Freitag, 28. Juli 2017

# 110 - Mal wieder ein Klassiker

Wie weit kann sich ein Mensch moralisch verbiegen?

 

Der im damaligen Österreich-Ungarn und heutigem Kroatien geborene Schriftsteller Ödon von Horváth ist den meisten Menschen heute allenfalls noch in Zusammenhang mit der Schullektüre bekannt, die irgendwann einmal beschafft und im Unterricht gelesen werden musste. Doch das Leben des Autors und die Bedingungen, unter denen seine Bücher erschienen sind, sind nahezu in Vergessenheit geraten. Mit Jugend ohne Gott gelang ihm ein schriftstellerischer Erfolg, der jedoch kommerziell gesehen nur kurz anhalten sollte: 1938, nur ein Jahr nach dem Erscheinen des Titels, wurde das Buch auf die "Liste des schädlichen und unerwünschten Schrifttums" gesetzt und auf dem Gebiet des Deutschen Reichs vernichtet.

Konformismus als Richtschnur des Lebens

 

Ein Lehrer an einem Gymnasium, der im Buch namenlos bleibt, muss während der Zeit des Dritten Reichs einen Stapel Aufsätze zum Thema "Warum müssen wir Kolonien haben?" korrigieren. Die Vorstellung der Schulaufsichtsbehörde, wie an diese Frage heranzugehen ist, ist ihm klar und deckt sich nicht zufällig mit der der Machthaber. Der Lehrer hat zu diesem Zeitpunkt bereits resigniert, um sich nicht ständig ärgern zu müssen. Doch dann ist da in einem der Aufsätze dieser eine Satz, der ihn stocken lässt: "Alle Neger sind hinterlistig, feig und faul." Er unterdrückt seinen ersten Impuls, diese Aussage als Verallgemeinerung zu tadeln, denn erst kurz zuvor hat er sie in einem Restaurant gehört, wo sie als Teil der Propaganda aus einem Lautsprecher tönte. Doch bei der Rückgabe der Hefte kann sich der Lehrer den Hinweis nicht verkneifen, dass die Neger doch Menschen sind. Das soll nicht ohne Folgen bleiben: Der Vater des Schülers beschwert sich umgehend bei ihm und wirft ihm "Sabotage am Vaterland" vor. Der Hinweis auf die Bibel, in der stehe, dass doch alle Menschen Menschen sind, verpufft und der aufgebrachte Vater begründet die offizielle Sichtweise auf die Neger damit, dass es damals, als die Bibel geschrieben wurde, noch keine Kolonien gegeben habe. Er scheut sich auch nicht, seiner Empörung bei der Aufsichtsbehörde Luft zu machen. Der Lehrer wird daraufhin von seinem Rektor darauf hingewiesen, dass die Schule in erster Linie die Aufgabe hat, ihre Schüler für den Krieg zu erziehen. Auch dem Rektor gefällt diese eingeschlagene politische Richtung nicht, aber er hat sich für die Aussicht auf eine volle Pension entschieden und ist dafür bereit, seine eigenen moralischen Grundsätze über Bord zu werfen. 

Früh übt sich, was ein guter Soldat werden soll

 

Direkt nach Ostern beginnt anstelle von Ferientagen ein einwöchiges Zeltlager der ganzen Klasse, das den Zweck einer vormilitärischen Ausbildung hat. Der Lehrer sowie ein pensionierter Unteroffizier haben die Aufsicht über die Jungen, doch in dieser Woche geschieht ein Drama: Einer der Schüler wird im nahen Wald tot aufgefunden. Er wurde offensichtlich erschlagen. Die polizeilichen Ermittlungen fokussieren sich rasch auf einen Klassenkameraden, sodass sich dieser schon kurz danach nur aufgrund von Indizien vor Gericht wiederfindet. Der Fall erregt großes öffentliches Aufsehen, in der Presse wird der angeklagte Schüler bereits wie ein überführter Täter behandelt, obendrein legt er ein Geständnis ab. Doch man ahnt es bereits: Der Prozess nimmt plötzlich einen ganz anderen als den erwarteten Verlauf, und der Leser blickt in menschliche Abgründe, die sich wie ein Krater vor ihm auftun. Die Aussage des Lehrers, die ein entscheidendes Detail enthält, soll die Wende bringen.

Lesen?

Jugend ohne Gott ist auch 80 Jahre nach seiner Veröffentlichung ein sehr lesenswertes und aktuelles Buch. Ödön von Horváth stellt hier nicht nur die Frage, inwieweit der Einzelne bereit ist, Unrecht zugunsten des persönlichen Vorteils zu ignorieren, sondern macht auch auf soziale Mechanismen aufmerksam, die bis heute Bestand haben. Das beginnt mit nicht hinterfragten Vorurteilen gegen bestimmte Bevölkerungsgruppen und hört mit einer "Hängt ihn höher"-Denkweise noch lange nicht auf. Das Buch ist durchzogen von der Frage, ob es möglich ist, angesichts einer Kälte und Härte in der Gesellschaft noch an einen Gott zu glauben. Der Lehrer beantwortet diese Frage am Ende des Buches für sich und trifft eine Entscheidung, die sein bisheriges Leben völlig verändert.
Jugend ohne Gott erschien 1937 im Allert de Lange-Verlag, der deutschsprachigen Exil-Schriftstellern, deren Werke im Deutschen Reich verboten waren, die Möglichkeit bot, weiter zu veröffentlichen. Näheres über diesen Verlag und die Hintergründe seines Entstehens habe ich in meiner Rezension des Buches Schreiben im Exil - 1933-1935 erläutert.
Die mir vorliegende Ausgabe von Jugend ohne Gott ist 1983 als Suhrkamp-Taschenbuch herausgegeben worden und kostete 7,-- DM. Heute ist der Titel u. a. in einer kommentierten Ausgabe bei Suhrkamp für 7,50 € und im Anaconda-Verlag erhältlich.

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