Freitag, 20. Oktober 2023

# 414 - Erinnerungen an die Mutter: Liebe sieht anders aus

Die deutsch-französische Autorin Sylvie Schenk blickt in ihrem Roman Maman auf die Lebensgeschichte ihrer verstorbenen Mutter Renée und zeigt, wie sich deren Erfahrungen seit ihrer frühen Kindheit auf die Erziehung ihrer eigenen Kinder ausgewirkt haben. Sie hat ihren Töchtern beigebracht, Angst vor Männern und Sexualität zu haben und Männer zu verachten. Aber warum?

Schenk weiß nur wenig über ihre Mutter, die sie als schweigsamen und kaum zugewandten Menschen erlebt hat. Renée wurde 1916 in einem Lyoner Krankenhaus geboren, ihre Mutter Cécile starb bereits eine Stunde später. Cécile wurde nur 45 Jahre alt, ihre Mutter war Seidenarbeiterin und wahrscheinlich eine Prostituierte.

Renée wird als Säugling von einer Bauernfamilie in der Ardèche als Pflegekind aufgenommen. Das Motiv der Familie ist nicht altruistisch, sondern ökonomisch: Man braucht das Pflegegeld als Zusatzeinkommen und rechnet damit, das Kind in einigen Jahren als kostenlose Arbeitskraft einsetzen zu können. Die "Erziehung" der Pflegeeltern ist von Gefühlskälte und Vernachlässigung geprägt.

Erst als Renée fast sechs Jahre alt ist, ist ihre Verwahrlosung auch für die Behörden nicht mehr zu übersehen, und sie wird aus der Familie herausgenommen. Die neuen Pflegeeltern, die sie später adoptieren werden, gehören zum bürgerlichen Milieu: Charles ist Apotheker, Marguerite geht in der Aufgabe auf, sich um Renée zu kümmern. Trotz aller Hingabe gelingt es ihr nicht, das Mädchen aus seiner Schweigsamkeit und Verschlossenheit herauszuholen. Das Kind hat Albträume und ist kognitiv schlechter als Gleichaltrige entwickelt. Daran ändert auch der Besuch einer Privatschule nichts. 

Renées Leben verläuft weitgehend fremdbestimmt. Bis zu ihrer Hochzeit 1936 mit dem jungen Zahnarzt Jean sagt ihr Marguerite, was gut und richtig ist. Nach der Eheschließung wird das Renées Mann übernehmen. Die Ehe ist nicht von Liebe, sondern Konventionen geprägt. Renées Aufgabe ist ganz traditionell eine gute Ehefrau und Mutter zu sein. Sie bringt vier Töchter und einen Sohn zur Welt, die ohne ihre besondere Aufmerksamkeit und Fürsorge groß werden. Jean ist immer seltener zu Hause; die Lieblosigkeit, von der Renée in ihrer frühen Kindheit geprägt wurde, findet in ihrer Ehe ihre Fortsetzung. Das liegt auch daran, dass Renée für ihren Mann nur Abneigung empfindet.
Doch dann, in der Zeit der sich ausbreitenden Resistance, fühlt sich Renée zu einem Mann wirklich hingezogen und ist bereit, für ihn ihr bisheriges Leben hinzuwerfen und mit ihm durchzubrennen. Sie erkennt, dass sie auf eine Täuschung hereingefallen ist.

Das, was Sylvie Schenk über ihre Mutter weiß, hat sie aus Akten, in denen sie und ihre Geschwister recherchiert haben. Was sich nicht mehr ermitteln ließ, hat die Autorin durch fiktionale Inhalte ergänzt. Man spürt den Schmerz darüber, die Eltern und Großeltern nicht genauer nach deren früheren Lebensumständen befragt zu haben. 

Die Mutter hat aus ihrer Herkunft, über die sie selbst nicht viel wusste, ein gut gehütetes Geheimnis gemacht. Mit ihrem Roman geht Sylvie Schenk der Frage nach, inwieweit ihr eigenes Leben durch das distanzierte Verhalten ihrer Mutter geprägt wurde. Die Leserinnen und Leser von Maman bekommen nicht nur Einblick in die sehr spezielle familiäre Situation, sondern auch in die bis in die 1960-er Jahre in Frankreich geltenden Konventionen, die oft nur als Fassade für ein gesellschaftlich nicht akzeptiertes Leben dienten.

Lesen?

Maman ist eine Aussöhnung mit der Mutter und deren nicht-mütterlichem Verhalten. Sylvie Schenk kann ihrer Mutter nun Verständnis für deren fehlende Wärme und Zuneigung entgegen bringen. Kurz vor ihrem Tod öffnet sich Renée kurz und gibt ihrer schreibenden Tochter einen Einblick in ihr Wesen. "Du darfst alles aufschreiben, ich weiß, dass du es aufschreiben wirst", sind die letzten Worte von der Mutter an die Tochter. Es ist, als würden sie einander die Hände reichen. Zum ersten und zum letzten Mal.

Maman ist 2023 im Carl Hanser Verlag erschienen und kostet als gebundene Ausgabe 22 Euro sowie als E-Book 16,99 Euro.
Der Roman stand auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis 2023.

 

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