Neun Monate, in denen Deutschland kollabiert
In seinem Roman Mutwille schildert Kai Lüdders, wie ein demokratisches Land in kurzer Zeit in den gesellschaftlichen und politischen Abgrund geführt werden kann.
Lobbyismus als schicksalhafte Kraft
Paul Schneider arbeitet als Lobbyist für das Gesundheitsunternehmen Unity Medical Care (UMC) und wurde von dessen Chef Norman Bruckheimer persönlich eingestellt. Paul ist ehrgeizig und hat kein Verständnis für Menschen, die sich nicht fit halten, sondern ihre Gesundheit mit ihrem Lebensstil ruinieren. Für seinen Arbeitgeber verfolgt er das Ziel, die Deutschen zu einem gesundheitsbewussten Volk zu erziehen.
Bruckheimer ist von der skrupellosen Sorte und treibt Paul zu immer neuen Aktionen an. Drei Wochen vor der Bundestagswahl nimmt Paul mit Peters, dem Vorsitzenden der noch jungen "Partei für Gesundheit und Ordnung" (PGO), Kontakt auf. Die PGO dümpelt zu diesem Zeitpunkt noch bei einer Zustimmungsquote von 5 %, aber Paul will Peters davon überzeugen, mit ihm und UMC eine erfolgreiche Zusammenarbeit einzugehen. Wer könnte da widerstehen? Gern lässt sich Peters beim Wahlkampf unter die Arme greifen, zumal die politische Arbeit für ihn nichts mit dem Wunsch nach einer gesellschaftlichen Veränderung zu tun hat, sondern die Partei nur Mittel zum Zweck ist: Peters hat bereits unternehmerisch versagt und will nun endlich mit der PGO Bedeutung erlangen und auf der politischen Bühne stehen.
Doch auch David Braun spielt in diesem Buch eine Rolle: Er ist Forscher beim Allgemeinen Entwicklungsinstitut für Krankheitsforschung (AEIK) und Mitarbeiter des allseits geachteten Prof. Teighaus. Ihm fallen zunächst die überdimensionierten Wahlplakate der PGO und kurz darauf die praktisch aus dem Boden schießenden Krankenhausneubauten des UMC auf. Zunächst kann er keinen Zusammenhang erkennen, doch das soll sich bald ändern.
Eine todbringende Seuche bricht über das Land herein
Praktisch aus dem Nichts bricht in Deutschland eine Lassa-Epidemie aus. Eine Heilung scheint nicht möglich zu sein, da es sich um ein mutiertes Virus handelt, für das noch kein Gegenmittel entwickelt worden ist. Die Zahl der Erkrankten steigt ständig, und schnell sind die Schuldigen ausgemacht: afrikanische Einwanderer. Für die Bevölkerung ist nicht erkennbar, was sich hier tatsächlich abspielt, aber eins ist klar: Alle, die Ähnlichkeit mit einem Afrikaner haben, haben auf Berlins Straßen nichts mehr zu lachen. Nur eine Handvoll Menschen weiß, was tatsächlich hinter dieser Epidemie steckt. Einer von ihnen ist Paul Schneider, dem fast jedes Mittel recht ist, um in einem Staat zu leben, in dem die Gesundheit über alles geht. Dafür ist er bereit, alle seine moralischen Grundsätze über Bord zu werfen. In den Nachrichten ist bald von nichts anderem mehr die Rede als von der Epidemie, die "Breaking News" melden immer neue Horrorzahlen. Schnell macht die Meldung die Runde, dass bereits viereinhalb Millionen Menschen in Deutschland an Lassa erkrankt sein sollen. Die gesellschaftliche und politische Situation gerät außer Kontrolle, und UMC ergreift die günstige Gelegenheit, sich die Sendergruppe TeleDeutschland unter den Nagel zu reißen. Nun kann der stetig wachsende Konzern sein Aktionsfeld noch weiter vergrößern, während das öffentliche Leben praktisch zum Erliegen gekommen ist. Dass auch die politischen Mandatsträger angesichts der dramatischen Entwicklung im Land nicht ungeschoren davonkommen, ist klar. Letztlich bemerken viele der für den Fortgang des Romans wichtigen Personen zu spät, dass sie schon lange keine selbstständig Handelnden mehr sind, sondern nur Spielfiguren, die wie auf einem Schachbrett hin und her geschoben werden.
Wie war's?
Mutwille hat mich wegen seiner Thematik gereizt: Wie würde Kai Lüdders mit einem solchen Krisenszenario, das ganz Deutschland in den Zusammenbruch führt, umgehen? Würde es ihm gelingen, eine schlüssige und überzeugende Story rund um diesen Plot aufzubauen? Das Buch beginnt mit einer Szene, die einen Teil des Endes vorwegnimmt: Paul Schneider ist auf der Flucht und in so großer Not, dass er nicht zögert, auf seine Verfolger zu schießen. Damit ist nach zweieinhalb Seiten klar, dass sein Plan nicht funktioniert.
Es gibt noch weitere Inhalte, die an der Glaubwürdigkeit des Buches kratzen: Innerhalb von drei Tagen soll sich die gesamte Bevölkerung in Arztpraxen und Krankenhäusern melden, um sich einem Lassa-Test zu unterziehen. Wie das bei 82 Millionen Menschen in diesem kurzen Zeitraum gehen soll, kann ich nicht nachvollziehen und wird auch nicht erklärt. Auch die Folgen, die eine solche Massendiagnostik für "normale" Patienten und das medizinische Personal haben würde, werden nicht thematisiert. Dass das Lassa-Virus außerdem nur in Speziallaboren, von denen es in Deutschland nur drei gibt, diagnostiziert werden kann, ist da nur eine Randerscheinung der Ungereimtheiten.
Die Schilderung der Szenen rund um den Lassa-Ausbruch ist ebenfalls nicht stimmig: Die Menschen hamstern Vorräte und vor den Tankstellen bilden sich lange Autoschlangen, aber auf den Straßen ist es wie ausgestorben? Auch der Umstand, dass Lassa eine meldepflichtige Erkrankung ist und ihr Ausbruch von Gesundheitsbehörden erfasst und bekanntgegeben wird, spielt hier keine Rolle. Eine Unterstützung von Hilfsorganisationen, Nachbarstaaten oder gar der EU oder der WHO gibt es hier ebenfalls nicht. Da Mutwille jedoch in Deutschland spielt und der Fokus auf Berlin liegt, können die hiesigen Gegebenheiten auch für eine Dystopie nicht ignoriert werden.
Leider leidet der Roman auch unter einem mangelhaften Lektorat und Korrektorat, was den Lesefluss abbremst.
Mutwille wurde mir von der Agentur Literaturtest zur Verfügung gestellt, wofür ich mich bedanke. Das Buch ist beim Velum Verlag (er wurde für dieses Buch gegründet) als Taschenbuch für 11,99 Euro und bei tredition als gebundene Ausgabe für 22,99 Euro erhältlich.
Von Literaturtest erhielt ich kürzlich die Nachricht, dass der Roman nachgedruckt wird, weil er zu viele Fehler enthält. Welche Fehler dabei korrigiert werden, ist mir nicht bekannt.
Ich habe das Buch nicht gelesen, kenne auch den Autor nicht. Ich vermute aber mal, dass es ihm nicht um die faktische Wahrheit oder um Glaubwürdigkeit in dem Sinne geht, dass alles, was er beschreibt, sich genau so ereignen kann oder wird. Aus meiner Sicht ist das auch nicht die Aufgabe von Belletristik. Deiner Besprechung folgend lautet die Grundthese hier wohl: der Zweck heiligt nicht die Mittel, auch das Gute kann zum Bösen mutieren. Und das ist mit Blick auf das Thema Gesundheit sicher mehr als „wahr“ wie auch die unselige Verquickung von Gesundheitserziehung, Politik und Profitgier. Die Tragik liegt darin, dass manch einer, der glaubt, für die gute Sache zu arbeiten, tatsächlich nur Spielfigur ist. Daher: Ab auf die Leseliste damit. Sobald die Fehler korrigiert wurden. Danke für den Tipp!
AntwortenLöschenLiebe Sabine,
Löschenbei fiktionalen Inhalten, die ein Autor bewusst vor einem real existierenden Hintergrund aufbaut wie es hier gemacht worden ist, ist für mich die Glaubwürdigkeit wichtig. Die Frage, ob eine Situation oder Entwicklung so eintreten kann, kann meiner Meinung nach nicht beantwortet werden, ohne sich um die Bedingungen zu kümmern, unter denen die Handlung stattfindet. Wenn alles drumherum konsequent ignoriert wird, kann ich ein Buch nicht mehr ernst nehmen. Das ist sicher immer Geschmackssache, aber wenn ich beim Lesen immer wieder denke "Das kann so nicht funktionieren", fühle ich mich veräppelt und als Leserin ein wenig für dumm verkauft. Vor einiger Zeit hatte ich hier über ein Buch geschrieben, in dem es nicht nur um den Untergang eines Landes, sondern gleich so gut wie aller Länder geht. In "Chlorophyll" hat der Autor ein bedrückendes Szenario geschildert, das tatsächlich vorstellbar ist. Ein Buch, das in sich stimmig und total spannend ist. Wenn Du mal gucken willst: http://inasbuecherkiste.blogspot.com/2017/08/114-der-weltuntergang-ist-nah.html
Viele Grüße
Ina