Montag, 18. September 2023

# 409 - Eine Tour de Force durch das kriegseuphorische Wien

Hans Ranftler ist siebzehn Jahre alt, lebt und arbeitet
für einen Hungerlohn als Knecht auf einem Hof in einem tiroler Tal und trauert seiner Schulzeit in einem Gymnasium nach, die mit dem Unfalltod des Vaters vor sieben Jahren ein jähes Ende nahm. Von dem, was in der Welt oder sogar nur in Österreich passiert, hat er nur so viel mitbekommen, wie ihm sein mit "Herr" angesprochener Bauer erzählt hat.

Am frühen Morgen des 30. Juli 1914 kommt Hans mit dem Zug in Wien an, nachdem er sich vom Hof fortgeschlichen hat. Sein Ziel ist die Praxis der Psychoanalytikerin Helene Cheresch, einer Expertin für "Massenhysterien und parapsychologische Effekte", von der er in der Zeitung gelesen hat. Hans hat an sich eine Gabe beobachtet, die er für so außergewöhnlich hält, dass er von Chereschs Interesse daran ausgeht: Er nimmt Gedanken von Menschen in seiner Nähe kurz, bevor sie ihnen selbst bewusst werden, wahr.

Im Umfeld von Chereschs Praxis lernt Hans zufällig den Aristokratensohn und Offizier Adam und die begabte Mathematikdoktorandin Klara kennen, die aus armen Verhältnissen kommt und mit der Psychoanalytikerin lebt.  

Wien ist zu diesem Zeitpunkt in Aufruhr. Zar Nikolaus II. hat die Generalmobilmachung der russischen Armee befohlen, und in Österreich ist der drohende Kriegsbeginn das alles beherrschende Thema. Zu Tausenden strömen junge Männer euphorisch in die Kasernen, der Kriegstaumel hat die ganze Stadt ergriffen. Jeder, mit dem Hans in Wien zusammentrifft, geht wie selbstverständlich davon aus, dass sich der junge Mann zum Kriegsdienst melden wird. Doch das hat Hans nicht vor.

Für Klara und Adam geht es nur einen Tag später ums Ganze: Die Doktorandin will am 31. Juli 1914 ihr Rigorosum bestehen, bei dem es um Irrationalzahlen geht, die auch als Inkommensurable bezeichnet werden, und der junge Offizier hat bereits seinen Einberufungsbefehl in der Tasche. Die beiden sind gut miteinander befreundet und nehmen den intelligenten, aber unbedarften Hans unter ihre Fittiche. 

Adam, der von seinem Vater früh für das Leben als Offizier gedrillt wurde, hat diesem vor Jahren eine Bratsche abgetrotzt, um seiner wahren Leidenschaft, der Musik, nachgehen zu gönnen. Hans erlebt nun eine Probe des Zweiten Streichquartetts von Arnold Schönberg, danach ein Abendessen mit Adams Eltern und weiteren elitären Gästen und anschließend zu dritt Besuche von anrüchigen Etablissements, in denen Adam und Klara ein und aus gehen, die für Hans aber eine ganz neue Welt sind. Das, was er in kurzer Zeit in atemberaubender Geschwindigkeit kennenlernt, hat mit seinem bisherigen Leben auf dem Land nichts zu tun.

Lesen?

Raphaela Edelbauer hat mit Die Inkommensurablen einen Roman geschrieben, der dicht gedrängt sowohl ein Ritt durch die Wiener Geschichte als auch die Zeichnung eines Gesellschaftsbildes beinhaltet. Die kriegstrunkene Bevölkerung verachtet Juden und Sozialisten, weil man bei ihnen eine fehlende nationalistische Einstellung voraussetzt. Die gesellschaftlichen Klassen spielen eine große Rolle und werden hier durch die drei Kurzzeit-Freunde Hans (Bauern), Adam (Adel und Militär) und Klara (Proletariat) repräsentiert. Hans beobachtet in einem Unterweltlokal zum ersten Mal homosexuelle Menschen, erlebt Drogensüchtige und hört neue Musik wie den Jazz und die heftig kritisierte Zwölftonmusik, deren bekanntester österreichischer Komponist der o. g. Arnold Schönberg ist.

Das Buch hält die Aufmerksamkeit durch sein Tempo und Edelbauers treffsichere Formulierungen hoch.
An manchen Stellen schleicht sich jedoch etwas Unglaubwürdigkeit in die Handlung: Es bleibt unklar, was Adam und Klara dazu bringt, die letzten Stunden bis zu den Wendepunkten ihres Lebens ausgerechnet mit einem ihnen völlig unbekannten Knecht zu verbringen, dem sie zufällig bei ihrer Psychoanalytikerin begegnen. Auch dass die Zeit für einige ausgedehnte philosophische Betrachtungen ausreicht, ist im Hinblick auf die sich überschlagenden Ereignisse erstaunlich. Nicht zuletzt ist das Vertrauen, dass beispielsweise Klara Hans entgegenbringt, ungewöhnlich: Sie kennen sich nur wenige Stunden, als sie ihm ein Geheimnis über Adam anvertraut. Doch was erwartet man von ihr, die sich unter großen Opfern durch ihr Studium gekämpft hat, um sich die letzte Nacht vor ihrem Rigorosum um die Ohren zu schlagen? Logisches Verhalten jedenfalls nicht unbedingt.

Die Wege der drei jungen Menschen trennen sich nach eineinhalb intensiven Tagen. Was aus ihnen wird und ob sie sich wiedersehen, bleibt offen.

Die Inkommensurablen ist ein lesenswertes Buch mit einigen Abstrichen. Es steht auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis 2023.

Der Roman ist 2023 bei Klett-Cotta erschienen und kostet als Hardcover 25 Euro sowie als E-Book 19,99 Euro.

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