Montag, 22. Juli 2024

# 444 - Ein Krimi aus dem Herzen eines Ministeriums

Der österreichische Journalist Wolfgang Ainetter wurde
2018 Sprecher des damaligen Bundesverkehrsministers Andreas Scheuer und erhielt so Eindrücke, wie ein Ministerium "tickt". In seinem als 'Ministeriumskrimi' untertitelten Buch Geheimnisse, Lügen und andere Währungen gibt er rund drei Jahre nach seinem Ausscheiden Einblicke, wie es dort zugegangen ist. Oder doch nicht?

Mich hat das Buch interessiert, weil ich selbst einige Jahre in einem Ministerium gearbeitet habe, etwa drei Mal länger als Wolfgang Ainetter in "seinem". Ich kenne gewöhnungsbedürftige Mechanismen, habe Ministerinnen und Minister verschiedener Parteizugehörigkeiten kommen und gehen sehen, die Zahl der Staatssekretäre während dieser Zeit war noch größer. Nacheinander, versteht sich. Was ich nicht erlebt habe, waren Vorgänge, die sich für einen Ministeriumskrimi geeignet hätten.

Worum geht's?

Die Handlung dreht sich um einen hohen Beamten im Bundesverkehrsministerium, der so etwas wie die graue Eminenz des Hauses ist. Seit Jahrzehnten führt der direkte Zugang zum jeweiligen Minister nur über Ministerialdirektor Hans-Joachim Lörr. Sämtliche Vorgänge für den Minister gehen über seinen Schreibtisch, er terrorisiert alle nachgeordneten Beamtinnen und Beamten, senkt oder hebt den Daumen, wenn es um Beförderungen geht, ist extrem geizig, intrigant und korrupt. Wenn es einen Preis für den meistgehassten Kollegen gäbe, wäre Lörr ein kochend heißer Anwärter.

Lörr steht kurz vor seiner Pensionierung. Das hält ihn aber nicht davon ab, sich und seine Frau von Coronamasken-Fabrikanten zu einem Zehngang-Menü in ein Berliner Nobelrestaurant einladen zu lassen. Da erreicht ihn ein Anruf seiner Büroleiterin, die ihn dringend um ein vertrauliches Gespräch bittet. Lörr verlässt das Lokal, kehrt aber nicht zurück. Verschwand der Beamte aus freien Stücken oder wurde er entführt?

Der aus Österreich stammende und nun bei der Berliner Polizei arbeitende Polizeioberkommissar André Heidergott und seine Vorgesetzte Emily Schippmann werden von ihrem Chef beauftragt, sich die Sache näher anzusehen. Die Liste der Menschen, die sich Lörr zum Feind gemacht hat, ist endlos. Von einem schnellen Ermittlungserfolg kann keine Rede sein. Lörr ist wie vom Erdboden verschluckt.

Lesen?

Wolfgang Ainetter hat in Interviews immer wieder betont, dass es sich bei seinem Krimi um eine Persiflage der Ministeriumsgepflogenheiten handelt. Das möchte, nein: das will man glauben, wenn man liest, dass der besoffene Minister Felix Rohr einer Kellnerin an die Brüste fasst oder seinen Sprecher mitten in der Nacht anruft, weil er seine Öffentlichkeitswirksamkeit für zu schlecht hält. Hat das etwa auch Andreas Scheuer getan? Dagegen ist die Anekdote, dass der Minister bei einem Tag der offenen Tür alle Besucher - sogar einen Formel-1-Weltmeister - beim Bürostuhlrennen geschlagen hatte, zwar wenig ministrabel, aber immerhin ganz lustig. So ähnlich hat es diese Begebenheit tatsächlich gegeben: 2018 lieferte sich Scheuer ein Rennen auf E-Karts gegen Nico Rosberg. Hier gibt es noch Fotos von der Veranstaltung, auf einem (dem dritten) ist auch Wolfgang Ainetter in seiner damaligen Funktion als Scheuers Pressesprecher zu sehen.

Sicherheitshalber hat Ainetter seinem Krimi einen Hinweis vorangestellt: Diese Geschichte ist ebenso wahr wie die Lebensläufe von Abgeordneten. Die handelnden Personen existieren tatsächlich - in der Halluzination des Autors. Sofern man sich in den handelnden Figuren wiedererkenne: Medienanwalt Christian Scherz wird sich um Sie kümmern, leider nur gegen Honorar. 

Christian Scherz hat übrigens die Ex-Bundeslandwirtschaftsministerin Julia Klöckner vertreten, als die sich 2023 von ihrem Mann scheiden ließ. Auch sie taucht als "Weinkönigin" mit einem ungewöhnlichen Verschleiß an Pressesprecherin in Ainetters Buch auf. Oder ist am Ende doch jemand anders gemeint?

Geheimnisse, Lügen und andere Währungen gehört in die Kategorie der Cosy-Krimis, Unterkategorie Soft-Cosy. Es stirbt niemand, keiner wird körperlich oder seelisch außergewöhnlich gequält, eine anschließende Psychotherapie wegen einer posttraumatischen Belastungsstörung wird für keine der Figuren nötig sein. Der skizzierte Kriminalfall ist eher der Aufhänger für das Drumherum: Die Ermittlungen öffnen den Beamten Türen, die anderenfalls erzählerisch verschlossen geblieben wären.
Auf der letzten Seite habe ich mich gefragt, ob es das Pendant zum Beamten Lörr während Ainetters Ministerialzeit tatsächlich gegeben hat. Wenn ja, würde ich von dieser Person gern wissen, wie man eine ganze oberste Bundesbehörde derart dauerhaft in Schach hält und was die unter ihr Leidenden davon abgehalten hat, das Haus zu verlassen. Karriere macht man schließlich nicht nur im Bundesverkehrsministerium. 

Geheimnisse, Lügen und andere Währungen ist 2024 im Haymon Verlag erschienen und kostet als Taschenbuch 13,95 Euro sowie als E-Book 9,99 Euro.

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