Samstag, 7. Oktober 2023

# 412 - Wie ist das Kindsein im Krieg? Ein Roman über Entwurzelung, Sprachlosigkeit und Euthanasie

Sepp Malls Roman Ein Hund kam in die Küche ist
eine Zeitreise nach Südtirol und Oberösterreich Anfang der 1940-er Jahre. 
Die Südtiroler Familie Gruber entschließt sich 1942 auf Drängen des Vaters, die Heimat zu verlassen und nach Österreich auszuwandern, das nach dem sog. "Anschluss" des Alpenlandes ein Teil des Deutschen Reichs wurde. Hitler und Mussolini hatten eine als "Option" bezeichnete Möglichkeit vereinbart, dass die deutsch- und ladinischsprachige Bevölkerung Italiens (was im Wesentlichen der Bevölkerung Südtirols entsprach) sich entweder für ein Leben im Deutschen Reich oder den Verbleib in Italien entscheiden konnte. Die Ausreisewilligen werden in den Augen vieler Südtiroler zu Heimatverrätern.

Der Vater des im Roman als Ich-Erzähler auftretenden elfjährigen Ludi ist von der Vorstellung begeistert, Reichsdeutscher werden und der deutschen Sache dienen zu können. Doch die Familie, die außerdem noch aus der Mutter und dem sechsjährigen Hanno besteht, ahnt nicht, was da auf sie zukommt.

Die erste Station ist Innsbruck. Dort werden die Vier zunächst in einem Hotelzimmer untergebracht, danach folgt eine genaue ärztliche Untersuchung. Während sie für Ludi und seine Eltern komplikationslos verläuft, muss sich Hanno einer weiteren medizinischen Begutachtung unterziehen. Er ist wegen seiner körperlichen und geistigen Einschränkungen aufgefallen.

Der Vater meldet sich kurz nach der Ankunft zum Kriegsdienst an die Front. Er ist überzeugt davon, dass Deutschland den Krieg schnell gewinnen und er bald wieder bei seiner Familie sein wird. Es wird jedoch Jahre dauern, bis er zurückkehrt.

Aufgrund der Untersuchungsergebnisse muss Hanno in ein Behindertenheim. Die Familie geht davon aus, dass es ein Aufenthalt von einigen Wochen oder vielleicht einem Monat wird und Hanno danach besser sprechen und laufen kann. Man ahnt, dass es anders kommt.

Lesen?

Sepp Mall beschreibt die Folgen der krassen Fehlentscheidung des Vaters, die Heimat zu verlassen, brutal, aber dennoch empathisch. Szenen wie die, in denen es der Mutter und Ludi im Behindertenheim durch einen Trick verwehrt wird, sich von Hanno zu verabschieden, gehen sehr nahe. Ludi, der zu seinem Bruder ein enges und liebevolles Verhältnis hat, hofft, diesen noch einmal durch eines der Fenster zu sehen: "Und doch wurde ich den Gedanken nicht los, dass Hanno uns noch gesehen hatte. [...] Er musste uns gesehen haben, als wir davongingen." Die Mischung aus Hoffnung und Verzweiflung, die von Ludis Worten ausgeht, ist deutlich zu spüren. Später hört er den Kommentar des Dorfladenbesitzers nach Hannos Tod, dass alle Opfer bringen müssten und man das dem gesunden Volkskörper schuldig sei.

Mall spricht nicht nur die Euthanasie an, der Hanno im Zuge der "Aktion T4" zum Opfer fiel, sondern auch das Gefühl der Heimatlosigkeit. Ludi hat Heimweh nach seinem Tal in Südtirol, und seine Mutter verspricht ihm, dass sie beide so bald wie möglich dorthin zurückkehren werden. Er fühlt sich in Österreich im "Niemandsland": "Meine Mutter war die Einzige, die wusste, wer in der Schulbank neben mir gesessen hatte oder wen ich meinte, wenn ich der Schneider sagte. [...] Hier an diesem Ort gab es keine Erinnerungen, die mir gehörten und die ich mit jemandem teilen konnte."
Doch zunächst werden sie ins sog. Oberdonaugau (heutiges Oberösterreich) geschickt. Die Familie wird wegen ihrer italienischen Herkunft mit Vorurteilen konfrontiert, die geflüchteten Sudetendeutschen, denen sie begegnet, werden von den Einheimischen aber deutlich schlechter behandelt. 

Und dann ist da diese Sprachlosigkeit. Nichts wird Ludi erklärt, oft muss er sich die Wahrheit aus den wenigen Äußerungen und Gesten seiner Eltern zusammenreimen. Auf Nachfragen, warum man ihm nichts gesagt habe, kommt häufig die stereotype Antwort: "Es ist besser so." Begriffe, die in der Sprachwelt der Erwachsenen eine Bedeutung haben, sind dem Jungen fremd und er gibt ihnen einen neuen Inhalt.

Mit einem sprachlichen Kniff lässt Sepp Mall den getöteten Hanno lebendig werden: Er erscheint seinem Bruder sowohl im Traum als auch im Alltag und erzählt ihm, was ihm im Behindertenheim widerfahren ist.

Ein Hund kam in die Küche wurde für den Deutschen Buchpreis 2023 nominiert. Zu Recht, denn der Roman schildert eindringlich und mit klaren Worten, wie sich Entwurzelung und Krieg für ein Kind anfühlen. 

Das Buch 2023 in der Leykam Buchverlagsgesellschaft erschienen und kostet als gebundene Ausgabe 24,-- Euro sowie als E-Book 18,99 Euro.

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