Freitag, 29. September 2023

# 411 - Eine verhängnisvolle Liebe

Muna oder Die Hälfte des Lebens von Terézia
Mora ist die Geschichte einer Frau, die in der DDR im fiktiven Ort Jüris aufgewachsen ist. Der Roman beginnt Ende 1988 mit Munas Vorsatz, ihrer Heimatstadt und der Mutter so bald wie möglich den Rücken zu kehren.
Muna Appelius steht kurz vor dem Abitur. Sie lebt mit ihrer alkoholkranken Mutter, einer Theaterschauspielerin, zusammen, der Vater ist vor zehn Jahren an Lungenkrebs verstorben. Die finanzielle Situation der beiden Frauen ist prekär, denn Munas Mutter hat den Höhepunkt ihrer Karriere schon vor längerer Zeit überschritten. Beziehungen hat Muna bislang in Verbindung mit Trennung und Schmerz wahrgenommen.

Im Herbst 1988, ein halbes Jahr vor dem Ende ihrer Schulzeit, beginnt Muna ein Praktikum bei einem Magazin der Tageszeitung Volksstimme. Dort lernt sie Magnus Otto kennen. Magnus ist hauptberuflich Gymnasiallehrer, im Nebenberuf Bildredakteur beim Magazin und deutlich älter als Muna. Er steuert dem Magazin von ihm selbst aufgenommene Fotos bei. Muna verliebt sich sofort in den introvertierten und geheimnisvoll wirkenden Mann und beginnt, ihm nachzuspionieren.

Im Juli 1989 verbringt Muna eine Nacht mit Magnus. Er fährt am nächsten Tag angeblich für eine Radtour nach Rumänien, aber in Wahrheit nutzt er die Situation in Ungarn, um sich in den Westen abzusetzen. Er bricht alle Brücken hinter sich ab, Muna sucht vergeblich nach ihm. Sie wird zum ersten Mal vor einer Beziehung mit Magnus gewarnt, versteht jedoch nicht den Grund dafür, denn sie sieht in Magnus "den schönsten Mann, den ich je im Leben sehen würde".

Muna beginnt in Berlin ein Literaturstudium. Weitere Stationen führen sie nach Wien und London. Sie hat Affären mit verschiedenen Männern, keine davon befriedigt sie. Ihr Leben finanziert sie mit schlecht bezahlten Jobs. Magnus ist immer in ihrem Hinterkopf, allerdings sucht sie nicht mehr nach ihm. Doch dann, sieben Jahre nach ihrem One-Night-Stand, treffen sie sich zufällig in Berlin bei einer Open-Air-Veranstaltung. Sie nehmen den abrupt gerissenen Faden ihrer Beziehung wieder auf. 

Ohne, dass sie es zunächst spürt, nimmt das Verhängnis für Muna seinen Lauf: Sie, die intelligente und sehr gut aussehende Frau, der viele Türen offen stehen würden, richtet ihr Leben an Magnus' Wünschen und Bedürfnissen aus. Sie vernachlässigt die Arbeit an ihrer Dissertation, folgt ihm bei jedem Ortswechsel und achtet penibel auf jeden Stimmungswechsel ihres Liebsten, um diesen nicht zu reizen. Wenn man sich bislang fragte, wie es dazu kommen kann, dass sich ein Mensch von einem anderen Menschen völlig abhängig macht und ihm psychisch und sexuell ergeben ist, bekommt man beim Lesen von Muna oder Die Hälfte des Lebens eine Ahnung von den Mechanismen, die dazu führen. Magnus manipuliert Muna auf eine Weise, die deren Selbstbewusstsein aushöhlt und sie an sich zweifeln lässt.

Muna sehnt sich danach, mit ihrem Traummann eine Familie zu gründen. Doch Magnus ist beim Thema Kinder klar: Er will weder jetzt noch irgendwann Vater werden. In das "irgendwann" legt Muna ihre Hoffnung, dass sie und Magnus nun ein Paar sind. Sie baut darauf, seine Meinung mit der Zeit zu ändern. Vor den Zeichen, die auf eine deutliche Schieflage in dieser Beziehung hindeuten, verschließt sie die Augen.

Man ahnt es: Nach der ersten wüsten Beschimpfung, die Magnus Muna wegen einer Kleinigkeit an den Kopf wirft, dauert es nicht mehr lange bis zur ersten Handgreiflichkeit. Es wird nicht die letzte bleiben.

Lesen?

Muna oder Das halbe Leben ist ein sehr bewegender und oft verstörender Roman, und man möchte der jungen Frau, die am Ende des Buches ihr halbes Leben hinter sich hat, immer wieder zurufen: "Verlass ihn! Renn, so schnell du kannst!"
Terézia Mora erzeugt jedoch Verständnis für Munas irrationales Verhalten, das dazu führt, dass sie ihre Beziehung zu Magnus auch dann noch verteidigt, als er immer gewalttätiger und rücksichtsloser wird. Doch es führt ein Weg aus dieser unheilvollen Beziehung hinaus, auch wenn er nur über Munas psychischen Zusammenbruch und ein unheilvolles Wiedersehen möglich ist.

Muna oder Das halbe Leben steht auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis 2023, und das völlig zu Recht. Terézia Mora hat den Deutschen Buchpreis bereits 2013 gewonnen und hat mehr als ein Dutzend weitere Preise erhalten.

Der Roman ist 2023 im Luchterhand Verlag erschienen und kostet gebunden 25 Euro sowie als E-Book 19,99 Euro. Terézia Mora hat das Buch als den ersten Teil einer Trilogie angekündigt. Man darf also gespannt sein, wie es weitergeht.


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