Sonntag, 4. August 2024

# 446 - Ein guter Rat gefällig?

Eliza Peabody ist 51 Jahre alt und lebt mit ihrem Mann
Henry in einem Haus in der Rathbone Road am Rand von London. Das Paar ist seit 30 Jahren verheiratet, hat keine Kinder und gehört zur gehobenen Mittelschicht. Henry ist Diplomat im Außenministerium; Eliza ist nicht berufstätig, weil das in ihrem sozialen Umfeld so üblich ist. Elizas Leben hat sich an Henrys Karriere ausgerichtet: Die beiden haben in Bangkok, Damaskus, Kairo und Washington gelebt, bevor sie nach London zurückkehrten.

Eliza betätigt sich ehrenamtlich in einem christlichen Hospiz. Dort steht sie jedoch nicht den Sterbenden bei, sondern spült das Geschirr. Eliza ist der Meinung, dass sie ihre Meinung jederzeit ungefragt äußern sollte. So hält sie es auch in ihrer Nachbarschaft: In den Briefkästen des Viertels finden sich immer wieder Zettel, auf denen Eliza "hilfreiche" Hinweise geschrieben hat. Doch in Jane Gardams Roman Gute Ratschläge wird deutlich, wo das Problem ist: Sie geht ihren Mitmenschen mit ihren Tipps auf die Nerven.

In ihrer Straße wohnt eine Familie mit zwei Kindern und einem Hund. Vater Charles ist wie Henry im Außenministerium beschäftigt. Elizas Fokus liegt auf der Mutter Joan: Deren hinkender Gang erregt ihre Aufmerksamkeit, und sie schreibt der Nachbarin einen Brief. Darin gibt sie ihr Ratschläge, was es mit Joans Bein auf sich haben könnte: "Ich glaube, es ist etwas Psychologisches, Psychosomatisches, und Charles nimmt es furchtbar schwer. Es macht sowohl ihn als auch dich zum Gespött und ihr ruiniert euch euer Leben."

Viele Leute würden nach so viel Übergriffigkeit an Joans Tür Sturm klingeln und ihr den Marsch blasen. Joan tut nichts dergleichen. Sie schweigt. Kurze Zeit später verschwindet sie und lässt Familie und Hund zurück. Eliza erfährt erst einen Monat später davon. In der Zwischenzeit hat sie der Nachbarin drei weitere Briefe geschrieben, in denen sich eine Instinktlosigkeit an die andere reiht. Als Eliza Joans Verschwinden registriert, stachelt sie das zu weiteren Briefen an, in denen sie der Frau, als deren Freundin sie sich jedes Mal bezeichnet, schwere Vorwürfe macht. Die Briefe sendet sie an Adressen auf einer Liste, die Joan für ihren Mann geschrieben hat.

Mit jedem Brief steigert sich Eliza mehr in ihren belehrenden Wahn hinein, und jeder wird länger und ausufernder. Joan antwortet ihr jedoch nicht. Allerdings kommt der verlassene Charles der Einladung nach, Zeit mit den Peabodys zu verbringen. Das führt nach einigen Monaten zu einem unerwarteten Ereignis: Henry informiert seine Frau darüber, dass er ab sofort mit Charles zusammenleben werde. Die beiden Männer verlassen das Viertel. Eliza bleibt allein im Haus zurück und kreist um sich selbst.

Elizas Briefe werden immer persönlicher. Der ehemaligen Nachbarin, die sie in Wahrheit kaum kennt, erzählt sie intime Details aus ihrem Leben bis hin zum Grund für ihre Kinderlosigkeit. Sie nimmt auch kein Blatt vor den Mund, als sie das Leben der Frauen in der Nachbarschaft beurteilt: "Vermutlich habe ich bei dir nur beobachtet, was in weniger dramatischer Form bei vielen Frauen unseres Alters in der Rathbone Road zu sehen war: Langeweils, Überdruss, Erkenntnis."

Aber dann kommt der Zeitpunkt, ab dem Eliza von surrealen Erlebnissen erzählt. Da ist ein Professor, dessen Körper schmilzt und in der Kanalisation verschwindet, ein absurdes Gespräch mit ihrer ehemaligen Tutorin in Oxford und unangemeldete Besucher, die angeblich von Joan geschickt wurden. Am unheimlichsten ist ihr Erlebnis mit dem Hospizbewohner Barry, der Eliza besonders am Herzen lag. Sie wird von einer der Schwestern über seinen Tod informiert, eilt an sein Bett und führt dort mit ihm ein langes Gespräch über ihr Leben.

Lesen?

Erst allmählich schält sich heraus, wie Eliza zu der Person geworden ist, die ihrem Mann und ihren Nachbarn heute den letzten Nerv raubt. Doch genau wie Elizas Leben zerfasert, tut es auch die Handlung. Zum Schluss ist nicht klar, was real ist und was nur in Elizas Kopf existiert.

Gute Ratschläge ist ein Entwicklungsroman über eine erwachsene Frau, die reflektiert, dass sie in einer Gesellschaft voll Doppelmoral lebt, in der Frauen vor allem Ehegattinnen zu sein haben, die ihren Männern den Rücken frei halten und mit denen sich diese schmücken können. Gardam zeigt auch, wie es einem Menschen gehen kann, der ein traumatisches Erlebnis mit niemandem teilen und nicht verarbeiten kann. Der Roman hat heitere, aber auch nachdenklich machende Facetten.

Gute Ratschläge ist unter dem Originaltitel The Queen of the Tambourine 1992 erschienen und wurde 2024 erstmals in der deutschen Übersetzung (Übersetzerin: Monika Baark) im Hanser Verlag veröffentlicht. Der Roman kostet als gebundene Ausgabe 25 Euro und als E-Book 18,99 Euro.

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