Sonntag, 24. September 2023

# 410 - Eine urbane Liebesgeschichte in Kreuzberg

Quelle Cover: Kanon Verlag
Der Erfolg von Tim Staffels in Berlin spielendem Buch Südstern hat den Autor selbst möglicherweise am meisten überrascht. Seine ersten vier Romane hat Staffel zwischen 1998 und 2008 veröffentlicht und dafür mehrere Literaturpreise erhalten, danach folgten zahlreiche Theaterstücke und Hörspiele. In einer Lebensphase, in der er sich aus dem Kulturbetrieb zurückgezogen hatte, um herauszufinden, ob er auch dann noch schreiben kann, wenn er nicht davon leben muss, hat Staffel dieses Buch neben seinem Brotjob geschrieben - und es damit auf die Longlist des Deutschen Buchpreises 2023 geschafft.

Vanessa Paschke und Deniz Aziz sind die zentralen Figuren der Handlung. Sie ist 27, Pharmakologin, Barfrau und seit Kurzem Drogenkurierin - was sie scherzhaft als Apothekenservice bezeichnet. Vanessa ist mit Olli, einem Bundestagsabgeordneten und Gesundheitsexperten, der sich für saubere Drogen engagiert, liiert.
Deniz ist ähnlich alt, Streifenpolizist aus Überzeugung und mit der Pflege seines an Parkinson erkrankten Vaters angesichts von Doppelschichten und gefährlichen Einsätzen und trotz der regelmäßigen Hilfe durch eine ambulante Pflegerin heillos überfordert.

Die beiden begegnen sich zufällig vor dem Mehrfamilienhaus in Kreuzberg, in dem Deniz mit seinem Vater Markus wohnt. Vanessa hat Markus nach Hause begleitet, als der den Weg nicht mehr fand. Seit diesem ersten Zusammentreffen gehen Vanessa und Deniz einander nicht mehr aus dem Kopf. Staffel beschreibt, wie sie sich langsam aneinander herantasten und nicht wissen, wie weit sie gehen und wie viel sie über sich erzählen dürfen. Es dauert einige Zeit, bis das Vertrauen zwischen ihnen so weit gewachsen ist, dass es auf dem Niveau ihrer Gefühle füreinander angekommen ist.

Sowohl Vanessa als auch Deniz kommen aus schwierigen sozialen Verhältnissen. Beide sind in Kreuzberg aufgewachsen, Deniz' Vater stammt aus der Gegend um den Südstern, einem im 19. Jahrhundert angelegten Platz, über den mehrere Kreuzberger Straßen verlaufen und unter dem sich eine gleichnamige U-Bahn-Station befindet. Markus passiert diesen Platz immer dann, wenn er das Grab seiner verstorbenen Frau Selda besuchen will. Es ist der einzige längere Weg, den er noch ohne Begleitung machen kann und für ihn ein bisschen ein Kurztrip in die eigene Vergangenheit.

Südstern greift das Leben vieler Menschen in Kreuzberg auf, die in Staffels Roman oft nur kurz und als Stellvertreter vieler Menschen auftreten, die ein ähnliches Schicksal haben. Da geht es um  Schutzgelderpressung in der Gastronomie ebenso wie um Probleme im Kleinbürgermilieu.
Vanessa sieht schnell, wo die wahren Nöte der Leute liegen und wird von manchen direkt um ihre diskrete
 "Hilfe" gebeten. Ärzte, Politiker und Sportler, die den Druck, der auf ihnen lastet, nicht mehr aushalten, sind ihre typischen Kunden. Aber sie ist auch da, wenn ihre empathische Unterstützung gebraucht wird: Sobald sie den Eindruck hat, dass ihr durch Bundeswehreinsätze traumatisierter Bruder Felix dem Tod näher als dem Leben ist, lässt sie alles stehen und liegen. Dessen Depression und Gewaltbereitschaft sind so stark, dass er für die Arbeit als Justizvollzugsbeamter im Gefängnis Tegel nicht mehr geeignet ist und schon mit 29 Jahren frühpensioniert wird. 

Deniz hat als Polizist zwar seinen Traumberuf gefunden, kämpft aber darum, als Beamter mit Migrationshintergrund ernst genommen zu werden. Er muss sich nicht nur gegen Pöbeleien, sondern auch massive tätliche Angriffe im Dienst wehren. Dass er ausgerechnet mit seiner Kollegin Jovanna auf Streife ist, die nicht nur eine Angststörung, sondern auch ein ausgewachsenes Rassismusproblem hat, macht sein Leben nicht leichter.

Trotz aller Unterschiede bewegen sich Vanessa und Deniz aufeinander zu. Vanessa realisiert jedoch lange nicht, in welchem Konflikt sich Deniz befindet: Er liebt Vanessa, kann aber als Polizist schlecht damit umgehen, dass sie dealt. Werden sie den Konflikt lösen können?

Lesen?

Südstern ist ein Buch mit einer sehr urbanen Atmosphäre. Tim Staffel hält seine Sätze so kurz wie möglich und verzichtet auf sprachliche Schnörkel. Die Perspektivwechsel von Vanessa zu Deniz und umgekehrt passieren oft von einem Satz zum nächsten, was manchmal nur aus dem Zusammenhang erkennbar wird. Das irritiert zunächst, man gewöhnt sich jedoch daran.

Die Frage "Kriegen sie sich?" wird genauso hochgehalten wie die Beschreibung des besonderen Umfelds, in dem sich die beiden Protagonisten bewegen. Das macht den Roman von der ersten bis zur letzten Seite interessant. Insbesondere Vanessa stellt sich immer die Frage, was ein Zuhause und was Heimat ist. In ihrer Kindheit hatte sie beides nicht, jetzt als Erwachsene scheint sie erneut heimatlos zu sein. Aber die Hoffnung auf einen Platz, wo sie hingehört, ist ihr geblieben.

Kritik habe ich an einigen Ungenauigkeiten, die vermeidbar gewesen wären. Da geht es um Felix' üppige Pension, die nach wenigen Dienstjahren im mittleren Dienst die Durchschnittspension aller Beamten übersteigt.
Es geht auch um Deniz' pflegebedürftigen Vater Markus, der bereits einen Pflegegrad hat, der im Roman aber nicht hoch genug ist, um den Einbau einer bodengleichen Dusche zu bezahlen - was schlicht falsch ist.
Und dann ist da noch die offenbar prekäre Situation mit der für Markus dringend nötigen Physiotherapie, für die der Arzt nur ein Rezept über zehn Behandlungen ausgestellt hat, was er nur einmal pro Quartal darf. Allerdings gehört Parkinson zu denjenigen Erkrankungen, für die eine Dauerverordnung möglich ist. 
Gegen diese Kritik ist die Szene, in der Vanessa und Deniz Ende April Pflaumen, Aprikosen und Kirschen aus Gärten klauen, eine Kleinigkeit. 

So hoffnungslos und dramatisch etliche Szenen in Tim Staffels Roman sind, so positiv ist es, dass sich für die Hauptpersonen etliches in ihrem Leben zum Guten wendet. Die Leserinnen und Leser erwartet ein Happy End, mit dem in dieser Form nicht zu rechnen war.

Südstern ist 2023 im Kanon Verlag erschienen und kostet als gebundenes Buch 25 Euro sowie als E-Book 19,99 Euro.




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