Wir haben alle diese Bilder vor Augen: indische Kinder,
die auf riesigen Müllhalden nach etwas Verwertbarem suchen oder Müllteppiche aus Plastik, die auf den Weltmeeren treiben. Mit dem Beginn der diesjährigen Urlaubssaison machten Meldungen von Touristen die Runde, die in der Hoffnung auf einen gelungenen Strandurlaub nach Bali reisten und anstelle einer Postkartenidylle Müllteppiche entlang von Flüssen und Stränden vorfanden. Ist die Entstehung und Entsorgung von Müll also ein Problem unserer modernen Gesellschaft?
Wer Roman Kösters Monographie Müll - Eine schmutzige Geschichte der Menschheit liest lernt, dass die Entstehung sowie die Entsorgung oder Verwertung von Abfall ein fester Bestandteil der Menschheitsgeschichte sind. Der Historiker geht das Thema chronologisch an, beschränkt sich jedoch nicht auf Europa, sondern betrachtet den Umgang mit Müll auch global. In seiner Einleitung weist Köster auf die immense Bedeutung des Müllproblems hin und nennt Zahlen: Nach Schätzungen der Weltbank fielen 2016 weltweit 2,01 Milliarden Tonnen Hausmüll an - industrieller Müll ist hier also noch gar nicht enthalten. Wird hier nicht konsequent eingegriffen, wird Prognosen zufolge die Hausmüllmenge im Jahr 2050 bereits bei 3,4 Milliarden Tonnen liegen. Seit 50 Jahren versuchen Umweltpolitiker, diese gewaltige Müllmenge zu reduzieren. Der Erfolg ihrer Bemühungen ist nicht wahrnehmbar.
Doch wann wird eine Sache zu Müll? Schon in dem Moment, in dem wir sie wegwerfen, oder erst dann, wenn ihr tatsächlich kein Wert mehr beigemessen wird? Hier kommt man am Recycling nicht vorbei. Schon vormoderne Gesellschaften haben Wiederverwertung von Dingen betrieben, die andere nicht mehr gebrauchen konnten: tierische und menschliche Fäkalien wurden als Dünger verwendet, getragene Kleidung wurde je nach Güte weiterverkauft oder für die Papierherstellung gebraucht, defekte metallene Gebrauchsgegenstände wurden repariert oder zu einem anderen Gegenstand umgearbeitet. Allerdings waren die Motive für diese Art des Recyclings andere als heute: Damals lebten auch in Europa viele Menschen in einer sie täglich existenziell bedrohenden Armut, die sie zum sparsamen Umgang mit Ressourcen zwang. Außerdem sorgte die Sammlung von Müll dafür, dass sich Menschen ein bescheidenes Auskommen sichern konnten.
Köster erläutert, dass die Problematik der Müllentsorgung mit dem Beginn der Sesshaftigkeit der Menschheit vorwiegend Städte betraf. Schon die Maya kannten Mülldeponien, und in Troja hat es bereits im 5. Jahrhundert v. Chr. eine Straßenreinigung und eine Mülldeponie gegeben. Je mehr sich eine Stadt ausdehnte, umso schwieriger wurde es, für ein Mindestmaß an Stadthygiene zu sorgen: Müllhalden, die zuvor noch am Stadtrand lagen, befanden sich nun im bebauten Gebiet und beeinträchtigten die Gesundheit der Bürgerinnen und Bürger. Das galt ebenso für schmutzige Gewerbe wie Gerbereien oder Schlachtereien.
Seit den 1960-er Jahren wird ein großer Teil des Mülls in Verbrennungsanlagen vernichtet. Obwohl diese Anlagen mit immer besseren Filtern ausgestattet werden, ist bis heute unklar, welche bisher unbekannten Schadstoffpartikel die Schornsteine verlassen und Umwelt und Menschen schädigen.
Den Beginn des Massenkonsums und damit drastischen Anstiegs der Müllmengen verortet Roman Köster nach dem Zweiten Weltkrieg: Der Trend zum Einkauf in Supermärkten und im Versandhandel machte neue Verpackungsformen und -mengen in einem bis dahin nicht gekannten Ausmaß nötig.
Sogar der Beginn der Vermüllung der Meere mit Plastikabfällen lässt sich relativ genau bestimmen: Köster erzählt, dass die beiden Schriftsteller Thomas Mann und Aldous Huxley 1938 am Strand von Santa Monica spazieren gingen. Dort entdeckten sie eine große Menge von kleinen weißen Würmern. Bei näherem Hinsehen stellten sie fest, dass es sich um benutzte Kondome handelte, die durch die Abflussrohre von Los Angeles an den Strand gespült worden waren.
Mittlerweile sind fünf Müllteppiche ("Great Pacific Garbage Patches") bekannt, die sich im Atlantischen, Pazifischen und Indischen Ozean befinden. Sie sind durch Meeresströmungen entstanden, der größte ist dreimal so groß wie Frankreich.
Lesen?
Müll - Eine schmutzige Geschichte der Menschheit vermittelt durch seine umfassende Darstellung der Müllgeschichte und -problematik, wie dringend die globale Müllmenge verringert werden muss.
In seinem Epilog geht Roman Köster auf die Frage ein, wie eine erfolgreiche Müllreduzierung aussehen könnte. Spoiler: Die Erziehung der Verbraucher zur Müllvermeidung führt zu einem so geringen Effekt, dass nur mit ihr das Problem nicht gelöst werden kann.
Müll - Eine schmutzige Geschichte der Menschheit wurde für den Deutschen Sachbuchpreis 2024 nominiert und ist ein aufschlussreiches Sachbuch, das nicht nur eindringlich, sondern auch sehr gut verständlich die Müllproblematik erläutert.
Müll - Eine schmutzige Geschichte der Menschheit ist 2023 im Verlag C.H.Beck oHG erschienen und kostet gebunden 29 Euro sowie als E-Book 22,99 Euro.
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