Freitag, 16. August 2024

# 448 - Roman über eine Gesellschaftsordnung im freien Fall

Republik Irland, zu einem nicht näher bezeichneten
Zeitpunkt der heutigen Welt. Die Bevölkerung spürt ein politisches Grummeln, aber noch sind die Verhältnisse wie gewohnt: geordnet und verlässlich. Doch schon auf den ersten Seiten des Romans Das Lied des Propheten des irischen Schriftstellers Paul Lynch ist zu spüren, dass sich da etwas verschiebt. Die Menschen nehmen diese schleichenden Veränderungen jedoch nicht ernst: Die Kinder fahren zur Schule, man geht seinen Berufen nach und hält Haus und Garten in Ordnung.

Die rechtsgerichtete National Alliance Party (NAP) ist dabei, das Land nach ihren Vorstellungen zu verändern. Das Ziel: Totalitarismus. Dagegen formiert sich allmählich Protest, wenngleich die meisten Bürgerinnen und Bürger den Mund halten. Der Alltag der Menschen wird durch immer neue Notverordnungen geregelt, die nach und nach die Bürgerrechte aushebeln. Die Anzeichen für einen gewaltsamen Aufstand der Rebellen werden immer deutlicher. Es ist beim Lesen zu spüren, dass nur noch ein kleiner Funke fehlt, damit es zu einer Eskalation kommt, bei der Waffen das Sagen haben.

Auch die in Dublin lebende sechsköpfige Familie Stack beobachtet die Situation, vertraut aber darauf, dass der Staat nicht gegen seine eigenen Bürger vorgehen wird. Vater Larry Stack ist Lehrer und hoher Gewerkschaftsfunktionär. Als solcher tritt er für eine bessere Bezahlung für seine Kolleginnen und Kollegen ein. An einem regnerischen Abend tauchen zwei Mitglieder der neu gegründeten Geheimpolizei bei den Stacks auf, um Larry zu verhören. Den Protest der Lehrerschaft nimmt die NAP zum Anlass, die Maske fallen zu lassen: Obwohl es sich bei den Demonstrationen um legale Aktionen handelt, werden alle Gewerkschaftsführer festgenommen. Zu den Inhaftierten gehört auch Larry, der seitdem wie vom Erdboden verschluckt ist. Der Kontakt zu einem Anwalt wird ihm widerrechtlich verwehrt. Eilish macht ihrer Verzweiflung Luft, indem sie auf den Punkt bringt, warum es so weit kommen konnte:

"Ich habe selbst im Gesetz nachgeschaut, in den Verträgen, das ist ein eklatanter Bruch internationalen Rechts, [...] warum dürfen die machen, was sie wollen, warum hat niemand Stopp geschrien?"

Binnen kurzer Zeit verändert sich das Leben der Stacks um 180 Grad. Mutter Eilish, eine Wissenschaftlerin, versucht nicht nur, ihren Mann zu finden, sondern ihren vier Kindern so lange es geht ein normales Leben zu ermöglichen. Aber die Auseinandersetzungen zwischen der Regierung und den Rebellen nehmen das Ausmaß eines Krieges an, in dem die toten und verletzten Bürgerinnen und Bürger nur Kollateralschäden sind. Das gesamte System erodiert, es gilt das Recht des Stärkeren. Lebensmittel werden knapp, Wucherer bereichern sich an der Krise und verlangen horrende Preise. Krankenhäuser arbeiten nur noch eingeschränkt. Das Land versinkt im Chaos.

Eilishs in Kanada lebende Schwester bietet ihr Unterstützung an, Irland zu verlassen und mit ihrer Familie zu ihr zu kommen. Aber die Mutter hofft auf Larrys Rückkehr und schafft es nicht, ihren in der Nähe lebenden dementen Vater im Stich zu lassen. In seinen klaren Momenten rät dieser seiner Tochter ebenfalls eindringlich, sich so schnell wie möglich auf den Weg zu machen, bevor es zu spät ist. 

Als sich ihr ältester Sohn den Rebellen anschließt und ihr Haus von einer Granate getroffen wird, ändert Eilish ihre Meinung. Doch dann wird ihr zweiter Sohn durch einen Granatsplitter verwundet und muss im Krankenhaus behandelt werden. Die ohnehin schon dramatische Situation verschärft sich auf eine unerwartete Weise, die Eilish nicht für möglich gehalten hätte.

Lesen?

Mit Das Lied des Propheten ist Paul Lynch ein eindringlicher Roman gelungen. Er zeigt, wie fragil eine stabil wirkende demokratische Gesellschaftsordnung tatsächlich ist, wenn dem Treiben faschistischer Kräfte zu lange tatenlos zugesehen wird. Die Handlung bekommt in dem Maß, in dem sich die Krise für das Land und die Familie Stack zuspitzt, eine immer stärkere Eindringlichkeit. Lynch zeigt deutlich, dass eine Selbstbeschwichtigung à la "So etwas kann hier nicht passieren" der falsche Umgang mit Parteien und Personen ist, die ein Land umkrempeln und in eine Autokratie verwandeln wollen. 

Das Lied des Propheten erschien 2023 unter dem Originaltitel Prophet Song. Paul Lynch erhielt im selben Jahr für seinen Roman den renommierten britischen Booker Prize. 2024 erschien das Buch in der Übersetzung von Eike Schönfeld im Verlag Klett-Cotta. Es kostet in der gebundenen Ausgabe 26 Euro sowie als E-Book 20,99 Euro.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen