Dienstag, 21. November 2017

# 125 - Hannovers historisches Gruseln

"Warte, warte nur ein Weilchen,..."

 

Ich habe mal wieder in den Tiefen meiner Bücherregale gekramt und dabei ist mir dieses Buch in die Hände gefallen: Haarmann - Die Geschichte eines Werwolfs aus dem Jahr 1989, recherchiert und beobachtet von Theodor Lessing.
Fast jeder, der in oder um Hannover zu Hause ist, kennt den Refrain eines Liedes, dessen Anfang in der Überschrift steht, und viele wissen auch, wie es weitergeht: "...bald kommt Haarmann auch zu dir, mit dem kleinen Hackebeilchen, macht er Hackefleisch aus dir." Fast jede Gegend hat "so Einen": einen Serienmörder, der auch noch lange nach seinem Tod bei den Menschen, die von seinen Taten wissen, ein Schaudern hervorruft. In Brandenburg war es Willi Kimmritz, in München Johann Eichhorn, in Frankfurt Arthur Gatter und in Hannover Friedrich „Fritz“ Heinrich Karl Haarmann. In einem Schauprozess vor dem Schwurgericht Hannover wurden seine Taten 1924 verhandelt. Der jüdische Philosoph, Psychologe und damalige Hochschulprofessor Theodor Lessing hat so lange dem Prozess beigewohnt und ihn protokolliert, bis man ihn wegen seiner öffentlich geäußerten Kritik an dem Verfahren ausschloss.

Ein einziges staatliches Versagen

 

Lessing beobachtete das Geschehen im Gericht damals sehr genau und hatte etliche Dinge an den Ermittlungen und dem Strafverfahren gegen den Serienmörder Haarmann auszusetzen. Zwischen 1918 und 1924 hatte Haarmann mindestens 24 Jungen und junge Männer auf grausame Weise umgebracht, die Toten zerteilt und ihr Fleisch an Marktbeschicker verkauft. Sehr wahrscheinlich hat es noch mehr Opfer gegeben, aber nur diese konnten ihm zweifelsfrei zugeordnet werden. Haarmann konnte fast unbehelligt agieren, weil die Polizei nicht auf ihn aufmerksam wurde: Als ihr Spitzel betrachtete sie ihn fast als einen der ihren. Erschwerend kam hinzu, dass die Kriminalpolizei in Hannover damals deutlich unterbesetzt und personell gar nicht in der Lage war, bei jeder Vermisstenmeldung aktiv zu werden. Der Großteil der gefundenen Spuren stammte deshalb auch von den Angehörigen der Vermissten, die sich selbst auf die Suche gemacht hatten, oder von Privatdetektiven.
Haarmanns "Jagdrevier" war der Hauptbahnhof, zu dem er quasi als Mitarbeiter der Polizei Tag und Nacht ungehindert Zugang hatte und nicht wie die Reisenden eine Fahrkarte benötigte. Er hat sich seine Kenntnisse der Polizeistrukturen zunutze gemacht und hatte Zugang zu verschiedenen Informationskanälen. 

Ach, wer braucht schon unabhängige Gutachter...

 

Lessing machte sich bei Gericht als Prozessbeobachter nachhaltig unbeliebt, als er den Finger in die Wunden legte und erläuterte, welche Gutachter maßgeblich zum Verfahrensverlauf beigetragen haben. Darunter fand sich ein Gerichtsmedizinalrat, der Haarmann Jahre zuvor für geistig gesund erklärt hatte; ein weiterer Gerichtsmedizinalrat, der das bei Haarmann gefundene Menschenfleisch nach kurzer Untersuchung als Schweinefleisch klassifizierte; nicht zuletzt ein Geheimer Medizinalrat, der sich zunächst alle früheren Gutachten ansah, bevor er sich ein eigenes Urteil bildete.  
Lessing kritisierte auch den Umstand, dass Haarmanns Geständnisse erst durch den Druck der Polizei während der Vernehmungen zustande gekommen waren. Er legte im Gegensatz zum Gericht auch Wert darauf, sich Haarmanns Lebensweg näher anzusehen.
Letzlich lag dem Gericht nur daran, den Prozess schnell voranzutreiben und die Nachlässigkeiten bei den Ermittlungen zu vertuschen. Doch Lessings stärkster Vorwurf an das Gericht betrifft dessen Urteil gegen Haarmanns früheren Freund Hans Grans, das er als Justizmord bezeichnet.

Haarmann - Die Geschichte eines Werwolfs ist in der Sammlung Luchterhand herausgegeben worden und enthält neben Lessings Prozessbeobachtungen auch kurze Schilderungen anderer Mordfälle, die von Serientätern verübt wurden, sowie einige historische Fotos. Es ist ein sehr interessanter Blick in eine Zeit, von der man beim Lesen meinen könnte, dass sie nicht rd. 90 Jahre, sondern schon viel länger zurückliegt. Lessings Aufzeichnungen sind derzeit z. B. beim Verlag Projekt Gutenberg-De erhältlich. Die mir vorliegende Ausgabe gibt es nur noch antiquarisch.

Über Theodor Lessing

Theodor Lessing hat aus seinen Ansichten keinen Hehl gemacht und zog nach dem Haarmann-Prozess auch mit seinen kritischen Gedanken über eine mögliche Präsidentschaft Hindenburgs den Unmut der konservativen Kreise auf sich. Dieser Unmut steigerte sich auf Betreiben der Nationalsozialisten zu Hass, sodass Lessing im März 1933 nach Prag floh. Er ließ sich mit seiner Frau in Marienbad nieder, wo er im August 1933 erschossen wurde, nachdem in tschechoslowakischen Zeitungen ein von Reichspropagandaminister Goebbels ausgesetztes Kopfgeld von 80.000 Reichsmark ausgeschrieben worden war.