Die britische Autorin Hannah Ross lebt für das
Radfahren. Ihr Großvater nahm an Radrennen teil, sie selbst lässt es aus gesundheitlichen Gründen langsamer angehen. Ross bringt geflüchteten Frauen ehrenamtlich das Fahrradfahren bei und ist Mitglied in einem Fahrradclub. Ihre Urlaube verbringt sie immer auf dem Rad.
Kein Wunder, dass sich die Fahrrad-Enthusiastin Ross Gedanken über die Bedeutung des Radfahrens für Frauen gemacht hat. Der Titel ihres Sachbuchs Revolutions lässt erahnen, was seine Leserinnen und Leser erwartet.
Dass Frauen Fahrrad fahren, war tatsächlich lange Zeit revolutionär. Doch als sich die ersten von ihnen im 19. Jahrhundert auf Fahrräder wagten, wurde nicht nur über diese Ungeheuerlichkeit an sich diskutiert, sondern auch über die hierfür richtige Bekleidung. Praktische Überlegungen spielten da überhaupt keine Rolle, es wurde Wert darauf gelegt, dass Frauen "anständig" gekleidet waren.
Ist es überraschend, dass es vor allem Männer waren, die dem wachsenden Wunsch der Frauen nach Freiheit und Mobilität im Weg standen? Hannah Ross berichtet vom Widerstand der University of Cambridge, den bei ihr eingeschriebenen Frauen einen vollwertigen Abschluss zu ermöglichen. Ein entsprechender Antrag wurde 1897 abgelehnt. Die auf die Entscheidung der Universitätsleitung wartenden Studenten ließen ihre Wut darüber, dass die Gleichbehandlung von männlichen und weiblichen Studierenden überhaupt in Betracht gezogen wurde, an einem gegenüber der Universität aufgehängten Symbol aus: einer Puppe, die eine Frau auf einem Fahrrad darstellte und nur eine Bluse und eine Unterhose trug. Die Studenten zerstörten die Puppe und warfen die Einzelteile vor den Eingang eines nur von Frauen besuchten Colleges.
Dieser Vorgang macht deutlich, wogegen die Studenten rebellierten: Es ging ihnen darum, die eigenen Pfründe zu verteidigen. Die Frauen sollten dort bleiben, wo sie bislang gewesen waren: zu Hause.
Doch die waren dazu nicht mehr bereit. Gegen alle Widerstände stiegen immer mehr Frauen aufs Fahrrad. Zunächst nur die aus wohlhabenden Kreisen, später auch Frauen, die über geringe finanzielle Mittel verfügten. Sie kauften die abgelegten gebrauchten Fahrräder der gutsituierten Damen oder traten Frauen-Fahrradclubs bei, die für kleines Geld Fahrräder verkauften oder verliehen.
Aber aus Sicht der Herren und der Konservativen wurde es noch schlimmer: Immer mehr Frauen entschieden sich für praktische Fahrradbekleidung. Sie legten die bauschigen Röcke und Korsetts ab und trugen Blusen und sogenannte Bloomer, die Pumphosen ähnelten. Diese "Reformkleidung" weckte im viktorianischen England den Verdacht, die Frauen könnten sich durch diesen maskulinen Bekleidungsstil in Männer verwandeln. Es wurde auch die Vermutung geäußert, dass das Sitzen auf Fahrradsätteln zu Unfruchtbarkeit führen könnte. Der Fantasie, welche üblen Folgen das Fahrradfahren für Frauen haben könnte, waren fast keine Grenzen gesetzt.
Wie groß der Freiheitsdrang mancher Frauen war, zeigte sich am Beispiel von Annie Kopchovsky, die unter dem Namen Annie Londonderry bekannt wurde. Sie startete 1894 von Boston aus zu einer Weltreise - selbstverständlich auf dem Fahrrad. Sie finanzierte ihre Tour, indem sie ihr Fahrrad gegen Entgelt mit Werbetafeln belud. Auch, wenn sie für einzelne Etappen auf andere Verkehrsmittel auswich, gilt sie als die erste Frau, der eine Weltumfahrung mit dem Fahrrad gelungen ist.
Es geht Hannah Ross jedoch nicht nur darum, sich einigen Pionierinnen zu widmen, die Herausragendes bei Radtouren oder -rennen geleistet haben. Sie zeigt auch, dass diese "New Women", die als die Wegbereiterinnen des Frauen-Radfahrens angesehen werden können, nicht so frei waren, wie sie es sich gewünscht haben. Die Konventionen, unter deren Einfluss sie aufgewachsen waren, wirkten nach. So lobte zwar die Zeitschrift The Lady Cyclist den praktischen Nutzen der Reformkleidung, kritisierte aber die "Angeberei einzelner Trägerinnen und ihre Tendenz zu jungenhaften Gesten und Reden, die sie für schockierend unanständig hielt". Dieselbe - von einem Mann herausgegebene - Zeitschrift empfahl die richtige Kleidung, die aber so geschnitten sein musste, dass vorbeifahrende Männer nicht abgeschreckt werden.
Lesen?
Hannah Ross' Buch besticht durch seinen Detailreichtum und die Begeisterung der Autorin für das Radfahren, die in jedem Kapitel deutlich wird. Man ahnt natürlich vor dem Aufschlagen der ersten Seite, dass es um die Benachteiligung der Frauen beim Radfahren gehen muss; welche Dimensionen diese Diskriminierung hat, die bis in unsere Zeit hineinreicht, ist jedoch erschreckend. Vor allem Frauen, die professionell Radrennen fahren, werden bis heute stark benachteiligt. Die Rennen, an denen sie teilnehmen (dürfen), finden nur wenig Publikum, weil sie meistens im Schatten großer Rennveranstaltungen für Männer stattfinden.
Während erfolgreiche Rennfahrer ein Millionengehalt bekommen, reicht es auch bei den erfolgreichsten Fahrerinnen kaum zum Überleben. Sponsorenverträge für Männer, die zum Beispiel eine Zahlung der Prämien auch im Krankheitsfall vorsehen, findet man bei den Frauen sehr selten. Oft bedeuten Schwangerschaften das Aus ihrer Rennkarriere. An lukrativen Rennen wie der Tour de France dürfen sie nicht teilnehmen. Eine häufige Begründung der Verbände für diese Ungleichbehandlung: Frauen sind solchen Strapazen körperlich nicht gewachsen. Dass etliche Frauen das Gegenteil bewiesen haben, wird systematisch nicht zur Kenntnis genommen.
Wenn man an Revolutions etwas kritisieren möchte, dann das fehlende Quellenverzeichnis. Es ist darum nicht möglich, sich besondere Themenbereiche selbst zu erschließen.
Revolutions mit dem treffenden Untertitel Wie Frauen auf dem Fahrrad die Welt verändern ist 2021 unter dem Originaltitel Revolutions - How Women Changed the World on Two Wheels erschienen. Die deutsche Übersetzung wurde 2022 im mairisch Verlag veröffentlicht und kostet als Hardcover 24 Euro, als Taschenbuch 16 Euro sowie als E-Book 12,99 Euro.
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