tiere sind vom ansteigenden Wasser bedroht, sodass Ty nur eine Chance sieht, sie zu retten: Sie müssen vorübergehend im weitläufigen Wohnhaus des Popstars untergebracht werden, das  auf einer künstlichen Anhöhe steht. Diese Umsiedlung bringt eine verhängnisvolle Kette von Ereignissen in Gang, die manche der Hausbewohner nicht überleben.

Lesen?

Boyles dystopischer Roman greift Themen auf, die ein Großteil der Menschen jahrzehntelang verdrängt hat. Der Klimawandel und seine Folgen sind für sich genommen keine Neuigkeit, wurden und werden jedoch "erfolgreich" ignoriert. 

Boyle zeichnet die Folgen von drastischen Hitze- und Regenperioden nach und hält bereits vor dreiundzwanzig Jahren eine aktive Klimabewegung für möglich, die sich zum Teil radikalisiert, weil sie kein anderes Mittel mehr findet, um die Politik und die Bevölkerung aufzurütteln. Dass es heute, zwei Jahre vor dem im Roman maßgeblichen Jahr, noch nicht so schlimm gekommen ist, wie vom Autor vorhergesagt, kann vernachlässigt werden. Nur Geduld, das wird schon.

Gegen Ende schleicht sich bei Ty Tierwater Resignation ein, als er gefragt wird: "Und was hast du erreicht? Sieh dich doch um - sieh dich doch nur um und beantworte mir das." - "Nichts, überhaupt nichts", ist seine Antwort. Mehr Frustration geht nicht.
T. C. Boyle entlässt seine Leserinnen und Leser allerdings nicht in dieses düstere Gefühl, sondern öffnet eine Tür, damit Ty und Andrea so etwas wie eine Zukunft haben.

T. C. Boyle hat ein sehr feines Gespür für Themen, die Menschen jetzt bewegen oder es später tun werden. Man mag einwenden, dass das Narrativ des menschengemachten Klimawandels und dessen Folgen so oft gebetsmühlenartig wiederholt wird, dass man davon nichts mehr hören oder lesen mag. Aber solange es ein Aufreger ist, wenn im Wolfsburger VW-Werk mit seinen mehr als 30 Kantinen und Kiosken in nur einer (!) Kantine ausschließlich vegetarisch gekocht und die heißgeliebte VW-Currywurst nur fleischlos angeboten wird, ist es offenbar angebracht, immer wieder zu wiederholen, dass wir uns aus unserer Komfortzone verabschieden und die Realität wahrnehmen und entsprechend handeln sollten. Zwei Jahre lang wurde in dieser einen Betriebskantine fleischlos gekocht, dann knickte die Konzernleitung im August 2023 ein und passte das Angebot an das der anderen "normal" kochenden Kantinen an. Was würde T. C. Boyle dazu sagen? Man kann es nur erahnen.

Ein Freund der Erde ist in der deutschen Version 2001 im Hanser Verlag erschienen und kostet als Taschenbuch 13 Euro sowie als E-Book 9,99 Euro.

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