Sonntag, 15. Oktober 2023

# 413 - Eine Familiengeschichte, die nach Schuld und Verantwortung fragt

Anne Rabe ist 1986 in Wismar geboren und aufgewachsen. Sie war drei Jahre alt, als ihr Land, die DDR, unterging. In ihrem Roman Die Möglichkeit von Glück versucht sie die Frage zu klären, wann jemand ein Mitläufer ist und ab welchem Punkt man zum Mit-Täter wird.

Die Hauptperson ist Stine. Sie wurde im selben Jahr und Ort wie die Autorin geboren. An die DDR hat sie wie diese also keine Erinnerungen. Aber die erwachsene Stine, die verheiratet und Mutter von zwei Kindern ist, blickt zurück auf ihre Kindheit und Jugend. Durch die Rückschau erlebt und beobachtet sie in ihrem familiären und beruflichen Umfeld die Folgen, die zwei aufeinanderfolgende Diktaturen für die Persönlichkeiten der Menschen gehabt haben.

Im Fokus stehen dabei ihre Eltern Sven und Monika sowie ihre Großeltern Eva und Paul. Das Verhältnis zu den Eltern ist zerrüttet, weil Stine und ihr jüngerer Bruder Tim unter der Gefühlskälte der Mutter gelitten haben und sich ihre Hoffnung, dass ihr Vater sich für seine Kinder einsetzen würde, nie erfüllt hat. Niemand in der Familie bemerkt, dass das Kind Stine im Alter von fünf oder sechs Jahren anfängt, sich selbst zu verletzen. Doch woher kommt die Eiseskälte der Mutter, deren pädagogisches Motto einem Zitat aus einer Rede Hitlers vor dem Reichsparteitag (1935) zu entsprechen scheint: hart wie Kruppstahl, zäh wie Leder? Die Kinder haben zu funktionieren, ihre Bedürfnisse spielen keine Rolle.

Rabe schlägt eine Brücke in die Vergangenheit und erzählt von Stines Großvater Paul, der in der DDR Propagandist, Schuldirektor und danach Hochschuldozent war. Ein Mensch, der in ärmliche Verhältnisse hineingeboren worden war und das Beste aus seinem Leben machen wollte. Ein Mensch, der sich in die Nazi-Maschinerie einfügte, Soldat wurde und in russische Kriegsgefangenschaft geriet, aus der er floh. Wie er das geschafft hat, bleibt unklar. 

Paul wollte das Ziel des sozialen Aufstiegs erreichen und hat nach dem Untergang des Deutschen Reichs im Sozialismus der DDR sein Glück gesucht. Als auch die zu einem Teil der Vergangenheit wurde, blieb sie in den Augen der Eltern und Großeltern das bessere Deutschland.

Stine beginnt, über gezielte Recherchen so viel wie möglich über das Leben von Opa Paul herauszufinden. Sie ist davon überzeugt, dass er als Reichs- oder DDR-Bürger Schuld auf sich geladen hat. Fragen kann sie ihn nicht mehr, weil er bereits verstorben ist.
Die junge Frau liest Studien, die von sogenannten Entlastungserzählungen berichten: Die Deutschen wissen zwar um die Verbrechen, die im Nationalsozialismus begangen wurden, aber aus der eigenen Familie war - selbstverständlich! - niemand daran beteiligt. Diese Erzählungen gibt es auch in der eigenen Familie, doch was stimmt daran? Stines Recherchen werfen neue Fragen auf, beantworten aber nur wenige.

Und nach der Wende? Für die DDR-Bürger bleibt praktisch nichts, wie es war. Ihre Gewissheiten lösen sich in Rauch auf, sie finden sich innerhalb kurzer Zeit in neuen Strukturen wieder. Durch die Abwicklung zahlreicher VEB und LPG wird eine Massenarbeitslosigkeit ausgelöst, in deren Fahrwasser sich Neonazis breitmachen. Oder waren die nie wirklich weg?

Lesen?

Anne Rabe schildert, wie sich die DDR im Leben ihrer Bürgerinnen und Bürger ein Stück weit fortsetzt und an ihnen klebt - wie etwas, was man unter dem Schuh hat, aber partout nicht los wird. Die DDR und die Erfahrungen, die die älteren Generationen in und mit ihr gemacht haben, verortet die Autorin als Fortführung des Erlebten aus der Nazi-Diktatur. Kurios: Wer von der DDR zum Beispiel durch einen hohen Bildungsabschluss profitiert hatte, konnte diesen für seine weitere berufliche Laufbahn einsetzen. Dieses Privileg hatten aber nur diejenigen, die sich dort systemkonform verhalten hatten. Wer sich gegen den Staat gestellt hatte, wurde dafür abgestraft: durch Ausschluss vom Abitur oder Studium oder auch durch die Vorgabe des künftigen Berufs. Mit dieser Hypothek starteten die Menschen, die sich gegen das System gestemmt hatten, in die neue Zeit nach der Wende.

In ihrer Betrachtung spart Rabe den Westen Deutschlands fast völlig aus, so, als hätte er auf die Ereignisse im Osten keinen Einfluss (gehabt). Sie wirft nur einen kurzen Blick nach "drüben", als es um Opa Pauls Bruder geht, der sich nach dem Zweiten Weltkrieg für ein Leben in der BRD entschieden und dort Karriere gemacht hat.

Um Situationen zu verdeutlichen, setzt Rabe einen alternativen Erzähler ein, dessen Passagen kursiv gedruckt sind. Er reflektiert Geschehnisse, indem er Stine direkt anspricht und ihr diese in Erinnerung ruft.

Letztendlich bleiben die Dinge im Ungefähren. Stine verurteilt ihren Opa für Taten, die sie ihm nicht nachweisen kann. Opa Paul kann sich naturgemäß nicht mehr verteidigen und nichts erklären, und so bleibt am Ende der Eindruck, dass viel zu viel geschwiegen wurde und wird - wie so oft.

Die Möglichkeit von Glück ist interessant zu lesen, lässt aber zu viele Fragen offen.
Gegen Ende des Romans versucht Stines Mutter ein letztes Mal, Macht über ihre längst eigenständig lebende Tochter auszuüben. Warum das bei der Protagonistin nicht nur Wut, sondern auch Angst auslöst, bleibt offen, weil die Mutter zu diesem Zeitpunkt im Leben von Stines vierköpfiger Familie keine Rolle mehr spielt. Das zu erklären, dürfte die Aufgabe von Psychologen oder Psychologinnen sein.

Die Möglichkeit von Glück ist 2023 im Verlag Klett-Cotta erschienen und kostet als gebundenes Buch 24 Euro sowie als E-Book 18,99 Euro.

Der Roman steht auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises 2023.

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