Nobelpreis erhielt, veröffentlichte sie mit Le jeune homme eine Kurzgeschichte, die ein Jahr später unter dem Titel Der junge Mann auf Deutsch erschien.
Sie erzählt darin von einer Liebesbeziehung, die auch heute noch viele Menschen als skandalös empfinden würden: Mit Mitte 50 war Ernaux zwei Jahre mit einem fast 30 Jahre jüngeren Studenten liiert. Doch die Schriftstellerin empfand weder heute noch damals Scham wegen dieses Altersunterschiedes.
In ihrer gewohnt nüchternen und etwas distanzierten Art berichtet sie, welche Bedeutung diese Beziehung für sie hatte: Blickte sie den jungen Mann an, fühlte sie sich an ihre eigene Zeit als Studentin in Rouen erinnert. Wie er war sie Jahrzehnte zuvor ebenfalls an der dortigen Universität eingeschrieben gewesen, und wie er kam sie aus einfachen sozialen Verhältnissen. Doch während ihr Partner A., wie sie ihn im Buch nennt, sein Leben und seine Entwicklung noch vor sich hat, blickt Ernaux auf einen Berufsweg, ihre Ehe mit einem Mann aus dem Bildungsbürgertum und die Zeit mit ihren beiden Söhnen, die etwa so alt wie A. sind, zurück.
Die Beziehung findet nicht auf Augenhöhe statt. Ernaux erkennt im Alltagsverhalten ihres Freundes Hinweise auf seine soziale Herkunft wieder, die sie selbst ihr Leben lang abschütteln und überwinden wollte. Auch eine im Grunde banale Erkenntnis schiebt sich immer wieder zwischen sie: Ernaux' Erinnerungen reichen bis weit vor die Geburt von A. zurück, während der Großteil seiner künftigen Erinnerungen stattfinden wird, wenn sie nicht mehr lebt.
Der junge Mann hat ihretwegen seine 20-jährige Freundin verlassen und wünscht sich sogar ein gemeinsames Kind. Beides schmeichelt ihr, die Familiengründung mithilfe einer bei ihr eingepflanzten fremden Eizelle lehnt sie jedoch ab - sie hat schon Kinder, mehr möchte sie nicht.
Es beginnt ein Prozess, der aus der Sicht der Schriftstellerin unvermeidlich zu sein scheint. In dieser Phase beginnt sie ihre Arbeit an einem Buch, in dem es um ihre heimliche Abtreibung 30 Jahre zuvor gehen soll. Vom Wohnungsfenster des Freundes ist die mittlerweile leerstehende Klinik gut zu sehen, in die Ernaux wegen der danach auftretenden Komplikationen gegangen ist.
Lesen?
Die Entscheidung, Der junge Mann zu lesen, kann man sich leicht machen: Das Buch ist mit 48 Seiten (Verlagsangabe) zu Ende gelesen, kurz nachdem man es begonnen hat. Wie von ihr gewohnt, schreibt Annie Ernaux sehr offen und schont sich selbst nicht. Irritierend ist allerdings eine gewisse Egozentrik: Wie hat Ernaux den jungen Mann kennengelernt? Was hat ihn an ihr fasziniert? Wie schwer fiel ihm der Abschied von ihr? All das bleibt ungesagt und hinterlässt eine Leerstelle.
Der junge Mann ist in der deutschen Übersetzung von Sonja Finck 2023 im Suhrkamp Verlag erschienen. Das Buch kostet als gebundene Ausgabe 15 Euro, broschiert 10 Euro und als E-Book 9,99 Euro.
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