Samstag, 18. Mai 2024

# 437 - Das, was am Ende von uns übrig bleibt - Kodokushi in Japan

Der Roman Oben Erde, unten Himmel der österreichischen Schriftstellerin Milena Michiko Flašar ist eines der sensibelsten Bücher, das mir in der letzten Zeit untergekommen ist. Flašar stellt ein gesellschaftliches Phänomen in den Mittelpunkt, das nicht nur in Japan, wo die Handlung angesiedelt ist, sondern auch in vielen anderen Industrienationen thematisiert, aber oft nicht ernst genug genommen wird: die Einsamkeit.

Aber ist es nicht ganz einfach, der Einsamkeit zu entfliehen, wenn man in Vereine eintritt, sich gesellschaftlich engagiert oder auf andere Weise mit Menschen in Kontakt kommt? Wenn es so banal wäre, gäbe es keine einsamen Menschen mehr. 

Milena Michiko Flašar hat sich in ihrem Buch einer besonderen Form der Einsamkeit gewidmet, für die es in Japan seit den 1980-er Jahren einen eigenen Begriff gibt: Kodokushi, den einsamen Tod. In Japan versteht man darunter das Versterben von Menschen, die über Wochen oder sogar Jahre von niemandem vermisst werden. 

Die 25-jährige Suzu ist grundsätzlich eine heiße Kodokushi-Kandidatin. Sie ist introvertiert und in einem Maße sozial inkompetent, dass sie ihren Aushilfsjob in einem typischen japanischen Familienrestaurant verliert.
Gleich zu Beginn charakterisiert sie sich treffend selbst: "Ich bin gerne allein. Und eigentlich hat sich daran auch nichts geändert. Nach wie vor bin ich kein Mensch, der viel Gesellschaft um sich braucht. Anders als früher brauche ich jedoch welche, und die Erkenntnis, dass dem so ist, hat meinem Leben eine neue Richtung gegeben." 

Auf einen Schlag hat sie nun kein Einkommen mehr. Ihre Eltern, die auf dem Land leben, um Hilfe zu bitten, kommt nicht infrage: Suzu war für ein Studium, das sie nach kurzer Zeit abgebrochen hatte, in die Großstadt gezogen. Das und die Tatsache, noch immer keinen heiratswilligen Partner zu haben, sind genug Enttäuschungen, die sie ihnen zugemutet hat. Eine weitere will Suzu nicht hinzufügen.

Wenn es nicht ihren Hamster Punsuke gäbe, der auf ihre Fürsorge angewiesen ist, wäre jetzt wohl der Zeitpunkt gekommen, an dem sich Suzu aufgegeben und womöglich einen einsamen Tod gestorben wäre. Aber die Verantwortung bringt sie dazu, sich nach einer neuen Stelle umzusehen. Das erste (und einzige) Vorstellungsgespräch bringt sie in die Reinigungsfirma von Herrn Sakai. Suzu begreift erst nach und nach, worauf sich dessen Unternehmen  spezialisiert hat: Der Chef reinigt mit seinem Team die Wohnungen von Verstorbenen, die erst nach langer Zeit entdeckt wurden. Wenn der Trupp kommt und seine Arbeit beginnt, sind die Leichen nicht mehr da, wohl aber die Spuren, die sie hinterlassen haben. Für diese Arbeit braucht man einen starken Magen und ein dickes Fell.

Für Suzu ist klar, dass sie diesen Job nur so lange machen wird, bis sie etwas Besseres gefunden hat. Doch sie fragt sich, wer sie wohl vermissen würde, wenn sie stürbe. Wann würde ihr Tod bemerkt werden?
Die Monate gehen dahin, und sie merkt, dass sie nicht nur wegen des Geldes zur Arbeit geht, sondern dort Teil einer Gemeinschaft geworden ist. Das ist vor allem Herrn Sakai zu verdanken, der seine Firma nicht nur ökonomisch, sondern auch hinsichtlich des sozialen Miteinanders zusammenhält. 

Die neuen Kontakte zu anderen Menschen führen bei Suzu zu ihr völlig neuen Einsichten. Angespornt von einem gleichaltrigen Kollegen steigt sie auf das Flachdach ihres Mehrfamilienhauses, von dem aus sich ihr das Panorama auf ihre Nachbarschaft offenbart: nicht einfach nur eine Ansammlung von Fassaden und Dächern, sondern Szenen aus den Leben der Menschen um sie herum. Bis zu diesem Tag kannte sie in diesem Haus nur den Weg von der Haustür bis zu ihrer Wohnung.
Aber dann gibt es in Herrn Sakais Firma eine Nachricht, die Suzu aus der Bahn werfen könnte. 

Lesen?

Ich habe die Antwort darauf gleich zu Beginn vorweggenommen. Oben Erde, unten Himmel ist ein durch und durch empathisches Buch, das von großer Kenntnis der japanischen Kultur zeugt. Das ist kein Wunder, denn Flašars Mutter ist Japanerin. Die Autorin hat in ihrer Kindheit mehrere Sommer in Japan verbracht und reist jedes Jahr für einige Wochen in das Land. 

Oben Erde, unten Himmel gehört zu den Büchern, die so berühren, dass man sie nach der letzten Seite nicht einfach beenden und das nächste Buch beginnen kann.

Oben Erde, unten Himmel ist 2023 im Verlag Klaus Wagenbach erschienen und kostet gebunden 26 Euro sowie als E-Book 22,99 Euro.

Nachtrag: Die Japanerin Miyu Kojima hat selbst als Reinigungskraft in einer Firma, die sich um die Wohnungen einsam Verstorbener kümmerte, gearbeitet. Irgendwann kam ihr die Idee, deren Wohnungen so, wie sie vorgefunden worden waren, im Kleinformat nachzubilden. Wer mehr darüber wissen will: hier entlang.

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